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Zum Begriff „Nationale Identität“

2. November 2010

MSZ 1990:
Nationale Identität bezeichnet eine eigentümliche Erklärung des Bekenntnisses zu einem Vaterland. Es handelt sich um die Behauptung, daß Menschen nicht (bloß) infolge äußeren Zwangs und nicht etwa (bloß) aus politischen Berechnungen ihres theoretischen und praktischen Vorteils unter einer bestimmten nationalen Aufsicht leben und leben wollen – sondern deswegen, weil sie zu einem jeweils besonderen Schlag von Menschen gehören, mit dem sie gewisse Eigenschaften teilen. Unabhängig vom besonderen und wechselhaften politischen Willen eines Bürgers soll es einen natürlichen Volkscharakter geben, der nicht nur zum Anschluß an seinesgleichen drängt, sondern gleich zur Unterordnung unter dieselbe – eben die eigene, nationale – politische Gewalt.
„Nationale Identität“ ist also eine moderne rassistische Formel für die Unabweisbarkeit des Nationalismus; ein Dogma, das zwar keinen Beweis kennt, dafür aber einige Belege. Sie sollen die ursprüngliche, „vor-staatliche“ Gemeinsamkeit illustrieren, welche eine Anzahl Menschen zum Volk macht, selbst und gerade dann, wenn sie nicht das Volk eines (und desselben) Staates sind.
Der
Beleg Nr.1: gemeinsame Sprache
zeigt allerdings gleich das einfache Umdeutungsverfahren, nach dem diese Indizien gewählt sind: Gemeinsamkeiten, die aufgrund eines durchgesetzten staatlichen Interesses entstanden sind, werden als vorpolitische Eigenheiten ausgegeben, welchen der Staat Rechnung zu tragen hätte. Eine Nationalsprache ist schließlich nicht die naturwüchsige Entfaltung der ursprünglich gesprochenen Dialekte, sondern ein Kunstprodukt der politischen Herrschaft; mal eine „Hochsprache“, als Einheitssprache innerhalb des Herrschaftsgebietes durchgesetzt; mal eine „Amtssprache“, als dienstliches und geschäftliches Verkehrsmittel eingeführt und ohne Rücksicht auf die zufälligen örtlichen Idiome gewählt.
Fragt sich ferner, welche „Identität“ damit gebildet sein soll. Es gibt kein einziges gemeinsames Interesse, das aufgrund einer gemeinsamen Sprache zwischen denen entstehen würde, die sie sprechen. Ob sie dieselben oder verschiedene Anschauungen und Ziele haben, hat mit ihrer Sprache nichts zu tun – die steht unterschiedslos jedem zur Kundgabe seiner Gedanken zur Verfügung, der sie beherrscht. Daß umgekehrt von der Gemeinsamkeit derselben Sprache alle Gegensätze und Unterschiede bedeutungslos würden, ist ein grober Schwindel und bloß für den plausibel, der verlangt, daß neben der „nationalen Identität“ alle sonstigen Interessen zu schweigen haben.
Beleg Nr.2: gemeinsame Kultur
Hat einen ähnlichen Haken. Wenn Kunstwerke als nationale Kulturgüter gelten, kann das weder an den Kunstprodukten an sich liegen – Noten und Reime tragen schließlich keine Nationalfarben; noch daran, daß sie allgemein gefallen – Geschmacksurteile sind bekanntlich subjektiv und richten sich nicht nach der Herkunft eines Kunstwerks. Daß Kunst, die ansonsten immer Ausdruck des Individuellsten des Individuellen sein soll, dennoch wie kollektives Eigentum angesehen wird, verdankt sich eben wiederum einem staatlichen Interesse. Denn mit de Vereinnahmung geistiger Produkte will die Staatsgewalt selbst am Geistigen partizipieren und sich darin hochleben lassen. Deshalb sorgt sie auch dafür, daß das Volk „seine“ Dichter & Denker zumindest dem Namen nach kennt. Es wird darin unterrichtet, die Kunstgeschichte durch die nationale Brille zu sehen und „große Werke“ als Gegenstand des Nationalstolzes zu memorieren, auch und gerade wenn es künstlerische Neigungen von sich aus nicht hat oder seine Unterhaltungsbedürfnisse anderweitig deckt.
Beleg Nr.3: gemeinsame Geschichte
ist noch weniger ein Grund zur Vaterlandsliebe. Wer sie als einigendes Band beschwört, meint ja ohnehin nicht die vergangenen Manöver vorstaatlicher Jäger und Sammler, sondern die politischen Errungenschaften, die der gegenwärtige Staat und seine Rechtsvorgänger vorweisen können – und deren Durchsetzung in der Regel eine Geschichte kleiner und größerer Metzeleien war, in denen die politischen Verfahren der heutigen Untertanen Leben und Gesundheit gelassen haben. Die gegenwärtige Bevölkerung wiederum soll diese Geschichte nicht etwa als für sie schädlichen Fehler betrachten, sondern als die Stiftung einer Schicksalsgemeinschaft. Für die kann man Stolz oder auch Scham empfinden – jedenfalls ist sie aber als bedingungslos gemeinsame Sache zu denken, die vollständig unabhängig von jedem individuellen Interesse nationale Rechte und Pflichten umfaßt.
Was damit jeweils gemeint ist, legt schon die Politik selbst fest. Ob es innenpolitische Verfügungen und Verhältnisse sind oder außenpolitische Ansprüche auf die Ressourcen anderer Nationalstaaten: Sache des Volkes ist es, die politischen Unternehmungen seiner Herrschaft als nationale Anliegen zu begreifen und sich mit ihnen zu identifizieren. Dafür ist es allemal erforderlich, den kleinen Gegensatz zwischen oben und unten, Herrschaft und Untertan, Staat und Bürger vergessen zu machen. Gelingt das dem Volk, dann kann sich sein Staat auf es als seinen höheren Auftraggeber berufen. Der verlangte Gehorsam erscheint dann nicht mehr als Unterwerfung unter seine Gewalt, sondern als Ausdruck von Volkes Wille. Und je größer die nationalen Aufgaben, desto hilfreicher ist dabei die Vorstellung eines Volkswillens, der als zweite Natur im Bürger wohnt, ob er das ausdrücklich will oder nicht – eben die „nationale Identität“, die seinen Staat ins Recht setzt. Ein paar Gemeinsamkeiten zum Beleg dieser Ideologie finden sich schließlich immer.

