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Huisken: Warum Politiker Sarrazin nicht kritisieren können

1. November 2010

Die Sache mit dem Dummheits-Gen, der Plan von Sarrazin zur Rettung wertvoller deutscher Volkssubstanz und
warum Politiker ihn nicht kritisieren können

Es ist eben das Schöne – nicht nur – an der Psychologie, dass man in ihr für jeden Standpunkt immer den passenden wissenschaftlichen Beweis findet. Natürlich gilt das auch für jeden gegenteiligen Standpunkt. Th. Sarrazin, der nun einmal von „angeborenen intellektuellen Mängeln“ (S.100) der Unterschicht überzeugt ist, wurde in den einschlägigen Wissenschaften ebenso fündig wie seine Kritiker wie S. Gabriel in der ZEIT, F. Schirrmacher in der FAZ, wie andere im Spiegel oder in der Süddeutschen.[1] Sarrazin baute auf den Befunden von der Erblichkeit der Intelligenz den einen Pfeiler seines Untergangsszenarios auf[2]:„Bei höherer relativer Fruchtbarkeit der weniger Intelligenten (er meint deutsches „Prekariat“) sinkt die durchschnittliche Intelligenz der Grundgesamtheit. Das ist in Deutschland …gegenwärtig der Fall. „(99) Und da es für ihn ebenfalls wissenschaftlich belegt ist, „dass zwischen Schichtzugehörigkeit und Intelligenzleistung ein recht enger Zusammenhang besteht“(93), addiert er eins und eins zusammen und kommt auf seinen Warnruf: „Mehr Kinder von den Klugen, bevor es zu spät ist.“ (331) Denn wenn kluge Menschen kluge Kinder in die Welt setzen, dumme Menschen aber eher dumme Kinder, und wenn sich dummerweise die Dummen gegenüber den Klugen durch größere „Fertilität“ auszeichnen, dann muss man zum einen die Klugen im Interesse der Rettung wertvoller deutscher Volkssubstanz zu vermehrter Kinderproduktion anhalten und zum anderen den Dummen die schädliche Zeugungsquote irgendwie vermiesen. Da er die Dummen nicht medizinisch sterilisieren lassen will – so ein Vorschlag gehört sich selbst für Deutsche vom Schlage des Th. Sarrazin nicht – lässt er sich eine Art sozialer Sterilisierung einfallen: Denen muss das Kinderkriegen durch radikalen Abbau jener Transferzahlungen, die ihnen bisher ein Leben in „anstrengungslosem Wohlstand“ (Westerwelle) erlaubt und die bei ihnen wie eine Prämie zum Kinderkriegen gewirkt haben, ausgetrieben werden. Für die anderen, die Klugen, hat er umgekehrt eine Form der sozialen Fertilitätsstimulierung in seinem Rettungsprogramm: „Es könnte beispielsweise bei abgeschlossenem Studium für jedes Kind, das vor Vollendung des 30 .Lebensjahres der Mutter geboren wird, eine staatliche Prämie von 30.000 Euro ausgesetzt werden (Die) dürfte allerdings nur selektiv eingesetzt werden, nämlich für jene Gruppen, bei denen eine höhere Fruchtbarkeit zur Verbesserung der sozioökonomischen Qualität der Geburtenstruktur besonders erwünscht ist.“(389f) Alles klar! Einen Haken sieht er allerdings noch in seiner Sozial-Eugenik. Denn niemandem kann das Kinderkriegen untersagt werden, selbst den Dummen nicht. Was tun, wenn die einfach weiter ungeschützt verkehren oder verkehrt ihre Familien planen? Dann muss man die Kinder in Einrichtungen stecken, in denen der Versuch unternommen wird, sie trotz schlechter Anlagen noch irgendwie einzudeutschen. Das geht natürlich in den hiesigen Erziehungseinrichtungen nicht nach altem Programm: Denn wenn „für einen großen Teil dieser (Unterschichts-)Kinder… der Misserfolg mit ihrer Geburt bereits besiegelt (ist): Sie erben die intellektuelle Ausstattung ihrer Eltern“ (175), dann wird „auch im besten Bildungssystem … die angeborene Ungleichheit der Menschen durch Bildung nicht verringert, sondern eher akzentuiert“.(249) Bei 80 Prozent vererbter Dummheit ist Erziehung eigentlich vergebliche Liebesmühe. Aber vielleicht baut ein Gemisch aus Zwang und Druck, dem Kinder und Eltern gleichermaßen auszusetzen sind, das Undeutsche in den genetisch auf Dummheit festgelegten Unterschichtkindern ein wenig ab: Möglichst gleich nach der Geburt müssen dann die Kinder aus dem falschen sozialen Milieu entfernt werden, kaserniert, deutsch traktiert, auf mehr praktische Nützlichkeit getrimmt und dem schlechten Einfluss der Eltern soweit entzogen werden, dass sie nur den Feierabend und das Wochenende zu Hause verbringen. Wo sich Eltern dem Entzugsprogramm nicht unterwerfen, müssen sie “ mit empfindlichen Geldbußen belegt (werden). Diese werden mit den Transferzahlungen auch dann verrechnet, wenn dadurch das sozioökonomische Existenzminimum unterschritten wird.“ (232ff) Ein Programm aus einem Guss [3] Da bleibt keine Auge trocken und da ist die Empörung groß.
