Sozialstaat schottern? (Veranstaltung von TOP Berlin mit Christian Frings)

16. November 2010 31 Kommentare

TOP Berlin macht unter dem Titel „Sozialstaat schottern!“ eine Veranstaltung am 22.11.2010 mit Christian Frings (Köln) zu Geschichte und Struktur des Sozialstaats und der „sozialen Marktwirtschaft“. Mit Clips aus der aktuellen „Integrationsdebatte“ zum Zusammenhang von Sozialstaat und nationalem Chauvinismus.
Sie schreiben dazu:

„Sozialstaat schottern“ – erledigt das nicht schon die Regierungskoalition?! Am 26.11. will der Bundestag ein „Sparpaket“ verabschieden, das Milliardenkürzungen und diskriminierende Auflagen gegen Erwerbslose enthält. Ein breites Bündnis linker Gruppen ruft deshalb zu einer Bundestagsblockade auf. Motto: „Sparpaket stoppen! – Wer kürzt, wird blockiert!“ – Und dann?
Der kapitalistische Alltag ist eine dauernde Zumutung, und krisenträchtig obendrein. Viele streiten deshalb für eine „gerechtere“ Gesellschaft, für den Ausbau des Sozialstaats und ein „bedingungsloses Grundeinkommen“. Staatliche Sozialleistungen gelten als Errungenschaften, die gegen neoliberale Anschläge verteidigt werden müssen. Doch der Sozialstaat ist schlechter als sein Ruf. Er ist in Wahrheit kein Gegengewicht zum Terror der Ökonomie, sondern dessen Stütze. Sozialstaat beruht auf der kapitalistischen Eigentumsordnung, also auf der Enteignung und Ausbeutung aller Lohnabhängigen. Er finanziert sich aus Erträgen der Standortkonkurrenz, und bleibt deshalb immer den Konjunkturen kapitalistischer Verwertung unterworfen.
Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass der Sozialstaat stets Hand in Hand ging mit Arbeitszwang und sozialer Diskriminierung. Der Amtsterror der Arbeitsagenturen hat also System. Zur gesellschaftlichen Befriedung „von oben“ installiert, wurde das staatliche Sozialversicherungssystem ursprünglich von der Arbeiterinnenbewegung bekämpft. Warum ist das heute nicht mehr so? Und was wäre eine sinnvolle linke Praxis?

Da frage ich mich dann schon, wie es zu „freundlicher Unterstützung durch solid Berlin“ gekommen ist, wo doch deren Mutterpartei Die Linke zum Thema folgendes zu sagen hat:

“ Wir wollen einen aktiven Sozialstaat, der die Lebensrisiken wie Krankheit und Behinderung sowie Erwerbsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit solidarisch absichert und im Alter ein sorgenfreies Leben in Würde garantiert. Sozialstaatliche Leistungen müssen auf individuellen Rechtsansprüchen beruhen, um patriarchale Abhängigkeiten und behördliche Willkür zu verhindern.“

(aus dem aktuellen Programmentwurf)

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[online] 12.11.10 ¦ Berlin ¦ Jonas Köper zum Bedingungslosen Grundeinkommen

14. November 2010 3 Kommentare

Bei archive.​org gibt es jetzt einen Mitschnitt der Veranstal­tung mit Jonas Köper zur Kritik der Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen.

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Gruppe Arbeitermacht zum BGE (Jürgen Roth Februar 2010)

6. November 2010 Kommentare ausgeschaltet

Nicht nur Operaisten machen schon lange mit „Kritik am Bedingungslosen Grundeinkommen“ rum. Auch in der mehr oder weniger gewerkschaftsnahen sogenannten revolutionären Linken stößt die Propaganda hierzu zumeist auf Kritik. Gefunden habe ich folgende Zitate in einem ellenlangen Artikel „Mindestlohn, Mindesteinkommen oder bedingungsloses Grundeinkommen?“ bei der trotzkistischen Gruppe Arbeitermacht, zuerst erschien er in deren Zeitschrift Revolutionärer Marxismus 41, Februar 2010. Auch wenn der Artikel von einem Jürgen Roth gezeichnet wurde, scheint mir das Ding aus mehreren Stücken zusammenaddiert worden zu sein, kruder pseudomarxistischer Blödsinn steht z.B. neben doppelten Textpassagen, die wohl beim Zusammenstellen übersehen wurden. Wie dem auch sei, unter anderem sagen sie auch das folgende (wobei sie sich übrigens positiv auf wildcat beziehen „Die Perspektiven des Klassenkampfes liegen jenseits einer Reform des Sozialstaats“ (Wildcat-Zirkular Nr. 48/49 – März 1999 – S. 11-25) [Kein zusammenhängender Textteil, sondern von mir rausgesuchte Passagen.]

Im ganzen Land haben Arbeitslosenvereine, Organisationen oder Gliederungen der Gewerkschaften Forderungen nach dem Grundeinkommen übernommen – ob nun Existenzgeld, Bürgergeld oder BGE genannt. Dies ist Ausdruck der sozialen und finanziellen Verhältnisse der Arbeitslosen, die staatlich verordnete Armut durch die Hartz-Gesetze hat politische Spuren hinterlassen. Die Ausweglosigkeit von Ein-Euro-Arbeitszwang, Bedürftigkeitsprüfung und Zwangsumzügen nähren Illusionen und Hoffnungen in eine andere soziale Absicherung der Arbeitslosen. Alle Forderungen, die ein „Mehr“ an Mitteln und Rechten versprechen, werden daher von den Betroffenen dankend angenommen.
Besonders die Langzeitarbeitslosen haben die Hoffnung auf eine Lohnarbeit verloren, Jahre von „Qualifizierung“ und Bewerbungszwang mit gleichzeitigem sozialen Abstieg haben das politische Bewusstsein der Armen und Arbeitslosen geprägt. Rätz und Co. nutzen die Mischung aus Verzweiflung und Hoffnung auf jede nur irgend mögliche Verbesserung, so dass etliche Arbeitslose diesen Versprechungen auf den Leim gehen.
Mit Hilfe von Geld sollen Freiheit vom Arbeitszwang der Lohnarbeit, von Armut und Existenzangst, die Autonomie der Menschenwürde sowie Solidarität und Gerechtigkeit etc. erreicht werden. Geld aber setzt Warenproduktion, Lohnarbeit, Kapitalverwertung und Arbeitszwang voraus. Ein schöner archimedischer Hebel, um die Welt von Kapital und Lohnarbeit irgendwie „alternativ“ aus den Angeln zu heben!
Aber: es ist doch genug Geld zum Umverteilen nach unten da, sagen alle BefürworterInnen des BGE. Trotzdem ist die ganze Entwicklung seit Jahrzehnten mit zunehmender Tendenz in die andere Umverteilungsrichtung gegangen.
Wieder diese pfäffische „Kapitalkritik“! Geld steckt nicht im Sparstrumpf, sondern muss sich in der Hand der Reichen, der Banken, Versicherungen und Konzerne vermehren. Erst dann verwertet es sich als Kapital. Dies tut es um so schwerer, je reicher es schon ist (Tendenz zum Fall der Durchschnittsprofitrate). Akkumulation und Verelendung sind kein Widerspruch, sondern bedingen sich gegenseitig. Wer sich um Produktion nicht kümmert, muss natürlich die Verteilung(sgesetze) für das Bestimmende statt das Untergeordnete, Abgeleitete halten. Schon sprießen soziale Flickschuster„konzepte“ von Nehmen und Geben hervor, dass es einem warm ums Herz wird, weil der Kapitalismus als solcher ja friedlich verschont bleibt.
Ja, wenn nur seine Verwertungsgesetze nicht wären! Natürlich konzentriert sich immer mehr Reichtum in immer weniger Händen. Wie auch sonst? Im Gegensatz zu unseren Sozialromantikern, die kopfschüttelnd über die immer weiter klaffende Gerechtigkeitslücke jammern, erkennen MarxistInnen, dass das viele Geld eben nicht als Zahlungs- und Zirkulationsmittel fungiert, sondern als Anlage suchendes Kapital. Deshalb ist es kein Bruch in der ansonsten harmlosen kapitalistischen Logik, sondern seine Essenz, dass Kleinunternehmen zunehmend pleite gehen, dass das Monopolkapital immer dreistere Angriffe auf mühsam erkämpfte proletarische Errungenschaften startet, ja starten muss, um die sinkende Rendite (tendenzieller Fall der Profitrate) aufzufangen, insbesondere für das überschüssige Kapital in Finanzanlagen. Nicht trotzdem, sondern gerade wegen der zunehmende Zwang zur Umverteilung von unten nach oben!
Unsere sozialen „Visionäre“ meinen wirklich, mittels des BGE den Arbeitszwang aus dem Kapitalverhältnis heraus operieren zu können wie eine Geschwulst. Kreativität und Motivation würden gesteigert, das Kapital stünde profitabler als ohne Arbeitszwang da – und es brauche sich bei Rationalisierungen keine Sorgen mehr um entlassene Mitarbeiter zu machen, könne also richtig damit loslegen. Ein Bündnis mit den SachwalterInnen des Kapitals gegen Arbeitszwang ist genauso illusionär wie das für Arbeit. BGE-BefürworterInnen und Gewerkschaftsspitzen sind zwei Seiten der falschen Medaille. Der Abschaffung des Arbeitszwangs stehen nicht in erster Linie die auf Lohnarbeit fixierten Stumpfsinnigen im Weg, die keinen andern Sinn und Inhalt in ihrem Leben finden, wie der „aufgeklärte akademische Sozialtüftler“ meint, sondern das Kapitalverhältnis.
Das BGE-Modell setzt den „Entwurf“ eines sozialen Kapitals an die Stelle des wirklichen. Die Sphäre der Produktion, in der der Mehrwert erst entsteht, tritt ganz hinter die Verteilung zurück. Es reiht sich ein in die Riege von Bischöfen, Gewerkschaftsführern und Linkspartei-VorständlerInnen, die dem Kapital schon lange klarmachen möchten, dass es sich soziale Wohltaten zu seinem eigenen langfristigen Nutzen auch leisten möge – und könne. Es missbraucht die Sehnsucht nach einer Gesellschaft ohne Armut und Arbeitszwang, weil es sie auf dem Boden der Kapitalverwertung befriedigen will.
Kapitalismus? Gewiss, aber ohne seine Folgen!
Allen diesen „linken“ Illusionen liegt der Glaube an soziale Gerechtigkeit, an eine im Grunde vernünftige Produktionsweise zugrunde, deren Ursachen und Triebfedern man nicht in Frage stellen möchte, aber deren Konsequenzen einem doch zuweilen Angst und Schrecken einjagen.

