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Spartakist zu Sarrazin

22. Oktober 2010

Eigentlich stimmt mein Titel schon mal gar nicht: Der Leitartikel zu Sarrazin in der neuesten, erst recht spät herausgekommenen Herbstausgabe des „Spartakist“ (diesmal erst Oktober 2010, in den Vorjahren schon im September) wahrscheinlich gerade wegen den Schwierigkeiten, die die Trotzkisten der SpAD mit dem Thema hatten, hält sich erst gar nicht damit auf, was Thilo Sarrazin überhaupt so sagt, sondern kommt gleich auf den Punkt: „Nieder mit „Sparpaket“ und antimuslimischer Hetze!“. So lautet jedenfalls die Überschrift des Artikels.
Als wenn sie die Stalinisten von früher in ihrer Diffamierung der Trotzkisten noch übertreffen wollten, schreiben die Spartakisten einen Artikel, der als DIN A4-Ausdruck bei mir immerhin satte fünf Seiten lang ist, ohne auch nur ein einziges Zitat aus seinem Buch als seinem „Hauptwerk“ zu bringen. Als einziges Zitat von Sarrazin kommt überhaupt nur seine Hetze gegen muslimische Einwanderer vor, die „ständig neue, kleine Kopftuchmädchen produzier[en]“ (Lettre International, September 2009). Ansonsten reicht es den Spartakisten, von “ demagogischer Hetze“ zu reden, von einem „üblen Machwerk“, in dem Muslime zu „Sündenböcken“ abgestempelt werden, sein Zeugs ist „Müll“ oder „Dreck“. In den Mund nehmen darf man als Spartakist offensichtlich nur die linken demokratischen Konkurrenten von Sarrazin, so erinnert der Spartakist immerhin „an Lafontaines berüchtigte Chemnitz-Rede im Sommer 2005, wo er chauvinistisch über Arbeiter aus Polen und anderen osteuropäischen Ländern herzog, dass „Familienväter und Frauen arbeitslos werden, weil Fremdarbeiter ihnen zu Billiglöhnen die Arbeitsplätze wegnehmen““. Und richtig ausführlich kommen nur linke Kontrahenten im engeren Umkreis weg, so die Ex-Linkruckler von Marx21.
Erst nach Zweidritteln des Artikels kommt eine recht richtige und wichtige Passage zur aktuellen Sozialpolitik Deutschlands:

„Hartz IV bringt nicht nur die mörderische Verachtung der Bourgeoisie und ihrer politischen Handlanger denjenigen gegenüber zum Ausdruck, die ihr keine Profite bringen und die sie daher als „überflüssig“ ansieht, als „Kostenverursacher“, die die Profite schmälern. Vielmehr soll die Lage der Hartz-IV-Verelendeten noch unerträglicher gemacht werden. Einerseits als Abschreckung für diejenigen, die noch Arbeit haben, damit sie den Bossen dankbar sind und Lohnkürzungen und die Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen hinnehmen; und um andererseits die Hartz-IV-Empfänger selber dazu zu treiben, auch die miesesten Jobs anzunehmen. Als eine Form faktischer Zwangsarbeit droht die Zusammenstreichung selbst der Hungerbezüge, wenn ein Hartz-IV-Empfänger einen Job ablehnt, den das Jobcenter für „zumutbar“ hält. Jedes Jahr werden über 700 000 Menschen durch Ein-Euro-Jobs geschleust und so reguläre Arbeitsplätze zerstört und die Löhne nach unten getrieben.“

Letztlich drückt dies eine Desinteressiertheit an dem Programm von Sarrazin und Co. aus, die geradezu selbstmörderisch ist in ihren Konsequenzen. Denn daß Sarrazin sehr wohl anschlußfähig ist bei ganz normalen Demokraten dieser Republik, das sehen ja selbst sie:

„Laut einer Umfrage des Berliner info-Instituts unter 1024 Wahlberechtigten Anfang September gaben 36 Prozent der befragten SPD- und 43 Prozent der befragten Linksparteiwähler Sarrazin mehr oder weniger recht (47 Prozent der SPD- und 34 Prozent der Linksparteiwähler lehnten ihn ab).“