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Z.B. auch bei dem Vorsitzenden der SPD, Sigmar Gabriel, dem die ZEIT Raum für die Begründung des Antrags zum Ausschluss des Genossen Sarrazin aus der SPD eingeräumt hat. Seine Kritik beginnt – gar nicht überraschend – mit einer Zustimmung zu den von Sarrazin angesprochenen Problemen bei der Integration von Ausländern. Da möchte der Parteivorsitzende auch nichts anbrennen lassen: Integrationsunwilligkeit kann nicht hingenommen werden, erklärt er und hat denn auch bei der Regierung gleich jene Strafen für hier lebende unwillige Ausländer eingefordert, die Innenminister de Maziere einige Tage vorher bereits angekündigt hatte. Der Seiltanz ist für die Sozialdemokraten kein Problem, sondern eine parteipolitische Notwendigkeit: Den Sarrazin will man wegen eines unpassenden „Menschenbildes“, so Gabriel, rauswerfen, aber auf das ihm applaudierende Publikum will man als Wählerpotenzial keinesfalls verzichten.
Seine sich anschließende Kritik an den Thesen des Nochparteimitglieds ist bei Lichte besehen keine: Es bleibt bei der Empörung, die untermauert wird mit dem Nachweis, dass sich das Gedankengut hier( nicht gehört, weil es sich auch bei rassistischen Eugenikern findet, die nicht zuletzt den Boden bereitet hätten für die Auslöschung „unwerten Lebens“ durch die Nationalsozialisten. Schon ist der rein im Moralischen verbleibende Rassismusvorwurf fertig und Sarrazin rechts außen festgenagelt. Um eine Widerlegung seiner Urteile (muss sich Gabriel deswegen auch gar nicht bemühen: Die Feststellung einer groben Abweichung vom sozialdemokratischen Bild vom „freien und zur Emanzipation fähigen Menschen“(Gabriel) reicht ihm völlig. Im Übrigen wäre er zur Widerlegung auch gar( nicht in der Lage. Denn wenn er die doppelte Verkehrung begriffen hätte, die den Thesen von Sarrazin zugrunde liegt, wäre er bei einer vernichtenden Kritik jener Regierungspolitik gelandet, an der Sozialdemokraten sich jahrelang beteiligt haben und an der sie sich, so schnell wie es geht, wieder beteiligen wollen.
Ich meine damit Folgendes: Wie ist denn der gar nicht zu bestreitende Sachverhalt zu erklären, dass Teile der in der Arbeitswelt – dem 1. Arbeitsmarkt – nicht mehr bzw. gar nicht erst gebrauchten und deswegen auf Hartz-IV-Almosen verpflichteten jüngeren und älteren Menschen nicht nur materiell verarmen, sondern auch geistig verwahrlosen? Bekanntlich handelt es sich dabei in der Mehrzahl um Menschen, die nach pflichtgemäßer Einschulung diverse Erziehungsbemühungen höchst eigenwilliger Art bereits hinter sich haben; die also bereits im schulischen Leistungsvergleich von Mitschülern aus den höheren Schichten abgehängt worden sind – und das ist ja der harte Kern der „Bildungsferne“; denen durch das Lernen für Noten das Interesse am Schulstoff obendrein nicht selten frühzeitig ausgetrieben worden ist; die erfahren mussten, dass Schule die dort im Konkurrenzlernen hergestellten Wissensmängel und Kenntnisdefizite nicht behebt, sondern zum Material der Verteilung der Schüler auf Ober- und Unterschulen macht; die Produkt einer schulischen Gleichbehandlung geworden sind, bei der individuelle und durch Familienerziehung bedingte geistige Unterschiede nicht etwa korrigiert, sondern zur Herstellung von unterschiedlichen Schulkarrieren benutzt werden; die in der Schule erleben mussten, wie aus zunächst recht harmlosen Differenzen im Vorwissen allererst jene lebensentscheidenden Unterschiede gemacht werden, die über die Aufbewahrung in Restschulen dann ziemlich gnadenlos in jene soziale Bereiche führen, in denen nur noch (Niedrig-)Lohn angesagt ist – wenn denn überhaupt; und die nicht zuletzt deswegen später kaum Interesse und Energie aufbringen, sich von sich aus ein wenig von jener geistigen Nahrung zuzuführen, die bei Sarrazin und Gabriel deutsche Kultur ausmacht.