Kategorien(1) MG + GSP Tags:
  1. rotz
    3. November 2010, 12:40 | #1

    Es han­delt sich um die Be­haup­tung, daß Men­schen nicht (bloß) in­fol­ge äu­ße­ren Zwangs und nicht etwa (bloß) aus po­li­ti­schen Be­rech­nun­gen ihres theo­re­ti­schen und prak­ti­schen Vor­teils unter einer be­stimm­ten na­tio­na­len Auf­sicht leben und leben wol­len – son­dern des­we­gen, weil sie zu einem je­weils be­son­de­ren Schlag von Men­schen ge­hö­ren, mit dem sie ge­wis­se Ei­gen­schaf­ten tei­len.

    Das ist falsch. Wenn die nationale Identität für die Mitglieder des nationalen Vereins ihre Mitgliedschaft in einer bestimmten Nation begründet, dann ist sie genau das vorpolitische Moment, das ihnen die Zugehörigkeit zu einer Nation einleuchten lässt.
    Nochmal anders: Wenn Separatisten ihr Eigenbewusstsein als besonderer Haufen aus ihrer besonderen Kultur schließen, dann ist ihre Selbstauffassung als besonderer Menschenschlag freilich der Grund, warum sie sich separieren und einen eigenen Staat gründen. Der Artikel erklärt gerade nicht was nationale Identität ist und wie sie funktioniert, sondern er nimmt diese Ideologie als Wissenschaft und müht sich mit dem Hinweis auf den Staat oder ein von der nationalen Identität geschiedenes Interesse den wissenschaftlichen Anspruch dieser Idelogie zu kritisieren. So geht Ideologiekritik erstens nicht und zweitens sollte man bevor man anfängt nationale Identätät zu kritisieren sich mal um eine Fassung bemühen, was das eigentlich ist (die Art, wie Mitglieder einer Nation ihr Interesse fassen – sie haben also kein von ihrem Eigenbewusstsein als Nationsangehörige geschiedenes Interesse, dass durch Prüfung des Wahrheitsgehaltes ihrer Gedanken freizulegen wäre).