Erklären, geschweige denn widerlegen können sie da praktisch nichts, wie man aus ihrer hilflosen Pseudoerklärung ablesen kann:

„Diese Unterstützung entspringt der Logik des sozialdemokratischen Reformismus, der den Arzt am Krankenbett des Kapitalismus spielt. Das bedeutet, Schiedsrichter im Kampf der verschiedenen Gruppen von Bedürftigen um die immer armseliger werdenden Krumen vom Tisch der kapitalistischen Herrscher zu sein, bei dem einer gegen den anderen ausgespielt wird: „Ossis“ gegen „Wessis“, türkische Einwanderer gegen Ostdeutsche und gegen Aussiedler aus der Ex-Sowjetunion, Männer gegen Frauen usw. Damit werden zwangsläufig Nationalismus und Rassismus geschürt.

Solche Fragen wie die folgenden fallen jedenfalls den Spartakisten weder ein, noch wollen sie sie beantworten, wenn sie es denn überhaupt könnten:
• Türkische und deutsche Hartz IV-Empfänger sind dasselbe, Opfer einer betrieblichen Kündigung und Objekt sozialstaatlicher Elendsverwaltung. Aber nur erstere gelten als nicht integriert. Warum?
• Auch muslimische Bürger müssen Einkauf, Miete und Steuer in Euro begleichen, bei Rot an der Ampel halten und deutsche Gesetze beachten. Nicht integriert sein, geht das überhaupt?
• Bankiers und betuchte Bürger sammeln sich in Villen-Vierteln, Studenten in Studenten-Vierteln und Yuppies in Szene-Vierteln. Aber nur die Türken im Türken-Viertel heißen „Parallelgesellschaft“. Warum?
• Warum stirbt auch im demokratischen Rechtsstaat der Rassismus nicht aus? Was hat überhaupt die Biologie, eine Naturwissenschaft, damit zu tun?

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  1. gescheit
    23. Oktober 2010, 07:38 | #1

    Getrennt vom SpAD-Artikel: Was ich problematisch an der Umfrage halte, ist, dass die Linksparteiwähler als Muslimehasser aufgezeigt werden, gerade die im Osten. Jetzt müsste man mal zurückfragen, wie denn genau diese Frage an die Linksparteiwähler aussah und ob sie denn bei der gleichen Frage Katholizismus oder Protestantismus betreffend nicht ähnlich geantwortet hätten. Also dass es sich hier eher um eine aus DDR-Sozialisierung herrührende Ablehnung von Religion allgemein handelt. (Die Kirchen bekommen noch heute kaum einen Fuß im Osten auf den Boden; es gibt kein Fleck auf der ganzen Erde, wo es so viele Atheisten gibt, wie in Ostdeutschland) Was nämlich mit den Artikeln über diese Umfragen suggeriert wird: die Linksparteiwähler sind die besseren Rechten und Rassisten. Darum ist diese Umfrage in meinen Augen auch mit kritischen Augen zu betrachten. Nicht, um hier für die Linken in die Bresche zu springen. Da gibts schon genug Rassisten drunter. Aber deswegen, weil dieser Umstand rein gar keine Beachtung findet.