Das ist die erste Verkehrung: Was Sarrazin aufs Erbgut zurückführt, ist das Produkt der sozial- und arbeitsmarktpolitisch vor allem durch die von den Sozialdemokraten auf den Weg gebrachten Agenda 2010 und eines auf Selektion abzielendes Schulwesens. Beides zusammen bringt auch Formen von geistiger Verrohung zustande, die dann durch das Fernsehen bedient werden und sich an Stammtischen bzw. in zerstörten Familien austoben. Diese geben dann natürlich ihren Kindern kaum jene Erziehung mit auf den Schulweg, die die geistige Elite ihrem Nachwuchs vorschulisch angedeihen lässt. Und schon ist der Zirkel, den Sarrazin auf einen natürlichen Zusammenhang von Unterschicht und fehlender Intelligenz zurückführt, perfekt. Der aber war und ist das Produkt der jüngsten Varianten nationaler Standortkonkurrenz, die eigentlich dem Herrn Gabriel mit seinem hübschen Menschenbild nicht unbekannt sein dürfte. Aber er hat ja sein „Bild“, das in den Grundsätzen der Parteiprogrammatik gepflegt wird, während in der Regierungspolitik dafür gesorgt wird, dass den freien und zur Emanzipation fähigen Menschen massenhaft die Mittel einfach fehlen, sich von materieller und geistiger Armut zu „emanzipieren“.
Auch die Kritik der zweiten Verkehrung des Herren Sarrazin führt schnurstracks zu nationaler Politik und ihren Resultaten. Die Behauptung Sarrazins besteht darin, die Opfer nationaler Sozial-, Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik zu Schädlingen des wahren Deutschtums zu erklären. Von wegen Schädlinge: Wer Jahre oder Jahrzehnte lang als Lohnarbeiter seinen Dienst an der Mehrung kapitalistischen und am Wachstum des nationalen Reichtums geleistet hat und dann mit Hartz-IV alimentiert wird, der ist kein Schädling, sondern ein Nützling – immer gemessen an den Maßstäben dieser hübschen Marktwirtschaft. Bei Sarrazin verwandeln sich die ins Elend entlassenen Leute, ein Resultat der Konkurrenz, in den Beleg, dass sie sich einfach Deutschland und was sich hier gehört verweigern. Und das ist dann bei ihm die Umkehrung: Schädling am Deutschtum. Eine echte Gemeinheit! Dumm, d.h. ohne Geld zum Leben steht ein Arbeitsloser allerdings schon dar. Denn er war einmal nützlich und ist es jetzt nicht mehr! Deswegen ist er aber noch kein Schädling, sondern ein Ex-Nützling. Und seine prekäre Lage ist hier so vorgesehen: Wie stünde es denn wohl um die Erpressung zur lebenslangen Ablieferung von Lohnarbeit, wenn der Lohn so beschaffen wäre, dass man mit ihm auch in Zeiten der Nichtbeschäftigung ordentlich über die Runden käme? Dem Dauerarbeitslosen wird das Leben so schwergemacht, dass er weder Gelegenheit noch Kraft oder Lust hat, Thilo Sarrazins Maßstäben vom guten Deutschen zu genügen.
Dass auch unsere drei bis vier Volksparteien mit dem sich daraus ergebenden Bevölkerungszustand ziemlich unzufrieden sind, ist erneut ihrer Politik zu entnehmen. DieWirkungen ihrer Volksverarmungspolitik fallen ihnen in Gestalt zerrütteter Familien, des nicht schulfähig gemachten Nachwuchses, der Rohheit und Kriminalität unter Jugendlichen, politischen Rechtsabweichlertums, der Einrichtung in Hartz-IV und auch einer sie wenig zufrieden stellenden Nachwuchsproduktion auf die Füße. Und sie tun etwas dagegen. Natürlich kommt ihnen nicht in den Sinn, etwas gegen die Ursache ihrer Unzufriedenheit, die materielle Verarmung zunehmender Schichten, zu unternehmen.