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Wir holen unser Geld zurück!! (Am Geldautomat?)

4. November 2010 16 Kommentare

Als wenn die Finanzkrise nicht schon schlimm genug gewesen wäre, kommt nun ein weiterer ideologischer Krisentiefpunkt auf die daran übrigens weitgehend desinteressierte Welt zu:
Am 7. Dezember soll es zu einer “ Worldwide Bankrun Action“ kommen. Mit dem vollmundigen Parolen

„Das Vertrauen ist verspielt! Für ein Leben ohne Preisschild! Für die Soziale Revolution!!“

werden die Leute ausgerechnet wozu aufgerufen? Zum Geldabheben!!

„Aus inzwischen 15 Ländern gibt es Aufrufe am 7. Dezember gemeinsam unser Geld abzuheben.“

Wikipedia: „Bei einem Bank Run (dt. etwa: „Ansturm auf eine Bank“) versuchen viele Anleger einer Bank zeitnah ihre Einlagen (Depositen) abzuheben. Da eine Bank meistens nur einen Bruchteil ihres Vermögens als Bargeld bereithält und der Hauptteil in längerfristigen Aktiva angelegt ist, kann dies zur Insolvenz einer Bank führen.“
Aus dem Aufruf

„Der Finanzmarkt dient lediglich noch dem Abzug von Geld aus der Realwirtschaft, was wiederum zur Berreicherung einzelner dient, die Ihr Geld dann weiter nutzen um noch mehr Unfug damit anzustellen (oder wer braucht eine Spekulation auf Grundnahrungsmittel?)!
Wie kann es sein das unsere Produktivität über Jahrzehnte immer stieg, komischerweise aber immer mehr Geld im Staat zu fehlen scheint, bzw es den Menschen immer schlechter geht? Wir können nicht so viel wie noch nie erwirtschaften, während wir so wenig wie lange nicht mehr haben! Wir spielen euer schmutziges Spiel nicht mehr mit!“

In einer kruden Mischung aus aus falscher Beschreibung dessen, was überhaupt die Symbiose aus Staat, Finanzwesen und den anderen kapitalistischen Firmen ausmacht und Fragen, auf die die Aktionisten nicht wirklich eine richtige antwort geben wollen, kommen sie dazu ausgerechnet diejenigen, die in dieser Gesellschaft eh nie genug Geld haben, um über die Runden zu kommen, dazu aufzurufen, den „Zockern“ ihre paar Kröten per Räumung des Girokontos zu entziehen. Der Administrator holt dann die obigen Parolen gleich wieder ein und gesteht:

„Keiner behauptet, dass mit dieser Aktion mit einem Schlag alles besser und erledigt ist. Es geht darum, Flagge zu zeigen! Das diese Aktion überhaupt länderübergreifend als Absichtserklärung entstanden ist, zeigt doch allen, dass keiner von uns allein ist, sondern dass es viele von uns gibt, auch über Länder verteilt. Das ist bereits ein Erfolg! Macht ihn nicht mit allzu theoretischem und wissenschaftlichem Gefassel kaputt. Erfreut euch lieber und seit stolz… und unterstützt die Aktion und sei es nur mit 10€.

Sozusagen: Für die soziale Revolution, jedenfalls wenn einem das mal einen Zehner wert ist!

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Existenzgeld: Von der Aneignung zur Teilhabe

3. November 2010 2 Kommentare

wildcat hat sich seit 1985 immer mal wieder der Existenzgeld/Bürgereinkommen/Bedingungsloses Grundeinkommen-Szene angenommen. So z.B. in einem Artikel aus 1994
Thesen zu Sozialstaat und Mindesteinkommen

1. Der Sozialstaats ist nicht in die Krise geraten, weil er zu teuer geworden ist, sondern weil er seine Aufgabe, den allgemeinen Arbeitszwangs aufrechtzuerhalten, nicht mehr erfüllen kann.
2. Der bisherige gesellschaftliche Konsens, der sich in dem System der Sozialversicherung ausdrückt, beruhte auf einer bestimmten historischen Klassensituation und einem dementsprechenden Arbeiterverhalten. Dieses ist seit den 70er Jahren dauerhaft in die Krise geraten.
3. Die Vorschläge zu einem Mindesteinkommen/Bürgergeld sind Versuche, die Absicherung des Arbeitszwangs angesichts veränderter Klassenverhältnisse wieder zu festigen.
4. Von einer revolutionären Perspektive aus kann es weder darum gehen, das alte System der Sozialversicherungen zu verteidigen, noch darum, sich an der Formulierung neuer staatlicher Sicherungskonzepte zu beteiligen.

oder 1999:
Der Linksreformismus wittert Morgenluft
Existenzgeldforderung und landläufige Vorstellungen –
oder: Warum schreiben sich Linke die kapitalistische Reproduktion auf ihre Fahnen?

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Mit dem Dreirad durch den Sozialstaat

3. November 2010 2 Kommentare

Sowohl das, was Revolutionäre über die Lage der Arbeiterklasse im Kapitalismus sagen, ist seit geraumer Zeit eigentlich nichts Neues mehr – wie auch – als auch das, was diverse Verfechter des Einrichtens und Überlebens im Kapitalismus zu sagen haben. So ist es nicht wirklich verwunderlich, daß man auch zum Thema der Woche, der Grundeinkommenspetition an den Bundestag, auf Sachen stoßen kann, die immer noch brandaktuell sind, aber doch schon manches Jahr auf dem rücken tragen. In der (postoperaistischen?) wildcat konnte man schon 1985(!) folgenden Artikel zum immer noch akuellen Thema lesen:
Mit dem Dreirad durch den Sozialstaat
»Existenzgeld« – die neue Tretmühle der Arbeit

Aus zweierlei Gründen ist es für die Auseinandersetzung um ein Existenzgeld oder allgemeines Mindesteinkommen notwendig, den allgemeinen Charakter des klassischen Sozialstaats zu untersuchen. Zum einen, weil die Überlegungen des Kapitals, den Sozialstaat durch ein einheitliches Mindesteinkommen zu ersetzen, offensichtlich eine Antwort darauf darstellen, daß die bisherige soziale Absicherung der Arbeiterklasse für ihre Profitproduktion nicht mehr funktional ist; wir müssen aber zunächst kapieren, wie der Sozialstaat bisher als Teil der kapitalistischen Ausbeutung funktioniert hat. Zum zweiten wollen wir mit unserer Kritik an den grünen und alternativen Propagandisten eines Existenzgeldes nicht mißverstanden werden, als würden wir in das Gejammere über den »Sozialabbau« einstimmen und nun Loblieder auf den Sozialstaat singen; seit den sozialpolitischen »Operationen« der 80er Jahre scheint die gesamte Linke auf einen Schlag vergessen zu haben, daß der Sozialstaat von Anfang an den kapitalistischen Arbeitszwang reguliert hat; daß keines seiner Momente – Sozialversicherung, kollektives Arbeitsrecht (Gewerkschaften, Tarifvertragswesen, Betriebsverfassung) und staatliche Wirtschaftspolitik – eine »Errungenschaft der Arbeiterbewegung« darstellt, sondern die politische Stärke der Arbeiterklasse neutralisieren sollte. Allerdings drückte sich in diesem Sozialstaat bis heute auch aus, daß das Kapital und der Staat, als allgemeine Instanz der Kapitalherrschaft, an der Arbeiterklasse als zentraler politischer Größe nicht vorbeikommen, sie nur durch eine institutionalisierte Anerkennung in die kapitalistische Produktion einbeziehen können. Die technische Umorganisation der Produktion und die zur Zeit ablaufende Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse deuten darauf hin, daß sich das Kapital von eben dieser Anerkennung der Klasse freimachen will. Sozialpolitischer Ausdruck dieser Entwicklung wäre der Abbau der klassenmäßig bestimmten Sicherungssysteme und die Beschränkung auf ein Mindesteinkommen, das heißt Sozialhilfe für alle. In der linksgrünen Debatte drückt sich bereits ein gutes Stück des Zerfalls von Klassensolidarität und -bewußtsein aus, wie ja auch die parallele Debatte um alternative Arbeit an der Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse mitstrickt.
Für uns geht es also nicht um ein Abwägen zwischen bisherigem Sozialstaat und zukünftigem Existenzgeld. Die grünen Strategen wie Opielka, die sich schon wie kleine Regierungsvertreter gebärden und ihr politischen Überlegungen in alternative Gesetzesentwürfe packen, versuchen es mit staatsmännischer Geschicklichkeit allen Seiten rechtzumachen, indem sie kombinierte Systeme aus Sozialversicherung und Mindesteinkommen austüfteln. Beide Formen einer staatlichen Existenzsicherung sind bezogen auf die jeweilige Klassenzusammensetzung die geeigneten Instrumente zur Durchsetzung des kapitalistischen Arbeitszwangs. Für uns geht es darum, aus der neuen, sich anbahnenden Klassenzusammensetzung ein Bewußtsein der Ausbeutungsverhältnisse und Kämpfe gegen diese zu entfalten.
Exkurs: Das Einkommen der Arbeiter
Reproduktion der Arbeiterklasse – Reproduktion des Arbeitszwangs