  2. 23. Oktober 2010, 08:21 | #2

    Linksparteiwähler sind nicht in erster Linie Hasser von Muslimen, viele sind es überhaupt nicht. Sondern es sind fast geschlossen Erznationalisten. Für eine nationalistische Weltsicht ist es recht weitgehend egal, was so jemand sich sonst noch für blöde Gedanken macht, dies gilt auch für sein religiöses Denken.
    Die offiziellen Katholiken haben in der BRD immer ein großes Argument daraus gemacht, daß katholische Deutsche in geringerem Umfang die Politik der NSDAP unter Hitler unterstützt haben als evangelische Deutsche (die einzige religiöse Gruppierung, die sich in der Tat fast geschlossen den Nazis ideologisch verweigert hat, waren die Zeugen Jehovas, denen das die Staatskirchen der BRD nach 45 mit erbitterter Bekämpfung gedankt haben). Daß das bei vielen nur daher rührte, daß die eben anders reaktionär waren als die Nazis, wird dabei gern ignoriert. Viele Monarchisten, gerade aus den führenden Eliten, sind auch nicht gleich oder dann nach einer Weile (vor allem nach den ersten Niederlagen) nicht mehr Fans von Hitler gewesen.
    Es mag ja sein, daß die großen Volkskirchen der BRD in der EX-DDR organisatorisch offensichtlich und sicher auch in großem Maße ideologisch „kaum einen Fuß auf den Boden“ kriegen. Der Übergang zu ganz klassischem deutschen Nationalismus war aber schon der Grund dafür, daß die DDRler in Massen ihr den Rücken gekehrt haben, teils zu Fuß und zumeist im Kopf. Und dieser Nationalismus ist jetzt im Osten grundsätzlich genauso vorherrschend wie in der Ex-BRD, die Besonderheiten der speziellen Linksparteivariante erst mal außen vor gelassen.
    Du wendest dich empört gegen „die Linksparteiwähler sind die besseren Rechten und Rassisten“. Nur, möchte ich dann zurückfragen, was ist denn, wenn die jetzt „nur“ die gleichen Nationalisten sind wie unsre Nullachtfünfzehn-Nationalisten von SPD, CDU und Grünen im Westen Deutschlands (nachdem sie ja auch schon vorher, als sie noch DDR-Bürger waren, alles andere als Antinationalisten waren, unabhängig davon, ob sie damals SEDler waren oder nicht)? Deine nachgeschobene Entschuldigung „Da gibts schon genug Rassisten drunter“ geht leider der Auseinandersetzung mit dem programmatischen Nationalismus auch dieser Partei der Arbeiterklasse aus dem Weg, zudem gerne demokratische Nationalisten sich damit meinen verteidigen zu können, daß sie betonen, daß sie natürlich auch durch und durch antirassistisch seien und man sie deshalb nie und nimmer in den gleichen Topf wie die Rassisten oder gar Faschisten werfen dürfe.

  3. Samson
    23. Oktober 2010, 12:15 | #3

    Ebenso wie Religionen sind Nationen per se Herrschaftskonstrukte. Beherrschen funktioniert nur kurzfristig auf der Basis von Erpessung und Belohnung (‚Zuckerbrot und Peitsche‘). Dauerhaftigkeit kann jedwede Herrschaft nur durch äußere Bedrohung erlangen, weil dann die Herrschaft quasi als ‚Schutzmacht‘ der Beherrschten fungiert. Deswegen ziehen moderne Armeen fürs ‚Vaterland‘ resp. ‚Werte‘ statt wie früher für Fürsten etc. in die Schlacht. Fürs Bedrohungkonstrukt bedarfs wenigstens Feindbilder, gleichgültig wie irrational die auf den wenigstens zweiten Blick erscheinen mögen. Zugespitzt: Je weniger wirkliche Feinde es gibt, umso kruder die Feindbilder.
    Im Übrigen sollte man nicht vergessen: alle heute existierenden Nationen resp. Nationalstaaten verdanken ihre Entstehung gewaltsamer ‚Ausgrenzung‘ aller ‚anderen‘. Die diesbezüglichen Mythen über ‚historische Kontinuitäten‘ verdanken sich stets nachträglichen Erfindungen der jeweiligen Propagandaabteilungen. Rassismus ist folglich von Nationalismus nicht nur nicht zu trennen sondern beinahe schon dessen notwendiges Komplement.
    Für Leute, die sich auf Marx berufen, sollte daher stets gelten: Aller Nationalschwurbel ist nur Ablenkung vom realen Klassenkampf …

  4. 23. Oktober 2010, 13:58 | #4

    Ich halte Samsons Behauptung

    „Ebenso wie Religionen sind Nationen per se Herrschaftskonstrukte.“

    für grundlegend falsch. Jedenfalls wenn es um das ideologische Bekenntnis von Menschen zu „ihrem“ Gott und „ihrer“ Nation geht und nicht um die Frage, welchen Paß man hat, oder für wen die Kirchensteuer abgezogen wird. Schon Marx hat das in Bezug auf die Religion merklich anders gesehen:

    Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d’honneur |Ehrenpunkt|, ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist.
    Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.
    Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über einen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.