Die ist wegen der Sicherung der Konkurrenzfähigkeit des nationalen Lohngefüges standortpolitisch geboten – warum vermeldet Deutschland wohl in der Krise überraschende Wachstumsraten! Aber die Wirkungen lassen sich schon abmildern: Man sorgt durch Einfrieren von Hartz-IV für das nötige Abstandsgebot, sprich: dafür, dass die Erpressung, jede Arbeit anzunehmen, weiter greift – Sarrazin lässt grüßen! Man legt Jugendbetreuungsprogramme auf, mit denen die für gefährdet geltende Jugend von der Straße geholt wird – Sarrazin lässt grüßen! Man organisiert ein Elterngeld, das Akademikerinnen die Verbindung von Karriere und Kinderwunsch erlaubt – Sarrazin lässt grüßen! Man diskutiert die Bestrafung mit Leistungsabzug für jene Eltern die sich nicht darum kümmern, ob ihre Sprösslinge pünktlich in der Schule antreten – Sarrazin lässt grüßen! Usw. Den Gabriel oder die Merkel möchte ich sehen, die mit so einer Argumentation gegen Sarrazin zugleich die Grundlagen und aktuellen Abteilungen ihrer eigenen nationalen, um Deutschlands Wohl – Sarrazin lässt schon wieder grüßen – besorgten Politik kritisieren wollten!
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Den Sarrazin wegen seiner Anleihen bei biologistischen Intelligenztheorien einen Rassisten zu schimpfen, aber zugleich nichts dabei zu finden, dass die angehende Lehrerschaft im Studium mit der Anlage-Umwelt-Theorie und ihrem pas¬senden Gebrauch vertraut gemacht wird, passt auch nicht so recht zusammen. Dass jeder Pädagoge einige Kenntnisse über jene Begabungs- und Theorien über angeborene Intelligenz braucht, die Sarrazin so verdächtig machen, und dass sie in den rechten Gebrauch dieser Befunde eingewiesen werden müssen, daran herrscht unter Lehrerbildnern kein Zweifel. Zum rechten Gebrauch der Anlage-Theorie gehört es z.B., den von den mangelhaften Schulleistungen ihrer Sprösslinge enttäuschten Eltern klarzumachen, dass es nun einmal – und er habe sich wirklich redlich und immer wieder bemüht – bei ihrem Kind an den Anlagen, der Begabung oder an der angeborenen geistigen Ausstattung fehle; um also sein und der Schule Selektionswerk der Natur des Kindes bzw. der schlechten Erbmasse der Eltern anzulasten. Den Umwelt-Gedanken braucht der Lehrer dann, um sich selbst als Erzieher doch wieder ins Spiel zu bringen. Den Anlage¬-Befund nämlich ernst genommen und zu Ende gedacht, hätte er sich und seine pädagogische Profession glatt für überflüssig erklären müssen. Wenn der Verstand durch Erbanlagen bestimmt wäre, dann könnte die Erzieherschar ihren Hut nehmen. Das darf nicht sein, dafür hält er sich und seinen Auftrag für viel zu bedeutsam. Also her mit dem entgegengesetzten Befund: Auch die Umwelt erzieht, also vor allem er und die Familie; aber, wie er weiß, auch die Medien, auf deren positive erzieherische Wirkung aber nicht unbedingt gebaut werden kann, weswegen er wieder schwer gefragt ist.
Wieso nun das eine Kind zum Schulverlierer und ein anderes zum Sieger in der Lernkonkurrenz reift, das kann der studierte Lehrer natürlich auch erklären: Da sind eben die Anlagen- und Umwelfaktoren bei verschiedenen Kindern sehr unterschiedlich verteilt. Das eine ist mehr durch begrenzte Erbanlagen determiniert und das andere von Natur aus offener für den segensreichen Einfluss seiner pädagogischen Eminenz.