Vom Kapital aus betrachtet bildet das gesamte Einkommen, das den Arbeitern zufließt, den Einkaufspreis für die Arbeitskraft. Wir nennen dieses gesamte Einkommen, oder stofflich ausgedrückt, diesen Fonds von Lebensmitteln und Konsumartikeln, auch das variable Kapital. Denn dieser Kapitalbestandteil ist es, der im Verwertungsprozeß den Mehrwert abwirft: während die Maschinen, Gebäude und Rohstoffe ihren Wert allenfalls auf das neue Produkt übertragen, aber den Kapitalisten von sich aus nicht reicher machen, wird die eingekaufte Arbeitskraft im Produktionsprozeß mit Hilfe des gesamten Systems von Antreiberei, Hierarchie und Maschinenterror in Arbeit übersetzt. Sie produziert nicht nur die zum eigenen Lebensunterhalt notwendigen Mittel (dazu bräuchte es weder 40 noch 35 Stunden in der Woche), sondern darüberhinaus den Mehrwert oder Profit; sie sorgt also dafür, daß das Kapital »sich« vergrößert.
Da aber die im kapitalistischen Produktionsprozeß hergestellten Waren ganz allein dem Kapital gehören, ist nicht mehr sichtbar, daß die Arbeiter die Güter ihres Konsums selbst produzieren. Sie erhalten diese erst nachträglich, in Form von Geldzahlungen, vom Kapital – der Ausbeutungsprozeß erscheint als Austausch zwischen Kapital und Arbeit.
Worauf es hier nun ankommt: Das Einkommen, das die Arbeiter vom Kapital (oder auch vermittelt über den Staat oder Sozialversicherung) erhalten, hat eine doppelte Funktion. Einerseits sorgt es dafür, daß die Arbeiter sich reproduzieren können, also bei der ganzen Maloche am Leben bleiben können und es auch noch hinkriegen, Kinder großzuziehen, damit dem Kapital genügend Ausbeutungsmaterial nachwächst. Andererseits ist dieses Einkommen so bemessen, daß es den Arbeitern keine Flucht aus der Arbeit erlaubt: »Freier Lohnarbeiter« zu sein, bedeutet in erster Linie frei von allen Produktionsmitteln, allen Möglichkeiten, sich unabhängig vom Kapital zu ernähren, zu sein. Daher bedurfte es auch historisch und aktuell in den Ländern der sogenannten »Dritten Welt« zunächst einmal Phasen, in denen die Menschen mit äußerster staatlicher und unmittelbarer Gewalt von ihren eigenständigen Produktionsmitteln, wie dem Boden und Ackerbau getrennt wurden, um sie in die fabriken treiben zu können. Diese Eigentumslosigkeit kennzeichnet den freien Lohnarbeiter und ist die Basis des Arbeitszwangs. Die Einkommen der Arbeiter reproduzieren daher nicht nur das Leben der Arbeiter, sondern sie reproduzieren diese als Arbeiter, d.h. Eigentumslose, denen nichts anderes übrig bleibt, als ihre Haut zum (Arbeits)Markt zu tragen.
An diesem grundlegenden Verhältnis zwischen den Klassen, an dieser beständigen Reproduktion der Arbeiter als Ausbeutungsmaterial ändern die sozialstaatlichen Regelungen keinen Deut, auch wenn sie den einzelnen Arbeiter aus der unmittelbaren Abhängigkeit von einem einzelnen Unternehmer und der Abhängigkeit von seiner ständigen Arbeitsfähigkeit lösen. Aber diese Einkommensformen wie Rente usw. binden ihn, wie wir zeigen, noch unerbittlicher an sein lebenslanges Arbeiterdasein. Diese Einkommensformen lösen ebenso wie der Lohn nur ein, was der Inhalt der kapitalistischen Reproduktion der Arbeitskraft ist: in seiner individuellen Konsumtion bleibt der Arbeiter Bestandteil des Kapitals, denn dieses existiert nur in seiner beständigen Produktion und Reproduktion.
Die Höhe des gesamten Einkommens, das das Kapital der Arbeiterklasse zugesteht, richtet sich nicht allein nach dem naturnotwendigen Lebensminimum, sondern sie drückt auch den »politischen Preis« aus, für den die Arbeiter ihre Produktivität dem Kapital zur Verfügung stellen. Die Reproduktion der Arbeiterklasse besteht nicht in einem »ehernen Lohngesetz«, sondern in dem sozialen und politischen Verhältnis zwischen den Klassen. Zur Reproduktion der Arbeiter gehört nicht nur die Sicherung ihrer nackten Existenz, sondern auch die ständige Herstellung ihrer politischen Unterwerfung; die Anerkennung des Lohnarbeiterdaseins durch die Arbeiter ist Teil der Reproduktion. Je nach Klassenzusammensetzung und Bewußtheit der Klasse wird das Kapital daher auch eine höheren Preis zahlen müssen, der aber nichts daran ändert, daß mit ihm die Arbeiter in ihrer Eigentumslosigkeit fixiert werden.
»In der Tat gehört der Arbeiter dem Kapital, bevor er sich dem Kapitalisten verkauft.« (Marx)
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Pro und Contra BGE: Reitter versus Roth

2. November 2010 471 Kommentare

Anläßlich des anstehenden „Festes zur Grundeinkommens-Petition“ bin ich wieder auf den folgenden Artikel von Karl Reitter von grundrisse.zeitschrift für linke theorie & debatte (im Umfeld von Hardt/Negri und John Holloway) gestoßen, in dem er folgende Grundsatzkritik an Rainer Roth Broschüre „Zur Kritik des Bedingungslosen Grundeinkommens “ vorträgt:

Ich möchte diese Argumentation ausgehend von einem kurzen Abschnitt in Roths Broschüre diskutieren, in der sich seine Auffassungen verdichten: „Emanzipation, Freiheit, Selbstbestimmung und kapitalistische Warenproduktion sind ein Widerspruch in sich. Denn solange Privatleute für einen unbekannten Markt in Konkurrenz gegeneinander für die Verwertung ihres Kapitals produzieren, hat die Gesellschaft ihre Entwicklung nicht im Griff. (…) Die Menschen müssen erst Herr über ihre Verhältnisse werden, bevor von Emanzipation und Selbstbestimmung die Rede sein kann.“ (Seite 66) Mehr…

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Zum Begriff „Nationale Identität“