    zitiert nach MEW, Bd. 1, S. 378-379
    Samson gehört zu den vielen, die später in Marx ein krudes Religion=Opium *für* das Volk hineingelesen haben. Das ist aber was anderes.
    Auch die Entwicklung bzw. das Beharren auf einem bestimmten Nationalbewußtsein kriegt man nicht in den Griff, wenn man es nur als Ergebnis eines interessierten Einredens der Herrschenden auf ihre Untergebenen versteht. Daß in der Tat oft krude Feindbilder ziehen können, das muß überhaupt erst mal erklärt werden. Daß das nicht so einfach abgeht, daß sich irgendwer ein Gebiet zusammenerobert und dann seinen Untertanen befiehlt, ab heute seid ihr aber mit Herz und Seele Teil meines Volkes, sonst setzt es was, das kann man ja schon daraus ableiten, daß sich gerade in besonders unterdrückerisch empfundenen Staaten alle naselang neues abweichendes Nationalbewußtsein entwickelt.
    Im übrigen stimme ich Samsons Hinweis zu:

    alle heute existierenden Nationen resp. Nationalstaaten verdanken ihre Entstehung gewaltsamer ‚Ausgrenzung‘ aller ‚anderen‘. … Rassismus ist folglich von Nationalismus nicht nur nicht zu trennen sondern beinahe schon dessen notwendiges Komplement.

  5. Knorb
    23. Oktober 2010, 14:51 | #5

    Daß das nicht so einfach abgeht, daß sich irgendwer ein Gebiet zusammenerobert und dann seinen Untertanen befiehlt, ab heute seid ihr aber mit Herz und Seele Teil meines Volkes, sonst setzt es was, das kann man ja schon daraus ableiten, daß sich gerade in besonders unterdrückerisch empfundenen Staaten alle naselang neues abweichendes Nationalbewußtsein entwickelt.

    Komplexer ist das schon, z.B. wird eine verbindliche Sprache dekrediert, eine gemeinsame Geschichte ausgedacht und beides über staatliche Zwangseinrichtungen wie Schulen dem Volk beigebracht. Ist der Prozess erfolgreich, wird danach die Existenz des Staates durch seine Ergebnisse (gemeinsame Sprache, Glaube an gemeinsame Geschichte usw.) gerechtfertigt. Dass das nicht immer perfekt klappt, ist doch kein Gegenargument. Gerade in den Staaten, in denen konkurrierende Nationalismen mit der Staatsmacht ringen kann man doch die Methode am deutlichsten beobachten. Siehe z.B. Türkei: dort ist die Strategie zur Herstellung eines einheitlichen Staatsvolks u.a. die gewaltsame Durchsetzung einer Einheitssprache. Ein einheitlich türkisch sprechendes Staatsvolk gibt es nicht, deshalb werden andere Sprachen verboten und bekampft. Wenn die Türkei dieses Projekt irgendwann erfolgreich abschließt und ein paar Generationen vergehen, wird kein türkischer Untertan mehr daran zweifeln, dass es schon immer ein einhetliches türkisches Volk gab, und dies der Grund für die Existenz des Staates Türkei ist.

  6. Knorb
    23. Oktober 2010, 15:23 | #6

    Was ich problematisch an der Umfrage halte, ist, dass die Linksparteiwähler als Muslimehasser aufgezeigt werden, gerade die im Osten. Jetzt müsste man mal zurückfragen, wie denn genau diese Frage an die Linksparteiwähler aussah und ob sie denn bei der gleichen Frage Katholizismus oder Protestantismus betreffend nicht ähnlich geantwortet hätten.

    Sie wurden einfach gefragt, ob Sarrazin mit seinen Thesen Recht hat. Also implizit, ob sie denken, dass Muslime und Arbeitslose genetischer Müll sind, der entsorgt werden muss. Bei den expliziten inhaltlichen Fragen waren die Linksparteianhänger aber teilweise die am wenigsten islamophoben. Das würde nahelegen, dass die Mehrheit der Linkspartei-Fans einfach keine Ahnung hat, wofür Sarrazins Thesen überhaupt stehen. Auch nicht gerade schmeichelhaft.
    Bei einer ähnlichen Umfrage vom ZDF sehen die Werte etwas anders aus: http://wahltool.zdf.de/Politbarometer/mediathekflash.shtml?2010_09_10
    (durchklicken bis Bild 11)