Nach den Belegenfür diese Theorie sollte man möglichst nicht fragen. Woher sollen denn ein Lehrer oder der an guter völkischer Substanz des Deutschtums interessierte Sarrazin auch wissen, ob eine bestimmte geistige Ausstattung eines jahrelang schon beschulten Menschen auf ein Erbgut oder auf Umwelteinflüsse zurückzuführen ist? Dennoch sind Psychologen um den Beweis für ihren Unfug nicht verlegen. Allerdings fällt der entsprechend aus: Für die Behauptung, geistige Unterschiede seien auf unterschiedliche Anlagen, auf Gene, ein Genom, auf jeden Fall auf eine natürliche Wirkmacht im Innern des Menschen zurückzuführen, die ihm die Grenzen und vielleicht sogar den Gehalt seiner geistigen Verfassung vorgebe, wird der zu erklärende und überhaupt nicht zu leugnende Sachverhalt, die geistigen Unterschiede in einer Schule oder Bevölkerung, gleich in doppelter Weise benutzt. Zum einen stellen sie das Phänomen dar, dem sich der Wissenschaftler in erklärender Absicht zuwendet. Seine (Hypo-)These von der dafür verantwortlichen inneren Anlage des Menschen belegt der dann aber doch nur wieder mit dem Hinweis auf die vorhandenen geistigen Differenzen bei Menschen: Da sähe man es doch, dass sich verschiedene innere Anlagen eben auch verschieden äußerten! Dass sich die Psychologie dieses zirkulären Beweisverfahrens – das Innere erklärt das Äußere und das Äußere belegt das Innere – gerne bedient, hat einen einfachen Grund. Der Beweis genetischer Bestimmtheit von Intelligenzleistungen lässt sich nämlich gar nicht führen. Da ist ein Schüler in höherer Mathematik und im Englischen gescheitert, hat deswegen die Berechtigung zum Besuch des Gymnasiums nicht erhalten: Anlage? Fehlende zumal? Wie will man denn an der Naturausstattung des Menschen den Nachweis führen, dass es mit ihr zu den Grundlagen der Mathematik noch gereicht hat, die höhere aber im Genom nicht mehr vorgesehen war? Wie will man an der Genstruktur den Nachweis führen, dass ihm spätere Erkenntnisse nicht mehr möglich sind?
Warum ist wohl noch kein Bildungspolitiker, der sich von Psychologen und Hirnforschern hat beraten lassen, auf die Idee gekommen, vor der Einschulung das genetische Begabungs- oder Intelligenzprofil zu orten und entsprechend vor der Einschulung nach biologischen Kriterien jene Sortierung vorzunehmen, die heute erst nach vier bzw. sechs Jahren Schulunterweisung vorgenommen wird. Warum eigentlich nicht? Da könnte doch glatt vielen mit minderer geistiger Po¬tenz ausgestatteten Kids so einiges an Schulqual erspart werden? Bildungspolitiker haben praktische Probleme: Die wollen eben, dass der gesamte Nachwuchs sich später in der Gesellschaft, die ihm alternativlos als „sein Leben“ vorgesetzt wird, zurechtfindet, den Versuch unternimmt, seine Lebenswünsche zu erfüllen und keinen Ärger macht, wenn die nicht aufgehen. Und sie wissen, dass der Nachwuchs bevor er in der Schule nach Prekariat, Masse und Elite vorsortiert wird, dafür einiges wissen und kennen muss. Ganz Praktiker eines an elementarer Volksbildung interessierten Berufsstandes pfeifen sie also erst einmal auf die Psychologie. Die mag ihnen später dann die schon angesprochenen legitimatorischen Dienste tun, wenn es gilt, jene Menschen zu beruhigen, die auf dem Weg zu dem ihnen in Aussicht gestellten „Glück“ nur die „Arschkarte gezogen haben. Dass schulische Volksbildung immer die Produktion einer größeren Anzahl höchst sparsam Gebildeter einschließt, die später das Vergnügen haben, die materielle Sparsamkeit zum Lebensprogramm zu machen, so etwas Unschönes mögen sie dann doch nicht ihrem Schulwesen als Zweck anlasten. Da greifen sie dann lieber zu der Theorie von der Begabungsverteilung in der Bevölkerung, welche die Schule nur abbilde.
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Diese Sorte nativistischen Denkens hat also nicht nur der um den Erhalt deutscher Volkssubstanz besorgte Sarrazin drauf.[4] Sie gehört zum Arsenal bildungspolitischer Legitimationstheorien, wird eifrig an deutschen Universitäten gelehrt und gelernt; und ihre Anwendung bildet einen Teil des geistigen Handwerkszeugs von Pädagogen. Allerdings möchte der Sarrazin – und da hat er als geschulter Demokrat wirklich etwas missverstanden – die Intelligenztheorien nicht zur biologischen Rechtfertigung von Sortierungsergebnissen, die das Werk der Schule sind, benutzen, sondern praktisch zur Anwendung bringen: Menschen mit minderem Erbgut sind eben für ihn keine wertvollen Deutschen.[5] Und da will er etwas ändern!