2. November 2010 11 Kommentare

MSZ 1990:
Nationale Identität bezeichnet eine eigentümliche Erklärung des Bekenntnisses zu einem Vaterland. Es handelt sich um die Behauptung, daß Menschen nicht (bloß) infolge äußeren Zwangs und nicht etwa (bloß) aus politischen Berechnungen ihres theoretischen und praktischen Vorteils unter einer bestimmten nationalen Aufsicht leben und leben wollen – sondern deswegen, weil sie zu einem jeweils besonderen Schlag von Menschen gehören, mit dem sie gewisse Eigenschaften teilen. Unabhängig vom besonderen und wechselhaften politischen Willen eines Bürgers soll es einen natürlichen Volkscharakter geben, der nicht nur zum Anschluß an seinesgleichen drängt, sondern gleich zur Unterordnung unter dieselbe – eben die eigene, nationale – politische Gewalt.
„Nationale Identität“ ist also eine moderne rassistische Formel für die Unabweisbarkeit des Nationalismus; ein Dogma, das zwar keinen Beweis kennt, dafür aber einige Belege. Sie sollen die ursprüngliche, „vor-staatliche“ Gemeinsamkeit illustrieren, welche eine Anzahl Menschen zum Volk macht, selbst und gerade dann, wenn sie nicht das Volk eines (und desselben) Staates sind.
Der
Beleg Nr.1: gemeinsame Sprache
zeigt allerdings gleich das einfache Umdeutungsverfahren, nach dem diese Indizien gewählt sind: Gemeinsamkeiten, die aufgrund eines durchgesetzten staatlichen Interesses entstanden sind, werden als vorpolitische Eigenheiten ausgegeben, welchen der Staat Rechnung zu tragen hätte. Eine Nationalsprache ist schließlich nicht die naturwüchsige Entfaltung der ursprünglich gesprochenen Dialekte, sondern ein Kunstprodukt der politischen Herrschaft; mal eine „Hochsprache“, als Einheitssprache innerhalb des Herrschaftsgebietes durchgesetzt; mal eine „Amtssprache“, als dienstliches und geschäftliches Verkehrsmittel eingeführt und ohne Rücksicht auf die zufälligen örtlichen Idiome gewählt.
Fragt sich ferner, welche „Identität“ damit gebildet sein soll. Es gibt kein einziges gemeinsames Interesse, das aufgrund einer gemeinsamen Sprache zwischen denen entstehen würde, die sie sprechen. Ob sie dieselben oder verschiedene Anschauungen und Ziele haben, hat mit ihrer Sprache nichts zu tun – die steht unterschiedslos jedem zur Kundgabe seiner Gedanken zur Verfügung, der sie beherrscht. Daß umgekehrt von der Gemeinsamkeit derselben Sprache alle Gegensätze und Unterschiede bedeutungslos würden, ist ein grober Schwindel und bloß für den plausibel, der verlangt, daß neben der „nationalen Identität“ alle sonstigen Interessen zu schweigen haben.
Beleg Nr.2: gemeinsame Kultur
Hat einen ähnlichen Haken. Wenn Kunstwerke als nationale Kulturgüter gelten, kann das weder an den Kunstprodukten an sich liegen – Noten und Reime tragen schließlich keine Nationalfarben; noch daran, daß sie allgemein gefallen – Geschmacksurteile sind bekanntlich subjektiv und richten sich nicht nach der Herkunft eines Kunstwerks. Daß Kunst, die ansonsten immer Ausdruck des Individuellsten des Individuellen sein soll, dennoch wie kollektives Eigentum angesehen wird, verdankt sich eben wiederum einem staatlichen Interesse. Denn mit de Vereinnahmung geistiger Produkte will die Staatsgewalt selbst am Geistigen partizipieren und sich darin hochleben lassen. Deshalb sorgt sie auch dafür, daß das Volk „seine“ Dichter & Denker zumindest dem Namen nach kennt. Es wird darin unterrichtet, die Kunstgeschichte durch die nationale Brille zu sehen und „große Werke“ als Gegenstand des Nationalstolzes zu memorieren, auch und gerade wenn es künstlerische Neigungen von sich aus nicht hat oder seine Unterhaltungsbedürfnisse anderweitig deckt.
Beleg Nr.3: gemeinsame Geschichte
ist noch weniger ein Grund zur Vaterlandsliebe. Wer sie als einigendes Band beschwört, meint ja ohnehin nicht die vergangenen Manöver vorstaatlicher Jäger und Sammler, sondern die politischen Errungenschaften, die der gegenwärtige Staat und seine Rechtsvorgänger vorweisen können – und deren Durchsetzung in der Regel eine Geschichte kleiner und größerer Metzeleien war, in denen die politischen Verfahren der heutigen Untertanen Leben und Gesundheit gelassen haben. Die gegenwärtige Bevölkerung wiederum soll diese Geschichte nicht etwa als für sie schädlichen Fehler betrachten, sondern als die Stiftung einer Schicksalsgemeinschaft. Für die kann man Stolz oder auch Scham empfinden – jedenfalls ist sie aber als bedingungslos gemeinsame Sache zu denken, die vollständig unabhängig von jedem individuellen Interesse nationale Rechte und Pflichten umfaßt.
Was damit jeweils gemeint ist, legt schon die Politik selbst fest. Ob es innenpolitische Verfügungen und Verhältnisse sind oder außenpolitische Ansprüche auf die Ressourcen anderer Nationalstaaten: Sache des Volkes ist es, die politischen Unternehmungen seiner Herrschaft als nationale Anliegen zu begreifen und sich mit ihnen zu identifizieren. Dafür ist es allemal erforderlich, den kleinen Gegensatz zwischen oben und unten, Herrschaft und Untertan, Staat und Bürger vergessen zu machen. Gelingt das dem Volk, dann kann sich sein Staat auf es als seinen höheren Auftraggeber berufen. Der verlangte Gehorsam erscheint dann nicht mehr als Unterwerfung unter seine Gewalt, sondern als Ausdruck von Volkes Wille. Und je größer die nationalen Aufgaben, desto hilfreicher ist dabei die Vorstellung eines Volkswillens, der als zweite Natur im Bürger wohnt, ob er das ausdrücklich will oder nicht – eben die „nationale Identität“, die seinen Staat ins Recht setzt. Ein paar Gemeinsamkeiten zum Beleg dieser Ideologie finden sich schließlich immer.

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Huisken: Warum Politiker Sarrazin nicht kritisieren können

1. November 2010 1 Kommentar

Die Sache mit dem Dummheits-Gen, der Plan von Sarrazin zur Rettung wertvoller deutscher Volkssubstanz und
warum Politiker ihn nicht kritisieren können

Es ist eben das Schöne – nicht nur – an der Psychologie, dass man in ihr für jeden Standpunkt immer den passenden wissenschaftlichen Beweis findet. Natürlich gilt das auch für jeden gegenteiligen Standpunkt. Th. Sarrazin, der nun einmal von „angeborenen intellektuellen Mängeln“ (S.100) der Unterschicht überzeugt ist, wurde in den einschlägigen Wissenschaften ebenso fündig wie seine Kritiker wie S. Gabriel in der ZEIT, F. Schirrmacher in der FAZ, wie andere im Spiegel oder in der Süddeutschen.[1] Sarrazin baute auf den Befunden von der Erblichkeit der Intelligenz den einen Pfeiler seines Untergangsszenarios auf[2]:„Bei höherer relativer Fruchtbarkeit der weniger Intelligenten (er meint deutsches „Prekariat“) sinkt die durchschnittliche Intelligenz der Grundgesamtheit. Das ist in Deutschland …gegenwärtig der Fall. „(99) Und da es für ihn ebenfalls wissenschaftlich belegt ist, „dass zwischen Schichtzugehörigkeit und Intelligenzleistung ein recht enger Zusammenhang besteht“(93), addiert er eins und eins zusammen und kommt auf seinen Warnruf: „Mehr Kinder von den Klugen, bevor es zu spät ist.“ (331) Denn wenn kluge Menschen kluge Kinder in die Welt setzen, dumme Menschen aber eher dumme Kinder, und wenn sich dummerweise die Dummen gegenüber den Klugen durch größere „Fertilität“ auszeichnen, dann muss man zum einen die Klugen im Interesse der Rettung wertvoller deutscher Volkssubstanz zu vermehrter Kinderproduktion anhalten und zum anderen den Dummen die schädliche Zeugungsquote irgendwie vermiesen. Da er die Dummen nicht medizinisch sterilisieren lassen will – so ein Vorschlag gehört sich selbst für Deutsche vom Schlage des Th. Sarrazin nicht – lässt er sich eine Art sozialer Sterilisierung einfallen: Denen muss das Kinderkriegen durch radikalen Abbau jener Transferzahlungen, die ihnen bisher ein Leben in „anstrengungslosem Wohlstand“ (Westerwelle) erlaubt und die bei ihnen wie eine Prämie zum Kinderkriegen gewirkt haben, ausgetrieben werden. Für die anderen, die Klugen, hat er umgekehrt eine Form der sozialen Fertilitätsstimulierung in seinem Rettungsprogramm: „Es könnte beispielsweise bei abgeschlossenem Studium für jedes Kind, das vor Vollendung des 30 .Lebensjahres der Mutter geboren wird, eine staatliche Prämie von 30.000 Euro ausgesetzt werden (Die) dürfte allerdings nur selektiv eingesetzt werden, nämlich für jene Gruppen, bei denen eine höhere Fruchtbarkeit zur Verbesserung der sozioökonomischen Qualität der Geburtenstruktur besonders erwünscht ist.“(389f) Alles klar! Einen Haken sieht er allerdings noch in seiner Sozial-Eugenik. Denn niemandem kann das Kinderkriegen untersagt werden, selbst den Dummen nicht. Was tun, wenn die einfach weiter ungeschützt verkehren oder verkehrt ihre Familien planen? Dann muss man die Kinder in Einrichtungen stecken, in denen der Versuch unternommen wird, sie trotz schlechter Anlagen noch irgendwie einzudeutschen. Das geht natürlich in den hiesigen Erziehungseinrichtungen nicht nach altem Programm: Denn wenn „für einen großen Teil dieser (Unterschichts-)Kinder… der Misserfolg mit ihrer Geburt bereits besiegelt (ist): Sie erben die intellektuelle Ausstattung ihrer Eltern“ (175), dann wird „auch im besten Bildungssystem … die angeborene Ungleichheit der Menschen durch Bildung nicht verringert, sondern eher akzentuiert“.(249) Mehr…

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Geht es Sarrazin um den Erfolg Deutschlands oder „nur“ um Deutschtum?