  7. Samson
    23. Oktober 2010, 17:27 | #7

    … wenn es um das ideologische Bekenntnis von Menschen zu „ihrem“ Gott und „ihrer“ Nation geht und nicht um die Frage, welchen Paß man hat …

    … ok, das sind zwei Paar Stiefel. Dann muss ich meine Aussage präzisieren und die bezieht sich selbstverständlich darauf, unter welchen Umständen Religion „Opium fürs Volk“ ist. Sobald sie nämlich von einer Herrschaft für akzeptabel genug gehalten wird, deren Herrschaftsanspruch bzw. die Gewaltanwendung zu dessen Durchsetzung zu ‚Gottes Wille‘ o.s.ä. zu deklarieren.
    Die von Neoprene zitierte Passage ließe sich ja auch fortführen, schließlich heißt es auf Seite 379 (Hervorhebungen im Original):

    Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren. Es ist zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht, nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik.

    Um von Aufgabe der Geschichte zu reden, verbietet es sich, diese als ewiges Kontinuum zu unterstellen. Umgekehrt, ihr Ende ist spekulativ vorwegzunehmen, selbst wenn dies quasi nur teleologisch oder eschatologisch zu haben ist. Konsequenterweise folgt halt bei Marx der Kritik der Politik die ihres rationalen Kerns, also der Ökonomie. Folglich hat, analytisch betrachtet, Politik ökonomische Ursachen und Herrschaft ist Ausdruck gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse, Kapitalisten und Politiker gleichermaßen Funktionäre des Kapitals. Und die tun das ihre, um den Laden aufrechtzhalten, schließlich hängt ihr eigener Rang innerhalb der Hierarchie genau davon ab. Für Marx selber ging das aus seiner eigenen Analyse hervor (MEW 25, S. 274):

    Übrigens ist es nur das Bedürfnis der kapitalistischen Produktionsweise, daß die Anzahl der Lohnarbeiter sich absolut vermehre, trotz ihrer relativen Abnahme. Für sie werden schon Arbeitskräfte überflüssig, sobald es nicht mehr notwendig, sie 12-15 Stunden täglich zu beschäftigen. Eine Entwicklung der Produktivkräfte, welche die absolute Anzahl der Arbeiter verminderte, d.h., in der Tat die ganze Nation befähigte, in einem geringern Zeitteil ihre Gesamtproduktion zu vollziehn, würde Revolution herbeiführen, weil sie die Mehrzahl der Bevölkerung außer Kurs setzen würde.

    Es sei denn, die Bevölkerung ließe sich bspw. mittels nationalistischem und/oder rassistischem ‚Opium‘ verblenden …

  8. 23. Oktober 2010, 18:27 | #8

    Das ist blöder Determinismus, sicherheitshalber mit einem „Wenn“ garniert:

    Wenn die Türkei dieses Projekt irgendwann erfolgreich abschließt und ein paar Generationen vergehen, wird kein türkischer Untertan mehr daran zweifeln, dass es schon immer ein einhetliches türkisches Volk gab

    Also im Kern die Behauptung, daß die eigenständige willentliche Entscheidung von Staatsbürgern sich den Nationalismus für „ihren“ Staat anzueignen, letztlich Ergebnis der staatlichen Gewalt sei.

  9. Samson
    23. Oktober 2010, 19:21 | #9

    Also im Kern die Behauptung, daß die eigenständige willentliche Entscheidung von Staatsbürgern sich den Nationalismus für „ihren“ Staat anzueignen, letztlich Ergebnis der staatlichen Gewalt sei.

    ‚determiniert‘ ist eher die vermeintlich „eigenständige willentliche Entscheidung“ sich überhaupt als Angehörige eines nationalen Gebildes zu definieren; und zwar ausdrücklich in Konkurrenz zu allen übrigen, d.h. ‚auswärtigen‘, ähnlich strukturierten Gebilden.