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Bleibt noch die Frage zu klären, wie sich unterschiedliche Intelligenzleistungen, wie sie beispielsweise die Schule hervorbringt, letztlich erklären lassen.[6] Hierzu sei abschließend folgender Gedanke angeboten, der sowohl auf den vorstehenden Text, auf die 463 Seiten von Sarrazin und auch auf Gabriels Kritik zutrifft: Der Mensch benutzt beim Nachdenken seine natürlichen Potenzen, kleine graue Zellen heißen die im Volksmund, sehr frei. Er entscheidet, wofür er sich geistig anstrengt, auf welchen Gegenstand er sein ‚Hirnschmalz‘ verschwendet, worüber er sich seine Gedanken macht und wie intensiv er sich nach Dauer und Gründlichkeit einem Objekt geistig zuwendet – wo auch immer, in der Schule oder in den eigenen vier Wänden, auf der Arbeit oder im Urlaub. Diese seine Entscheidungen haben etwas mit seinem Interesse zu tun, mit welchem auch immer, sie mögen hier oder da, bei den „Richtigen“ oder „Falschen“ abgeguckt, vielleicht sogar durch Schule geweckt worden sein. Die Ergebnisse der Verstandesbetätigung mögen zutreffend oder verkehrt, oberflächlich oder durchdacht, Produkte von Phantasie oder theoretischer Disziplin sein. All dies nimmt nichts davon zurück, dass ihre Verfolgung ein Akt freier geistiger Betätigung ist. Nichts davon schreibt dem Menschen sein natürliches Gehirn vor und nichts davon ist das Resultat einer Determination durch Umwelteinflüsse. Übrigens kann auch kein Lehrer das Lernen erzwingen. Zwang kann er einsetzen und das tut er. Ob der Schüler dann lernt, wie er dann lernt oder ob er nicht lernt, ist jedoch allemal sein Ding.
Fußnoten:
1) Vgl. ZEIT vom 15.9., FAZ vom 30.8., SZ vom 2.9 und Spiegel Nr. 36
2) Wie gleichgültig ihm zugleich die Befunde psychologischer Intelligenztheorien sind, lässt sich den unterschiedlich bis widersprüchlichen Urteilen entnehmen, die er in seinem Machwerk verstreut. Da ist mal von einer Erblichkeitsannahme von 60 Prozent, dann davon die Rede, dass Intelligenz „zu 50 bis(!) 80 Prozent erblich“ (91) sei. Dann wiederum belässt er es dabei, dass geistige Unterschiede „zum Teil erblich‘ (98) seien, um schlussendlich darauf zu verweisen, dass es „für den Zusammenhang, um den es hier geht, egal (ist), ob die Erblichkeit von Intelligenz bei 40, 60 oder 80 Prozent liegt‘ (98).
3) Der andere Pfeiler seines Untergangsszenarios, die Ausländer bzw. die islamischen Ausländer, sind hier erst einmal nicht das Thema.
4) Er weiß auch, dass zur Anlage immer die Umwelt gehört: „Richtig ist, dass über der Erblichkeit geistiger Potentiale die kolossale (!) Bildsamkeit des menschlichen Geistes nicht vernachlässigt werden darf.“(351)
5) Aber auch das ist Sozialdemokraten gar nicht fremd, die in Schweden mit Sterilisationsmaßnahmen und dem Einsatz von Lobotomie noch in der 2.Hälfte des letzten Jahrhunderts Bevölkerungspolitik betrieben haben; wovon sich, das sei nicht verschwiegen, Gabriel natürlich leicht distanzieren kann.
6) Kritik der Beweise der Zwillingsforschung in F.Huisken, Erziehung im Kapitalismus, Hamburg 1998(3.)S.75ff
[Dies ist die mühsam in HTML-Code „übersetzte“ Version des Artikels, den Freerk Huisken als PDF auf seiner Hompage hat. Hatte ich schon mal gesagt, daß ich Kursivierungen hasse?]

Kategorien(1) MG + GSP Tags:
  1. e.r.
    1. November 2010, 22:28 | #1

    ich musste grad beim lesen der ersten abschnitte des textes daran denken: jugendwerkhof war doch keine so doofe idee, man hätte bei der angliederung ostdeutschlands nicht alle sozialistischen errungenschaften verwerfen sollen 🙂

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