  2. 3. November 2010, 12:59 | #2

    In der Tat, die Entscheidung von Menschen sich eine Selbstauffassung als besonderer Menschenschlag zuzulegen, ist der Grund, warum sie sich separieren und einen eigenen Staat gründen wollen.

  3. irgendwer
    3. November 2010, 14:29 | #3

    rotz schreibt: „

    sie haben also kein von ihrem Eigenbewusstsein als Nationsangehörige geschiedenes Interesse, dass durch Prüfung des Wahrheitsgehaltes ihrer Gedanken freizulegen wäre“

    Hätte rotz geschrieben: „sie haben darin, also in ihrem nationalen Interesse kein von ihrem…“, OK; das wäre was anderes. Aber so: Doch, noch jeder Anhänger (!) einer Nation geht nicht in seinem Nationalismus auf, sondern rennt eben neben diesem Interesse auch als Prolet, Mieter, Steuerzahler, Bibliotheks- und Schwimmbadbesucher und so weiter herum und hat darin Interessen, die nicht mit nationalen Interessen identisch sind.
    Manchmal muss man sich dann entscheiden, welches Interesse man denn nun eigentlich ernster nimmt: Das als Arbeiter, oder das als Nationalist. Insofern letzteres, ist es um ersteres schlecht bestellt. Und umgekehrt.

  4. 3. November 2010, 14:53 | #4

    Ich glaube, daß es falsch ist, wie irgendwer zu sagen:

    Manchmal muss man sich dann entscheiden, welches Interesse man denn nun eigentlich ernster nimmt: Das als Arbeiter, oder das als Nationalist.

    Jeder Nationalist rennt in der Tat „eben neben diesem Interesse auch als Prolet, Mieter, Steuerzahler, Bibliotheks- und Schwimmbadbesucher und so weiter herum“. Und jeder Nationalist wird dir dazu sagen, daß er denkt, daß all das eher in eins geht als daß das ein Widerspruch wäre. Da gibt doch erwiesenermaßen keiner von denen irgendwas davon auf, nein ganz national wollen sie z.B. als Arbeiter ihre Interessen durchsetzen.
    Sonst blieben ja nur entweder Manipulations/Indoktrinations-Theorien als Erklärung oder die berühmt/berüchtigte These, daß es der (National-)Staat selber sei, der den klassenmäßig so disparaten bis antagonistischen Staatsbürgern und Untertanen denen ihren Nationalismus aufzwingt/einpflanzt (wozu GSPler alle naselang neigen), bloß weil er sie in der Tat in seine Eigentums- und Klassenverhältnisse gewaltsam reinzwingt.