1. November 2010 2 Kommentare

Freerk Huisken hat in seiner Diskussionsveranstaltung zu Sarrazin (am 28.10.2010 in Berlin an der Humboldt Uni) recht entschieden seine Sicht auf Sarrazin vorgetragen:
Im Mitschnitt hört man ab 57:17:
Aus dem Publikum: Punkt ist doch die Wirtschaftlichkeit.
Freerk Huisken: Die nationalistische Betrachtungsweise, derer von Oben oder derer von Unten, unterzieht jede nationale Tätigkeit einem internationalen Leistungsvergleich: Sind wir besser als die? Wenn wir schlechter als die sind, dann ist das eine Schande. Das stimmt schon. Aber man muß jetzt aufpassen: Ich bin bei Sarrazin. Und Sarrazin hat sich konzentriert auf die Frage „Deutschtum“, das ist seine Hauptthese. Und mir geht es darum, aufzuzeigen, was davon identisch ist mit demokratischer Politik und was nicht identisch ist. Übrigens hier und woanders.
Der macht keine Wirtschaftsanalyse, da ist er fern von. Der hat nicht das Problem Wachstum. Der hat nicht das Problem, wie muß das deutsche Volk zugerichtet werden, damit es als Ressource funktioniert. Das ist die Sache der demokratischen Politik. Sondern der hat nur die Sorge: Verdammt noch mal, die deutschen Tugenden gehen den Bach runter, dann geht Deutschland den Bach runter! Das ist seine Geschichte. Daß der Nationalismus sich sonst auf allen Feldern ausdrückt, auf dem politischen, auf dem ökonomosichen, Pisa auch. Warum war Pisa ein Skandal? Nicht, weil man festgestellt hat, daß ein Drittel des hernwachsenden Nachwuchses nicht Lesen und Schreiben kann nach neun bis zehn Jahren Schule. Sondern, daß wir im Vergleich mit anderen Ländern so schlecht abgeschnitten haben. Diese Verdrehung, das ist die nationalistische Brille.
Aus dem Publikum: „Leistungsvergleich“ scheint mir noch zu verharmlosend zu sein: Es geht ja um nationalistische Konkurrenz. Das wissen auch alle Nationalisten, das ist ja auch bei Sarrazin der Ausgangspunkt: Das „Deutsche“ ist deshalb so toll, weil es Deutschland zur Siegernation gemacht hat. Deshalb hebt er ja auch auf die Zeit ab 1945 ab, wo – ganz offensichtlich – Deutschland die erfolgreichste imperialistische Nation in Europa gewesen ist. Von daher ist doch Nationaltum und Sieger in der Konkurrenz sein für einen Nationalisten immer schon identisch. Bei den Demokraten ist es offensichtlich direkt abgerechnet: Was bringt es für die nationale Konkurrenz, wenn wir unser Bildungswesen ausbauen, bringen uns z.B. Elitecluster Konkurrenten im Patentwesen vom Hals. Bei Sarrazin ist es mehr diese abstrakte Reduktion auf „Deutschland pur“. Aber auch hier natürlich warum: Weil er eine erfolgreiche deutsche Nation haben will.
Freerk Huisken: Nein, das ist erstmal nicht der Witz bei ihm. Der Erfolg Deutschlands liegt für ihn in der Durchsetzung des „wahren Deutschtums“ und der Zurückweisung aller „Schädlinge“ am Deutschtum. Das ist sein brutale Theorie. Daß er im Hintergrund vielleicht auch noch daran denken mag, was dieses mit deutschem Erfolg zu tun hat, mag sein. Das ist aber *nicht* das Beherrschende seines ganzen Buches. Der denkt da wirklich entlang der völkischen Kategorie längs! Ich will nicht sagen, daß er ein Faschist ist, überhaupt nicht, aber sein Grundmuster ist: Das Deutschtum ist in Gefahr dadurch, daß undeutsche Elemente hierzulande überhand gewinnen und zwar gezüchtet durch deutsche Sozialpolitik und Einwanderungspolitik. Das ist seine Theorie.
Das sehen andere Genossen offensichtlich auch anders, so heißt es zumindest in der Analyse des GegenStandpunkt-Verlags in Radio Lora München vom 11. Oktber 2010
gleich vom Start weg:

„Dieser Mann kennt nur eine Sorge: Die Nation, ihr Reichtum und ihre Macht, soll wachsen – was immer diese Macht daheim oder auswärts anrichtet.“

Sie führen weiter aus:

Das (Volk) schätzt er sachgerecht in der Rolle als Diener des Erfolgs: Entweder es wird als Humankapital nach Strich und Faden ausgenutzt – oder es taugt nichts. Durch diese staatsmännische Brille betrachtet Sarrazin seine Bevölkerung und ist entsetzt: Der Volkskörper besteht aus zunehmend weniger Dienern und immer mehr Schädlingen! Es gibt zu viele der Marke „Prekariat“, das als in- wie ausländische Unterschicht „ohne jede produktive Funktion“ herumlungern soll. Und es gibt zu wenige der Marke „Leistungsträger“, auf deren „Fleiß und Tüchtigkeit“ die Wirtschaft angeblich basiert.

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[online] 28.10.10 ¦ Berlin ¦ Huisken zu: Thilo Sarrazin und seine Kritiker

30. Oktober 2010 Kommentare ausgeschaltet

Bei archive.org ist ein Mitschnitt verfügbar der Diskussionsveranstaltung zum Thema „Thilo Sarrazin und seine Kritiker: Dummheit und Gemeinheit der Debatte über deutsches Volkstum“ mit Freerk Huisken vom GegenStandpunkt als Referenten am 28.10.2010 in Berlin an der HU

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Die Ignoranz des Spartakist zu Sarrazins Hetze gegen die Unterschicht

28. Oktober 2010 1 Kommentar

Was den Artikel im Spartakist zu Sarrazin inhaltlich so schwach macht, um es wohlwollend zu beschreiben, ist dessen komplette Ignoranz gegenüber Sarrazins massiver Hetze gegen die „undeutschen“ Deutschen der Unterschicht. Als wenn der „nur“ gegen Immigranten hetzen würde. Die zynische Verachtung, mit der Sarrazin ausgerechnet die Opfer der kapitalistischen Konkurrenz für ihre elende Lage verantwortlich macht, kommt im Spartakist überhaupt nicht vor.
Sarrazin stellt ja ohne weiteres fest, daß die Erfolge des deutschen Kapitals bei seiner dazu notwendigen Steigerung der Produktivität millionenfach frühere Arbeiter ins Heer der Arbeitslosen ausgestoßen hat, weil die nach dessen Kriterien für weitere Gewinne nicht mehr nötig oder gar unnütz sind. Sarrazin steht zwar nicht allein da, wenn er aus diesem Resultat der Profitmacherei, also etwas, was die zu verantworten haben, die sie überhaupt erst veranstalten und davon profitieren, einen Tatbestand macht, der den Opfern in die Schuhe geschoben wird: Aus der Feststellung des Kapitals, diese Millionen brauche ich nicht mehr, wird bei Sarrazin (et al.) die Behauptung, die sind nicht mehr brauch*bar*. Es wird also zu einer individuellen Eigenschaft der ins Prekariat Hinuntergestoßenen, daß sie ganz unten und nicht in der Mitte der Gesellschaft sind, wie sonst gerne beschönigend gesagt wird.
Und warum sind die Hartz-IVler unbrauchbar? Weil es ihnen an den Tugenden fehlt, die man zum Erfolg braucht. Den islamischen Immigranten spricht er, rassistischer Demokrat der er ist, gleich ganz ab, sich sowas überhaupt zu eigen machen zu können. Die gehören deshalb sowieso eigentlich rausgeschmissen/rausgeekelt. Dazu schlägt er sachgerecht vor, diesen Menschen, solange sie leider noch hier leben, ihr Leben so madig zu machen, wie es gerade noch geht. Seine zynische Kalkulation dabei ist: Wenn die Immigranten erst mal am eigenen Leib spüren, daß das Leben in „leistungslosem Wohlstand“ (man beachte, er redet hier von Hartz-IV-Geldern) genauso lausig ist wie in den Herkunftsländern, dann werden die schon „freiwillig“ wieder zurückgehen.
Bei den deutschen Armen ist er gnädiger, da meint er, mit etwas nachhelfen, könne man die, jedenfalls so viele, daß man diese Unterschicht hinreichend austrocknen kann wieder zu echten Deutschen machen. Denn was kennzeichnet die aus? All die schönen Sekundärtugenden, die schon immer deutsche Herrscher an ihrem Arbeitsvolk geschätzt haben: Fleiß, Strebsamkeit etc. Und was hat dazu geführt, daß diese eigentlich allen deutschen Menschen eigenen Tugenden bei der deutschen Unterschicht so verkümmert ist? Natürlich der Sozialstaat! Nur weil denen die Kohlsche Hängematte ermöglicht wurde, das Leben in „leistungslosem Wohlstand“ mit Hartz IV, hält es diese moralisch leider schwachen Subjekte davon ab, sich auch weiterhin zu allen Bedingungen dem Kapital anzudienen.
Deshalb ist Sarrazin ja auch ein Vertreter massivster „Förderung“ des Leistungswillens schon von klein an. Denn wenn man die Kinder von Arbeitslosen denen überläßt, dann werden aus denen ja wieder unnütze Esser, weil die eben leider grundsätzlich so „sind“. Dem kann man aber abhelfen, wenn man gleich von Anfang an gegensteuert: Zwangskasernierung aller Kinder, und damit eben auch und gerade der Unterschichtskinder in eine Ganztagesschule, wo man ihnen dann schon Mores beibringen wird (TV der Computerspiele können die dann vergessen, es soll wahrscheinlich dann dort eher so zugehen wie in einem amerikanischen Boot Camp). Und wehe, es gibt noch Eltern, die da nicht mitziehen. Denen muß rigoros zur Strafe auch noch das Harz IV-Almosen weggekürzt werden, auch unter das „Existenzminimum“. Nur als Erziehungsdiktatur kann Deutschland „deutsch“ bleiben, sonst nimmt die berüchtigte „spätrömische Dekadenz“ überhand und Deutschland geht, zudem zunehmend „überfremdet“ dem nationonalen Untergang entgegen! Und für die Erwachsenen ergänzt man das dann durch einen Arbeitsdienst, denn das diese Unterschicht für die richtige Recihtumsproduktion vom Kapital überflüssig gemacht und als überflüssig erachtet wurde, das ist ja gerade der Ausgangspunkt der „Reformvorschläge“ von Sarrazin.
Es sollte auffallen, daß ein Demokrat wie Sarrazin mit seiner Sicht aus deutsche Volk und seinen Vorschlägen, wie dem „Untergang Deutschlands“ Einhalt geboten werden könnte, so fürchterlich weit von dem, was Faschisten im Sinne haben, nicht weg ist. Schon Heinrich Himmler soll ja gesagt haben