  10. Samson
    23. Oktober 2010, 21:38 | #10

    Btw, was der Spartakist als „Logik des sozialdemokratischen Reformismus, der den Arzt am Krankenbett des Kapitalismus spielt“ anprangert und dafür Sarrazin als „Paradebeispiel“ bezeichnet, ist sachlich so falsch nicht. Ob personifizierte Hasstiraden der Erklärung dienen, mag zweifelhaft erscheinen.
    Analytisch lässt sich das, ebenso wie Herrschaft incl. Privateigentum als gesellschaftliche Instanz unter Entgegenwirkende Ursachen subsumieren. Der Haken daran ist, diese haben ihre Bedeutung überhaupt nur im Zusammenhang mit dem tendenziellen Profitratenfall. Hält man den für nicht nachweisbar, taugt auch die diesbezügliche Erklärung nix.

  11. Knorb
    23. Oktober 2010, 22:16 | #11

    Also im Kern die Behauptung, daß die eigenständige willentliche Entscheidung von Staatsbürgern sich den Nationalismus für „ihren“ Staat anzueignen, letztlich Ergebnis der staatlichen Gewalt sei.

    Das blöde liberale Geschwätz vom „freien Willen“ ist da genauso ungeeignet wie bei der Erklärung aller anderen sozialen Verhältnisse. So schlecht die Nullnummer „freier Wille“ zur Erklärung von Arbeitslosigkeit oder Reichtum taugt, so wenig taugt sie zur Beschreibung (geschweige denn Erklärung) des Phänomens Nationalismus. Überlass solchen Quatsch doch Westerwelle & Co.

  12. Krim
    24. Oktober 2010, 01:54 | #12

    „Komplexer ist das schon,…“ Na dann behauptest du eben, der Nationalismus würden den Untertanen komplex eingeredet. Das ändert ja an der Falschheit der Aussage nichts. Die Staatsbürger werden doch nicht durch Manipulation zu Nationalisten. Manipulation behauptet die Herstellung eines Willens, hier des Willens zur Nation, unter Umgehung des Willens. Das ist ein Widerspruch. Um Nationalisten zu werden, müssen die Leute den Willen zur Nation schon selbst fassen. Die Staatsgewalt kann zwar eine Ideologie und Propagandamaschinerie anwerfen, aber eine Garantie, dass die Leute den Schwachsinn glauben, ist das nicht. Das entscheiden sie schon selbst. Herstellen kann die Staatsgewalt den Nationalismus also überhaupt nicht auch wenn sie viel dafür tut, dass die Entscheidung für und nicht gegen die Nation ausfällt.
    „ein paar Generationen vergehen, wird kein türkischer Untertan mehr daran zweifeln, dass es schon immer ein einhetliches türkisches Volk gab,“ Die Kurden zweifeln nach ein paar Generationen immer noch.
    “ So schlecht die Nullnummer „freier Wille“ zur Erklärung von Arbeitslosigkeit oder Reichtum taugt, so wenig taugt sie zur Beschreibung (…) des Phänomens Nationalismus.“ Bloß weil man den Determinismus der staatlichen Willensproduktion kritisiert, muss man noch lange keinem leeren „freien Willen“ das Wort reden. Staatliche Willensproduktion ist nunmal ein Determinismus, der den Willen leugnet.

  13. Samson
    24. Oktober 2010, 09:32 | #13

    Die Staatsbürger werden doch nicht durch Manipulation zu Nationalisten. Manipulation behauptet die Herstellung eines Willens, hier des Willens zur Nation, unter Umgehung des Willens.

    Die Komplexität besteht halt darin, dass die Staatsbürger zu solchen durch die entsprechenden Institutionen erzogen werden. Zur Religion kommt man auch nicht aufgrund eigenen Willens sind sondern durch Religionsunterricht, in dem einem die entsprechende Geschichte erzählt resp. der eigene Alltag interpretiert wird. Je nach dem, wie ‚plausibel‘ sowas ist, funktioniert es oder nicht.
    Wäre der Wille, irgendwas zu tun oder zu sein immerzu schon fertig, bräuchte niemand für irgendwas Propaganda zu machen, geschweige denn ‚Sachverhalte‘ zu erklären.