  5. Stromsau
    3. November 2010, 17:25 | #5

    Ich denke, dass das so nicht hinhaut.
    Das Interesse als Arbeiter (an einem Auskommen) leidet notwendig unter dem als Nationalist und vice versa, weil dem Gelingen einer Nation nun mal die möglichst umfassende Be- und Abnutzung der Arbeits- und Dienstklassen zugrunde liegt. Das Auskommen als Teil der Nation leidet meist, wenn die Nation Niederlagen gegen andere Nationen einfährt. Daraus schließen dann viele, dass sie am Erfolg „ihrer“ Nation zu eigenen Lasten ein Interesse haben – natürlich im Zweifel immer lieber zulasten vorrangig der Anderen. Eine Aufkündigung der Nation steht in der Regel nicht zur Diskussion, weil die Leute es meistens nicht wollen. (Ob es denn so einfach ginge, ist da noch gar nicht die Frage.)
    Soweit sind sich wohl die meisten einig. Das Warum ist für dein Zitat nicht so wichtig, denn woher die Loyalität kommt ist unerheblich für die Feststellung, dass sie zwangsläufig zu eigenen Kosten geht.
    Wer muss sich da entscheiden? Der, dem das Auskommen zu schwer wird. Der muss schon wissen, was er will: Nation oder Auskommen. Oder mit dem FDP-Barden Biermann: „Was nützt da Freiheit? Es ist nicht bequem. Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm.“ Auskommen gibt es nur gegen das nationale Interesse – ob nun graduell als Verteilungskampf im System oder endgültig, indem man die Nation praktisch erledigt.
    Es sieht so aus, als könnte man auf dieser Ebene erstmal weiterstreiten, wenn es da was zu streiten gibt. Ich sehe nicht, dass die „richtige“ Herleitung des Nationalismus notwendig ist für die Feststellung, zu wessen Schaden er gedeiht und welchen Schluß man daraus ziehen soll, wenn man diesen Schaden nicht erdulden mag.

  6. 3. November 2010, 20:55 | #6

    Stromsau, deine ja richtige Erkenntnis

    „Das Interesse als Arbeiter (an einem Auskommen) leidet notwendig unter dem als Nationalist und vice versa“

    ist nur leider nicht der Wissensstand der Arbeiter-Nationalisten.
    Gerade dein von mir gar nicht bestrittenes Argument:

    „Das Auskommen als Teil der Nation leidet meist, wenn die Nation Niederlagen gegen andere Nationen einfährt.“

    ist meiner Ansicht nach *das* Argument, warum sich Nationalisten die recht bedingungslose Parteinahme für ihren Staat einleuchten lassen. In einer Konkurrenzwelt leidet eben auch der Unterworfene Schiffbruch seine Herren untergehen. So ein Denken fängt soch schon am Arbeitsplatz an, wo viele Arbeiter Betriebs“patrioten“ werden bis hin zu so Blödsinn, selbst als Konsument nur die Produkte „ihrer“ Firma zu kaufen. Auch hiersteckt im Kern nur die bittere Erkenntnis dahinter, daß Erfolge „ihres“ Unternehmens schon nicht ohne Verluste bei ihnen abgehen, aber mit Sicherheit die Niederlage, der Mißerfolg „ihres“ Unternehmens auch echt ihre eigene persönliche Niederlage ist.
    Früher hätte ich dir wahrscheinlich mit deinem Schluß zugestimmt:

    „Ich sehe nicht, dass die „richtige“ Herleitung des Nationalismus notwendig ist für die Feststellung, zu wessen Schaden er gedeiht und welchen Schluß man daraus ziehen soll, wenn man diesen Schaden nicht erdulden mag.“

    Mittlerweile bezweifele ich das, insbesondere wo die Hauptvertreter der Thesen des obigen Textes (der ist von contradictio also vom GegenStandpunkt) so gar nicht mit sich reden lassen.

  7. 4. November 2010, 09:40 | #7

    Ganz so konfliktfrei geht das ja nicht ab. Praktisch immer lavieren die Freunde der Nation damit, dass Einschnitte zwar im Prinzip schon sein müssen, aber bei sich selbst eher zuletzt. Die Minderheit, die sich selbst vorbildhaft besonders einsetzt und verheizt, gibt es zwar auch, aber das ändert nichts an der Sache.
    1) Was heißt entscheiden müssen?
    Genau das: Den Schaden (bis zum Untergang) der Nation in Kauf nehmen zum eigenen Vorteil oder anders herum. Das tun sie in der Praxis unentwegt, sei es nun in der Stuttgart21-Demo, im Bahnstreik oder im Steuerbetrug. Das tun sie umgekehrt als Kriegsfreiwillige und Ehrenamtler.
    Man muss diese Frage – wie implizit auch immer – ständig (neu) beantworten. Insofern hat irgendwer meiner Meinung nach recht. Einfach nur Nationalist und sonst gar nichts ist keiner, den ich kenne.
    2) Der Staat schafft die Nation – und dann?
    Im Artikel wird die Nation historisch begründet als Machwerk des Staates, der seinen Untertanen einheitliche Verhältnisse aufzwingt und so die Gemeinsamkeiten auch wirklich stiftet, auf die der Patriot sich beruft. Einmal eingerichtet ist die Gemeinsamkeit in Sprache, Sitte und Abhängigkeit ja real und keineswegs nur im Kopf des Patrioten. Wer nicht so ist, gehört nicht dazu – wer dazu gehören will, muss so werden. Soweit Gemeinsamkeit von Sarrazin bis Gabriel. Nach wie vor setzt hier aber die politische Herrschaft die Maßstäbe der nationalen Identität und schreibt sie fort. Die Patrioten ziehen in der Regel mit einigen Gewöhnungsschmerzen nach, gleich ob National- oder Realsozialismus.
    Das ist ein Indiz, dass Rotz sich irrt mit seinem Schluß:

    Wenn die nationale Identität für die Mitglieder des nationalen Vereins ihre Mitgliedschaft in einer bestimmten Nation begründet, dann ist sie genau das vorpolitische Moment, das ihnen die Zugehörigkeit zu einer Nation einleuchten lässt.

    Denn der Inhalt des nationalen aquis ist anscheinend vollkommen geschieden von der Frage, ob man den als seine Sache annimmt. Die sprachpolitischen Bocksprünge der osteuropäischen National- und Vielvölkerstaaten illustrieren das.
    Wenn sich Norditaliener gern von der Last des weniger erfolgreichen Süden lösen würden, wo ist denn da der divergierende Inhalt der nationalen Identität? Wollen die am Ende

    nicht etwa (bloß) aus po­li­ti­schen Be­rech­nun­gen ihres theo­re­ti­schen und prak­ti­schen Vor­teils unter einer be­stimm­ten na­tio­na­len Auf­sicht leben

    ?

  8. 4. November 2010, 10:11 | #8

    „Die Minderheit, die sich selbst vorbildhaft besonders einsetzt und verheizt, gibt es zwar auch“ Gerade in Deutschland ist dein „gibt es zwar auch“ schon ganz schön verharmlosend.
    Peter Decker hat zu diesem Thema vor einigen Jahren mal gesagt:

    „Man kann ein Volk, dafür sind die Deutschen gerade ein schönes Beispiel, unglaublich niederdrücken und es muckt nicht auf. Wenn es davon überzeugt ist, dass das halt nötig ist, um die eigenen Lebensgrundlagen zu verteidigen. (Ich meine hier Hitler und den zweiten Weltkrieg.) Und am Schluß fressen sie nur noch Dreck und haben immer noch nichts gegen den Laden. Wenn sie davon überzeugt sind, dass das gegen ihr Leben und Überleben ist. Wenn sie sich davon überzeugen würden, was das für eine miese Sache ist, für die sie sich hergeben, dann würden sie es nicht tun. Und dies nicht erst, wenn sie soweit runtergedrückt sind.“

    Deshalb stimme ich ja auch deinem Satz zu:

    „Einfach nur Nationalist und sonst gar nichts ist keiner, den ich kenne.“

    und eben nicht Freerk Huisken, der Sarrazin (und sicher nicht nur den) auf sinnleeren Nationalismus pur reduziert.
    Wenn du sagst:

    „Einmal eingerichtet ist die Gemeinsamkeit in Sprache, Sitte und Abhängigkeit ja real und keineswegs nur im Kopf des Patrioten. „