“ Es gibt einen Weg zur Freiheit. Seine Meilensteine heißen: Gehorsam, Fleiß, Ehrlichkeit, Ordnung, Sauberkeit, Nüchternheit, Wahrhaftigkeit, Opfersinn und Liebe zum Vaterland!“

(wobei recht unmißverständlich war, „frei“ in diesem Sinne ist jemand nur, wenn er ein durch und durch opferbereiter nationalsozialistischer Deutscher ist.) Jedenfalls war an manchem Konzentrationslager die Kurzform dieser Einschätzung zu finden: „Arbeit macht frei“. Diese geistige Nähe ist ja selbst selber eingefleischten anderen deutschen Nationalisten geläufig, am berühmtesten wurde da sicherlich Oskar Lafontaine:

„Helmut Schmidt spricht weiter von Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit, Standhaftigkeit. […] Das sind Sekundärtugenden. Ganz präzis gesagt: Damit kann man auch ein KZ betreiben.“

– 15. Juli 1982 im STERN zur Diskussion um den NATO-Doppelbeschluss (hier: gekürztes BILD-Zitat) (zitiert nach wikipedia)

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Klassenstandpunkt und Kontonummer

27. Oktober 2010 Kommentare ausgeschaltet

Ab und zu legen sich politische Organisationen aus dem DKP-Umkreis blogsport-Blogs zu. Anfangs dachte ich ja, daß das Fakes sind (siehe diesen Beitrag), mittlerweile sind es so viele, daß das wohl schon immer falsch war. Auffällig ist, daß die Macher fast durchgängig keinen Wert auf Kommentare legen. Beim neuesten Blog dieser Szene Position, dem Magazin der SDAJ, ist wie zumeist die Kommentarfunktion auch gleich geschlossen worden. Als Ausgleich darf dann jeder gerne seine Kontonummer angeben, das scheint die Art der Kommunikation zu sein, die sie mögen.
Als Trost gibt es dafür markige Sprüche wie diesen von Rosa Luxemburg:

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass dieser Staat zerstört werden muss.

Anders als Cato hat Rosa Luxemburg ihr Ziel leider nicht erreicht und ich bestreite auch, daß es diesen SDAJlern gelingen wird, es ist ja schon zu bezweifeln, daß die das überhaupt wirklich wollen, so wie ihre Politik aussieht. Schließlich hält sich die DKP zu Gute, zu der Sorte Kommunisten zu gehören, „die sich nichts Gesetz- oder Verfassungswidriges hatten zuschulden kommen lassen“ (zit. nach UZ der Zeitung der DKP). Das stimmt ja sogar weitgehend, aber wofür spricht das?

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SDS: Wer heute kürzt, zahlt morgen drauf!

26. Oktober 2010 4 Kommentare

Einer der bekannteren Vortragsredner des GegenStandpunkt hat mal am Beispiel der Studierendenbewegung aufgezeigt, daß demokratischer Protest immer im Gewand des Gemeinwohls daher kommt, um ja nicht partikulare Sonderinteressen anmelden zu müssen, die schon deshalb von der Staatsmacht und deren Öffentlichkeit abgebürstet werden, daß da nur wieder Egoisten zu Gange sind, die das Große, Ganze nicht zu berücksichtigen wüßten. Der Protest kommt dann daher leider regelmäßig mit Argumenten, daß der Ansprechpartner (Gegner wäre ja schon zuviel gesagt) sich mit dem Kritisierten selber schaden würde, seine ureigensten Ziele nicht mehr so gut erreichen könnte, wie mit dem, was man ihm alternativ ans Herz zu legen versucht.
Ein besonders schönes Beispiel für solches Denken in der Pose des unterwürfigen Andienens liefert jetzt der Sozialistisch-Demokratische Studentenverband dieLinke.sds Leipzig, der mit der Parole in den Protest der Studierenden interveniert:

Bildung ist mehr Wert! Wer heute kürzt, zahlt morgen drauf!

Das überlegen sich die Schavans & Co. schon selber, was für eine erfolgreiche Kapitalakkumulation notwendig ist, welche Investitionen sich rechnen und was fürs Wachstum rausgeschmissenes Geld ist. Jetzt sind die offensichtlich der Auffassung, daß dafür der Aufwand je Absolvent ihrer Hochschulen merklich verringert und die Zeit bis zu einem in der Wirtschaft einsetzbaren Absolventen merklich verkürzt werden muß.
Daß ausgerechnet einem sich als sozialistisch beschreibenden Studentenverband der Erfolg der imperialistischen BRD so am Herzen liegt, ist dann nur noch bittere Ironie.

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Streifzüge/Krisis zur Nation

26. Oktober 2010 Kommentare ausgeschaltet

Statements von Autoren aus dem Krisis/Exit/Wertkritik-Umfeld sind normalerweise außerhalb meines Horizonts (dafür schätzt das Umfeld der Linkspartei z.B. Robert Kurz, den wohl bekanntesten Kopf dieser Richtung in letzter Zeit zunehmend mehr). Meine RSS-Sammelmaschine (RSSOwl, kann ich nur empfehlen) grast aber auch sowas mit ab, konkret die Streifzüge der Krisis-Leute.
So bin ich auf eine Wiederveröffentlichung aufmerksam gemacht worden, ein längeres Zitat aus einem schon 1995 veröffentlichten Buch „Biologismus – Rassismus – Nationalismus. Rechte Ideologien im Vormarsch“.
Da auf deren Webseite noch weniger diskutiert wird als sonst (man kann bei denen zwar die Artikel als RSS-Feed abonnieren, die paar Kommentare dort waren es ihnen vielleicht auch deshalb aber nicht mal wert, auch automatisch weiterverbreitet zu werden), bringe ich hier meinen Kommentar von dort nochmal:

Warum jetzt diesen doch schon in die Jahre gekommenen Text wieder hochholen? Warum fehlt da jeglicher Hinweis, was sich die Schreiber von damals mittlerweile dazu denken, wohlmöglich nachdem Dritte auch was dazu gesagt hatten, es vielleicht sogar kritisiert haben?
Was sollen einem Definitionen wie diese eigentlich sagen:
„Nation ist kein “für die Zukunft ein gültiges und zuträgliches Konzept menschlicher Kommunikation”. Seit wann geht es beim Hin und Her der Nationen um Kommunikation? Wer hat denn sowas ernsthaft je behauptet?
Bei manchen nicht gerade tiefschürfenden Erkenntnissen wie
“Nationen sind also geworden und können somit auch wieder vergehen. Sie sind nicht eherner Bestandteil der menschlichen Geschichte, sie sind Ausformung, nicht Voraussetzung geschichtlichen Wirkens.” frage ich mich ernsthaft, ob das nun ein lächerlicher oder doch ein ernst gemeinter Text war.
Stimmt die These des Zerfalls des Nationalstaats(konzepts) überhaupt, die da behauptet wurde:
“Die internationale Kapitalherrschaft hat heute alle nationalen Schranken relativiert, ja niedergerissen.”
Erleben wir nicht gerade in letzter Zeit ein enormes Wiederanziehen der nationalen Antagonismen selbst da, wo wie in der europäischen Union heilige Eide geschworen worden waren, daß sowas nun hinter uns liege? Gerade die Rettung des Inbegriffs von transnationalen Firmen, die Banken”rettung”, war doch ein durch und durch nationales Komnkurrenzunterfangen.
Von wegen “Auflösung der national orientierten Innen- und Außenpolitik!” “Festung Europa” wäre da doch eher angebracht als Charakterisierung (wobei es dabei ja noch nicht einmal die eine feste Burg gibt, wie man jetzt täglich sehen kann).
Und dann diese Einzeiler, die entweder aus Antagonismen oder aus Geleichsetzungen bestehen:
“Wann immer wir über die Nation nachdenken, stoßen wir auf den Staat. Er ist sie.” Daß das zwei paar Stiefel sind, hat die Autoren ja schließlich zu diesem Text veranlaßt. Dazu passt dann solcher Unsinn (der Pointe geschuldet?) wie
“Die Nation, die gibt es nur im Gefühl, sie ist eine Einbildung. Aber dieses Gefühl läßt einen nicht los.” Nicht mal die Autoren, möchte ich da fragen? Offensichtlich nicht, muß man betrübt wohl konstatieren. Es ist doch Stuß, wenn behauptet wird
“Nation ist die reale Fiktion, in die der Staat seine Bürger zwingt.” Wenn schon versucht zu zwingen. Und selbst dann ist das Verb falsch. Nationalismus ist eben eine Geisteshaltung und keine Lohnsteuerklasse, in die man als Staatbürger wie als Nichtstaatsbürger gleichermaßen gezwungen wird. Aber ganz so blöd sind die Autoren dann doch nicht, denn sie schieben dem Obigen gleich sein Dementi nach: “Aus dem Müssen der Unterworfenen muß jedoch ein Wollen werden.”
Selbst wenn sie das ausführen, bleibt es immer noch falsch:
“Sie ist das, was den Bürger freiwillig an den Staat binden soll. Das scheint der Vorteil gegenüber anderen Bezügen (Recht, Sitte, Moral) zu sein.” Recht ist völlig unabhängig von der Zustimmung der ihm Unterworfenen. Das galt in früheren Gesellschaften sowieso und ist in modernen Demokratien nicht anders. Es ist auch hier ein ewiges Indoktrinieren und Beschwafeln notwendig, damit die der jeweiligen Staatsmacht Unterworfenen das Recht auch als ihre “eigene” Moral internalisieren. Wie beim Nationalismus bedeutet dies für den Staat, daß die Menschen dann schon mal auf ganz eigenen Interpretationen bestehen, was denn nun national oder moralisch ansteht.
Auch die Gegenüberstellung “Alles Fremde ist ihm außen, und alles Äußere ist ihm fremd. Der Fremde hat daher draußen zu bleiben” ist falsch: Früher, in vornationalen Zeiten, da mögen die Anderen, die nicht dazugehören sollten, wirklich auch Fremde gewesen sein. Heutzutage in einer weltumspannenden erbitterten Konkurrenzwelt werden doch gerade die allzu bekannten Rivalen ausgegrenzt. So gut wie heute haben sich die verschiedenen Nationen doch früher gar nicht gekannt, die nationalen Unterschiede in den Sitten, Gebräuchen und Geschmäcker haben sich doch weltumspannend massiv eingeebnet. Das hat den Nationalismus der Konkurrenzler aber nicht grundlegend schwächer werden lassen.

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Zufall oder »Zufall«? Junge Welt meets Ofenschlot?

25. Oktober 2010 Kommentare ausgeschaltet

Ofenschlot zieht manches mal aus ganz kleinen Sachen recht weitreichende Feststellungen, die anderen vielleicht beim Lesen en passant gar nicht auffallen. So ist ihm jetzt ein Artikel in der Wochenendbeilage der „jungen Welt“ aufgefallen/aufgestoßen. Denn anders als die „junge Welt“ interessiert ihn wirklich, um was es den im Artikel zitierten Kontrahenten Lenin und den Anführungsstrichelinkskommunisten gegangen ist. Unter dem Titel „Der Wert des Kompromisses“ macht er in Anlehnung an Amadeo Bordiga einige Ausführungen zum Thema, das mittlerweile so total von allen Reformisten diverser Richtung zugeschüttet wurde, daß die realen Probleme für Revolutionäre schon lange kein Thema mehr sind (vor allem natürlich nicht bei „junge Welt“ und derengleichen).
Ironischerweise ist Brest-Litowsk auch für einen anderen Blogsportler, den anarchistischen Blogger und Unterstützer des GegenSandpunkts NestorMachno schon mal vor kurzem ein Punkt bitteren Vorwurfs an die Bolschewiki gewesen.

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Die Sache mit der Religion

24. Oktober 2010 1 Kommentar

Ich habe den Artikel zu Glaube, Religion und Kirchen „Die Sache mit der Religion“ aus Heft 2-2005 der Zeitschrift GegenStandpunkt im Format MS Word97 in DIN A4 jetzt bei meinen Downloads reingestellt.

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Spartakist zu Sarrazin

22. Oktober 2010 26 Kommentare

Eigentlich stimmt mein Titel schon mal gar nicht: Der Leitartikel zu Sarrazin in der neuesten, erst recht spät herausgekommenen Herbstausgabe des „Spartakist“ (diesmal erst Oktober 2010, in den Vorjahren schon im September) wahrscheinlich gerade wegen den Schwierigkeiten, die die Trotzkisten der SpAD mit dem Thema hatten, hält sich erst gar nicht damit auf, was Thilo Sarrazin überhaupt so sagt, sondern kommt gleich auf den Punkt: „Nieder mit „Sparpaket“ und antimuslimischer Hetze!“. So lautet jedenfalls die Überschrift des Artikels.
Als wenn sie die Stalinisten von früher in ihrer Diffamierung der Trotzkisten noch übertreffen wollten, schreiben die Spartakisten einen Artikel, der als DIN A4-Ausdruck bei mir immerhin satte fünf Seiten lang ist, ohne auch nur ein einziges Zitat aus seinem Buch als seinem „Hauptwerk“ zu bringen. Als einziges Zitat von Sarrazin kommt überhaupt nur seine Hetze gegen muslimische Einwanderer vor, die „ständig neue, kleine Kopftuchmädchen produzier[en]“ (Lettre International, September 2009). Ansonsten reicht es den Spartakisten, von “ demagogischer Hetze“ zu reden, von einem „üblen Machwerk“, in dem Muslime zu „Sündenböcken“ abgestempelt werden, sein Zeugs ist „Müll“ oder „Dreck“. In den Mund nehmen darf man als Spartakist offensichtlich nur die linken demokratischen Konkurrenten von Sarrazin, so erinnert der Spartakist immerhin „an Lafontaines berüchtigte Chemnitz-Rede im Sommer 2005, wo er chauvinistisch über Arbeiter aus Polen und anderen osteuropäischen Ländern herzog, dass „Familienväter und Frauen arbeitslos werden, weil Fremdarbeiter ihnen zu Billiglöhnen die Arbeitsplätze wegnehmen““. Und richtig ausführlich kommen nur linke Kontrahenten im engeren Umkreis weg, so die Ex-Linkruckler von Marx21.
Erst nach Zweidritteln des Artikels kommt eine recht richtige und wichtige Passage zur aktuellen Sozialpolitik Deutschlands:

„Hartz IV bringt nicht nur die mörderische Verachtung der Bourgeoisie und ihrer politischen Handlanger denjenigen gegenüber zum Ausdruck, die ihr keine Profite bringen und die sie daher als „überflüssig“ ansieht, als „Kostenverursacher“, die die Profite schmälern. Vielmehr soll die Lage der Hartz-IV-Verelendeten noch unerträglicher gemacht werden. Einerseits als Abschreckung für diejenigen, die noch Arbeit haben, damit sie den Bossen dankbar sind und Lohnkürzungen und die Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen hinnehmen; und um andererseits die Hartz-IV-Empfänger selber dazu zu treiben, auch die miesesten Jobs anzunehmen. Als eine Form faktischer Zwangsarbeit droht die Zusammenstreichung selbst der Hungerbezüge, wenn ein Hartz-IV-Empfänger einen Job ablehnt, den das Jobcenter für „zumutbar“ hält. Jedes Jahr werden über 700 000 Menschen durch Ein-Euro-Jobs geschleust und so reguläre Arbeitsplätze zerstört und die Löhne nach unten getrieben.“

Letztlich drückt dies eine Desinteressiertheit an dem Programm von Sarrazin und Co. aus, die geradezu selbstmörderisch ist in ihren Konsequenzen. Denn daß Sarrazin sehr wohl anschlußfähig ist bei ganz normalen Demokraten dieser Republik, das sehen ja selbst sie:

„Laut einer Umfrage des Berliner info-Instituts unter 1024 Wahlberechtigten Anfang September gaben 36 Prozent der befragten SPD- und 43 Prozent der befragten Linksparteiwähler Sarrazin mehr oder weniger recht (47 Prozent der SPD- und 34 Prozent der Linksparteiwähler lehnten ihn ab).“

Erklären, geschweige denn widerlegen können sie da praktisch nichts, wie man aus ihrer hilflosen Pseudoerklärung ablesen kann:

„Diese Unterstützung entspringt der Logik des sozialdemokratischen Reformismus, der den Arzt am Krankenbett des Kapitalismus spielt. Das bedeutet, Schiedsrichter im Kampf der verschiedenen Gruppen von Bedürftigen um die immer armseliger werdenden Krumen vom Tisch der kapitalistischen Herrscher zu sein, bei dem einer gegen den anderen ausgespielt wird: „Ossis“ gegen „Wessis“, türkische Einwanderer gegen Ostdeutsche und gegen Aussiedler aus der Ex-Sowjetunion, Männer gegen Frauen usw. Damit werden zwangsläufig Nationalismus und Rassismus geschürt.