    dann halte ich das so für falsch: „gemeinsam“ ist das z.B. bei der Sprache nur im für die Ideologie nun wirklich unbedeutenden pur faktischen Sinne: Der spätere Pakistani und der spätere Inder haben als lingua franca beide Englisch gehabt, neben weitern anderen (Mutter-)Sprachen. Das hat bekanntlich keine „Gemeinsamkeit“, kein Zusammengehörigkeitsgefühl gestiftet. Ob die Sitten in einer x-bliebigen Klassengesellschaft wirklich über alle Klassen hinweg in wesentlichen Fragen so einheitlich sind, daß man da von Gemeinsamkeit sprechen kann, wage ich auch zu bezweifeln. Auch in der abstrakt zwar nun wirklich für alle Staatsbürger und Untertanen identischen Anhängigkeit vom Staat, in dem sie leben, sehe ich bei Lichte, nämlich die Lage der einzelnen Klassen betreffend, nicht mehr so fürchterlich viele Gemeinsamkeiten. Die findet man doch eher im Vergleich der gleichen Klassen unterschiedlicher Staaten als innerhalb einer Klassengesellschaft.
    Auch dein oberflächlich so offensichtliches „Wer nicht so ist, gehört nicht dazu“ entpuppt sich bei näherem historischem Hinschauen als fraglich. Die deutschen Juden haben zum Teil bis in die 30er Jahre gedacht, sie seien doch auch so, Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg, Schiller im Schrank etc. Das entpuppte sich als tragische Fehleinschätzung.
    Auch deine Behauptung

    „Nach wie vor setzt hier aber die politische Herrschaft die Maßstäbe der nationalen Identität und schreibt sie fort“

    möchte ich zurückweisen: Das ist jeweils zwar mit massiver Staatsgewalt unterlegte „Hoffnung“ und Programm, ob daraus aber auch was wird in den Köpfen der als Nationalisten gewünschten Untertanen, das ist eben gar nicht garantiert. Dem haben doch sowohl kommunistische Umtriebe als auch sezessionistische Bestrebungen schon in manchem Staat einen Knüppel dazwischen werfen wollen und das manchmal ja auch geschafft.

  9. Stromsau
    5. November 2010, 10:13 | #9

    Gut, dann haben wir ja ein paar Punkte herausgeschält.
    1) Das Abverlangte abliefern und freudig-idealistisch darüber hinaus für die Nation zu leisten sind schon zwei paar Stiefel.
    Selbst beim Hitler. Die entsprechende Literatur ist ja kaum noch zu bewältigen.
    2) Zu den Gemeinsamkeiten:
    In der Regel ist es schon so, dass Sprachen Barrieren sind und insofern gemeinsame Sprache schon eine Klammer darstellt. Eben gegenüber denen, mit denen man in Fremdsprache reden muss. Das garantiert nach innen in die Sprachgemeinschaft keinen Zusammenhalt, verhindert keine Spaltung. Den Nazis waren die Juden in ihrer Vorstellung schon noch verschieden genug – wo nicht am Einzelnen erlebbar, da eben abstrakt, „als Volk“. Nicht umsonst ist von Himmler die Beschwerde überliefert, dass noch jeder Parteigenosse in seinem Umfeld irgendeinen „guten Juden“ ausgemacht habe, der auszunehmen sei vom ansonsten geltenden. Die hat ihr Schiller dann in der Tat nicht gerettet.
    Überhaupt ist das doch der Witz an der Nation, dass man sich ihr nicht per Willensakt oder Wohlverhalten einseitig anschließen kann. Man muss auch „angenommen“ werden, gewollt sein. Wobei das mit den Juden schon ein schwieriges Thema ist.
    3) Wer definiert die Maßstäbe der Identität?
    In meinen Augen ist das der Staat. Gerade geht es darum, ob dem Islam das Angebot zu machen ist, sich als eine weitere neben den hergekommenen staatsnützlichen Religionen herzurichten und in die nationalen Erfordernisse einzufügen oder ob man ihn in toto als fremden, unerwünschten Kult zurückweisen und behindern soll. Die Entscheidung darüber trifft nicht die von Ralph Giordano und Manfred Rouhs flankierte Demobewegung auf der Straße sondern die Führung in Berlin. Egal wie es ausfällt, das wird dann durchgesetzt. Ob einzelne Bürger darüber in ideologische Opposition geraten, ob sie auswandern, einen neuen Teilstaat aufmachen wollen oder den Staat als ganzes wegwerfen, das ist dann immer noch deren Sache. Wäre es nicht so, müsste keiner agitieren – der Staat nicht und seine Gegner auch nicht.

  10. 5. November 2010, 12:51 | #10

    Stromsau, sollte dein Verweis auf die aktuelle Hitler-Literatur nun ein Widerspruch zu meinen Decker-Zitat sein?
    Zur Sprache:
    Gerade die Entstehung der Staaten im deutschsprachigen Raum hat doch gezeigt, daß Sprache allein für gar nichts steht. Königgrätz hat entschieden, wie das großdeutsche Reich aussieht, nicht die Karte der diversen deutschen Dialekte. Danach hätte Bayern ja eher zu Österreich-Ungarn gehört als zu Preußen.
    Der Fall der Schweiz hingegen zeigt, daß man sich auch dann gemeinsam nach Außen abgrenzen kann, wenn man ganz unterschiedlicher Sprache ist. Das hat sich ja noch nicht einmal abgeschliffen solange es den gemeinsamen Staat gibt.
    Zu deiner Bemerkung „Den Nazis waren die Juden in ihrer Vorstellung schon noch verschieden genug – wo nicht am Einzelnen erlebbar, da eben abstrakt, „als Volk“.“ möchte ich sagen, daß daß in der Tat die Radikalisierung der Ausgrenzerei war, die eben nicht „nur“ die Ausgrenzung der nicht auf dem beanspruchten Territorium lebenden Menschen bedeutet hat, sondern aus der staatlich gestifteten/gewollten Nation auch gleich ein dem ein angeblich zugrundeliegendes Volk gebaut haben, das den ihm zustehenden Platz an der Sonne der Konkurrenz der Staaten nur deshalb nicht erreicht hat, weil „unvölkische“ „Fremdlinge“ das sabotiert haben müssen. Weil das aber eine gedankliche Rückwärtsrechnung war, die jeglichen Realitätsgehalts entbehrt hat, hatten die Nazis dann eben ihre Probleme in den konkret Ausgegrenzten, hier den Juden, das „volksschädliche“ überhaupt konkret dingfest zu machen.
    Deinen Witz „an der Nation, dass man sich ihr nicht per Willensakt oder Wohlverhalten einseitig anschließen kann“, möchte ich auch so nicht stehen lassen. Jede Nation hat überhaupt so angefangen, daß sich irgendwelche „nationalbewußten“ Kerne entschlossen haben, „ihr“ Territorium mit „ihren“ Menschen aus der Landkarte rauszuschneiden. Das war nicht nur früher so, solche Bestrebungen kann man selbst in „modernen“ imperialistischen Staaten beobachten.
    3)Wer definiert die Maßstäbe der Identität?
    Ja, zumeist der jeweilige Staat. Aber eben beileibe nicht immer Top-Down als reine „Führungsentscheidung“. Da spielt dann schon noch der damit ja nicht hundertprozentig deckungsgleiche Nationalismus der „Volksmassen“ eine nicht unwesentliche Rolle. Dann brechen Staaten eben schon mal auseinander oder werden vom Nachbarstaat geschluckt.
    Daß mit der Definition der Maßstäbe von oben seitens des Staates noch nicht alles entschieden ist, daß da sowohl der Staat als auch seine Gegner zur Erzielung des Bewußtseins der Menschen, an dem ihnen jeweils gelegen ist mit den jeweils verfügbaren Mitteln losagitieren, das ist wohl wahr. Und streicht wieder mal die falsche Gleichung durch Gewalt=Bewußtsein.

  11. AgneS
    5. November 2010, 13:03 | #11

    „Wer definiert die Maßstäbe der Identität?“
    Immer der, der sich auf sie beruft. Was unter der eigenen Nation zu verstehen ist, sieht jeder gerne ein wenig anders. Für den einen gehören mal Juden, mal Türken nicht zur deutschen Nation dazu, der andere begreift sich gleich als Europäer.
    Wenn man von staatlicher Seite auf die Berücksichtigung der Nation verpflichtet wird, dann definiert der Staat natürlich auch die Maßstäbe.
    Man kann aber nicht so tun, dass diese Maßstäbe dann für alle gelten, die sich was auf die Nation einbilden.

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