Solche Fragen wie die folgenden fallen jedenfalls den Spartakisten weder ein, noch wollen sie sie beantworten, wenn sie es denn überhaupt könnten:
• Türkische und deutsche Hartz IV-Empfänger sind dasselbe, Opfer einer betrieblichen Kündigung und Objekt sozialstaatlicher Elendsverwaltung. Aber nur erstere gelten als nicht integriert. Warum?
• Auch muslimische Bürger müssen Einkauf, Miete und Steuer in Euro begleichen, bei Rot an der Ampel halten und deutsche Gesetze beachten. Nicht integriert sein, geht das überhaupt?
• Bankiers und betuchte Bürger sammeln sich in Villen-Vierteln, Studenten in Studenten-Vierteln und Yuppies in Szene-Vierteln. Aber nur die Türken im Türken-Viertel heißen „Parallelgesellschaft“. Warum?
• Warum stirbt auch im demokratischen Rechtsstaat der Rassismus nicht aus? Was hat überhaupt die Biologie, eine Naturwissenschaft, damit zu tun?

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BGE – Kein Königsweg zur Revolution

21. Oktober 2010 98 Kommentare

Peter Decker hat die Diskussion in Nürnberg zur Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen (BGE) damit angefangen, ganz grundsätzlich was gegen auch dort vorgebrachte Argumente zu sagen, die es verteidigen, weil es die Bedingung der Möglichkeit für was ganz Anderes, Weitergehendes sei. Das hält er für einen großen und schon lange gepflegten Fehler vieler Linker. Er ist dann immer geneigt, denen entgegenzuhalten, „Ja dann fordert doch gleich das, was ihr eigentlich wollt!“. Er greift damit die Vorstellung an, man könnte und man müßte (erst) Umstände schaffen, in denen das Denken der Arbeiterschaft, die sich so hartnäckig partout nicht von den Linken von „ihrem“ Kapitalismus abbringen lassen, allein schon durch die dann entstandene Lage selber dazu führt, auf den „richtigen“ Pfad kommt, oder wenigstens auf einen besseren, als sie jetzt so drauf sind. Entweder die Lohnabhängigen nehmen (wie jetzt und hier) diese Wirtschaft, den Kapitalismus, weil sie freie Menschen sind und sich um ihre eigenen Interessen kümmern dürfen und nicht mehr Knechte wie früher sind, als ihre Chance, suchen ihren Erwerb in ihm und tun sich darüber all die Widersprüche gegen ihr materielles Interesse an, weil sie die Abhängigkeit vom erfolgreichen Geschäft, daß sie ja beschäftigen und bezahlen soll, anerkennen und an der Logik des Geschäfts weiterdenken.
Oder sie nehmen den Gegensatz dessen, wovon sie abhängen und was sie brauchen, zu ihrem eigenen Interesse zur Kenntnis. Dann haben sie keinen Grund mehr, Rücksicht auf den Erfolg des Geschäfts zu nehmen, dann haben sie keinen Grund mehr, sich dem unterzuordnen. Dann schaffen sie sich schon die Welt, die sie brauchen.
Aber zu sagen, ich suche mir einen Weg, wo ich die Mesnchen so hinmanörieren kann, daß sie dann sagen, ja jetzt könnten wir uns die Wirtschaft ja noch ganz anders aneignen, das paßt gemäß Peter Decker auf zwei Ebenen nicht:
1. Wer am Kapitalismus als seiner Lebensbedingung festhält, und nichts gegen sie ein zuwenden hat, der merkt auch, wie unverträglich sogar die Idee des Grundeinkommens mit dieser Wirtschaftsweise ist, und lehnt das BGE deshalb ab.
2. Und umgekehrt, wer sie nicht ablehnt und meint, Grundeinkommen wäre ja vielleicht verträglich, ist tatsächlich vielleicht irgendwann wirklich ein Anhänger einer Grundversorgung. Aber da ist noch lange nicht zu sehen, wieso das ein Sprungbrett sein soll zu: Dann will ich aber den Gewinn und das Geld überhaupt abschaffen. Ja, wieso eigentlich, wenn so jemand nur gelernt hat, Grundeinkommen ist das, was wir brauchen und was uns gut tut, warum soll denn das dann der Ausgangspunkt, der Grund für was ganz Anderes sein?
Es ist seit ewigen Zeiten ein Bedürfnis der Linken, sozusagen einen Königsweg oder – mit häßlichen Worten – der Manipulation zur Revolution zu suchen. Und den gibt es nicht und denn soll man besser auch gar nicht suchen.

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Ein Hoch auf das Wachstum!

21. Oktober 2010 Kommentare ausgeschaltet

Auf FAZ.NET hat sich Georg Meck, stellvertretender Ressortleiter Wirtschaft sowie „Geld & Mehr“ der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, die aktuelle Riege der Wachstumskritiker vorgenommen und hält denen „Ein Hoch auf das Wachstum“ entgegen.
In schöner Mischung von Zynik und Optimismus nimmt er sich da die Prechts et. al. vor:

Wir vergiften die Atmosphäre, plündern den Planeten.“ So oder ähnlich gehört das zum Standardrepertoire aller Katastrophenpropheten seit dem Club-of-Rome-Aufschrei (“Die Grenzen des Wachstums“) vor bald 40 Jahren. Nun ist der Weltuntergang bisher gottlob ausgefallen, auch Wälder und Flüsse halten sich tapferer als befürchtet.

Leider ist es reihenweise beliebt, dem Kapitalismus vorzuwerfen, daß er in eine Katastrophe führen würde und ihm nicht vorzuhalten, daß er schon Tag für Tag eine Katastrophe ist. Insofern hat Meck es leicht, wenn er schreibt:

Die Welt ist schlecht. Die Welt ist ungerecht. Und alles endet böse. Ganz bestimmt.

Jedenfalls denkt (auch) er, daß mit dem bisherigen Ausbleiben des finalen Untergangs die Ausgangsdiagnose gleich mit hinfällig sei. Insofern denkt er da grundsätzlich nicht anders als Millionen von ehemaligen Realsozialisten, denen es auch gereicht hat, daß der Sieger der Geschichte nun eben der Kapitalismus ist und man sich dann nur darin einrichten kann und deshalb jegliche Grundsatzkritik verkneifen sollte.
Wie schön für jemand wie Meck, daß seine Zeitung in Deutschland erscheint. Seine Jubelmeldung:

Die Abgesänge auf die Marktwirtschaft waren voreilig, die Fabriken brummen wieder, Auto- und Chemieindustrie ziehen Deutschland aus der Krise, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wächst, die Menschen finden Beschäftigung, die Arbeitslosigkeit sinkt, die Löhne steigen.

könnte er nämlich nur in einer handvoll Staaten des weltweit herrschenden Systems genauso rausposaunen.
Andererseits gebe ich zu, wo er Recht hat hat er Recht:

Sie bezweifeln, dass das BIP, die Summe aller Waren und Dienstleistungen, als Maßstab für Wohlstand taugt. Die Zufriedenheit der Leute werde nicht erfasst, wenden sie ein, was stimmt, aber nie der Anspruch war: Das BIP bemisst das Volkseinkommen, nicht das Volksglück

Nur, wieso ein Wachstum des Volkseinkommens sprich des Kapitals für und nicht gegen diese Welt sprechen soll, das bleibt er schuldig.
Geradezu ignorant bezüglich der systematischen Auswirkungen kapitalistischer Reichstumsproduktion formuliert er zynisch:

wer wollte den Hungernden und Ausgebeuteten in Afrika oder Asien die Möglichkeit nehmen, aufzuholen? Wie soll das Elend sich lindern ohne wirtschaftliche Dynamik? Es geht auch ohne Wachstum, Schluss damit, fordert dagegen eine wohlstandsverwöhnte Fraktion im Westen. Richard David Precht setzt sich offen dafür ein, das „künstlich befeuerte Wachstumsrad zum Stillstand“ zu bringen: „Ein Mehr an materiellem Wohlstand muss nicht sein und darf nicht sein.“ Was wohl der chinesische Wanderarbeiter dazu sagen würde? Oder der indische Bauer? Oder nur der Hartz-IV-Empfänger in Lüdenscheid?

Das seine wunderschöne „wirtschaftliche Dynamik“ genau dieses Massenelend sowohl voraussetzt als auch perpetuiert, das würde er als Argument nie und nimmer zulassen.
Es ist ja nicht so, daß unser welterfahrener Journalist weltfremd wäre, er sieht schon auch, was sein Wachstum so Alles produziert:

Überfischte Meere, Lecks auf der Bohrinsel, die bildungsferne Unterschicht, trostlose Talent-Shows, die Abholzung der Regenwälder – alles verrühren die Wohlstandskritiker zu einer trüben Suppe: Schuld ist im Zweifel die „Ökonomisierung“, die „Gewinnmaximierung“, die angewiesen ist auf Wachstum.

um dann geradezu irre ausgerechnet das als Lösung anzubieten, was die von ihm ja gar nicht bestrittenen Scheiße erst hervorgebracht hat: Noch mehr (Kapital-)Wachstum!

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