  14. Krim
    24. Oktober 2010, 10:12 | #14

    Na dann hast du eben einen Begriff von Erziehung, der sich von Manipulation nicht unterscheidet. Auch bei der Erziehung geht nichts am Willen vorbei. Entweder dir leuchtet was ein, dann übernimmst du es, weil es dir eingeleuchtet hat, dann wurde der Wille auch nicht hergestellt, anerzogen, sondern dann hat man selbst einen Gedanken gefasst. Oder etwas leuchtet dir nicht ein, dann übernimmst du es auch nicht für dich, dann paukst du es höchstens für die Klausur und vergisst es danach wieder.
    „Je nach dem, wie ‚plausibel‘ sowas ist, funktioniert es oder nicht.“ Was sollen denn die Anführungsstriche? Du willst doch sagen, Religion würde von den Leuten an ihrer Plausibilität gemessen. Das ist doch offensichtlich Quatsch und weil dir das selbst komisch vorkommt machst du Anführungsstriche. Sag doch mal was der Inhalt dieser „Plausibilität“ in Anführungsstrichen sein soll.
    Der Wille etwas zu tun ist nicht fertig und gegeben, sondern der wird von den Individuen gefasst, aber er wird eben nicht hergestellt durch den Staat.

  15. 24. Oktober 2010, 12:35 | #15

    das ist doch riesenquatsch, dass leute durch 2-3 stunden religionsunterricht in der woche religiös werden. in der regel ist das doch eine angelegenheit, die deutlich früher eingeübt wird. und zwar nicht als eine intellektuelle, sondern auch gerade eine emotionale angelegenheit. mit 3-6 jahren sind menschen halt noch nicht besonders gut in der lage zum kritischen hinterfragen – die glauben ihren eltern und anderen autoritäten erst mal alles, ob das jetzt jesus, buddha oder der weihnachtsmann ist

  16. Samson
    24. Oktober 2010, 13:14 | #16

    Plausibilität von Religion bezieht sich darauf, ob sie den Leuten ihren ‚Alltag‘ erklären kann. Wer keine Ahnung von Naturgesetzen hat, verlässt sich halt auf den ‚Wettergott‘. Dabei ist vollkommen belanglos, ob man dessen Namen nach der Klausur wieder vergisst oder nicht.
    Wirklicher Quatsch ist dagegen zu sagen, kritisches Hinterfragen sei vom Lebensalter abhängig. Freilich ist Religion ebenso wie aller Nationalschwurbel eine emotionale Angelegenheit. Die Frage ist doch eher, warum die Leute irgendwann nicht (mehr) an den Weihnachtsmann glauben. Weil sie kritisch hinterfragt haben, ob der wirklich Geschenke bringt oder weil’s plötzlich heißt, Geschenke gibts bloß, wenn man vorher brav war?

  17. 24. Oktober 2010, 14:13 | #17

    Wenn bigmouth schreibt

    „in der regel ist das doch eine angelegenheit, die deutlich früher eingeübt wird. und zwar nicht als eine intellektuelle, sondern auch gerade eine emotionale angelegenheit. mit 3-6 jahren sind menschen halt noch nicht besonders gut in der lage zum kritischen hinterfragen – die glauben ihren eltern und anderen autoritäten erst mal alles, ob das jetzt jesus, buddha oder der weihnachtsmann ist“

    dann ist das einerseits ja richtig, so wird es weltweit wohl bei den meisten Menschen abgehen. Aber das ist doch buchstäblich erst der Anfang. Sein „erst mal“ ist doch zentral. In buchstäblich allen Sachen der individuellen Weltsicht wächst ein junger Mensch mit dem auf, was ihm seine jeweiligen Erziehungsberechtigten und Verwandten „nahelegen“. Aber irgendwann wird jeder ein ganz normaler Erwachsener, der sich seine „eigenen“ Gedanken macht. Und dann wird aus dem semiautomatisch Anerzogenem seiner Kinderjahre entweder etwas, was er von nun an ablehnt, weil er sich anders entschieden hat, oder wird seine eigene Weltsicht, weil er sich auch für das entscheidet, was andere vor ihm auch schon geglaubt und für richtig erachtet haben.
    Ich möchte wetten, daß auch heutzutage noch die meisten Menschen, die sich als Erwachsene als Kommunisten sehen, als Kinder ihr gerüttelt Maß religiöser Erziehung abbekommen haben. Das ist kein Kainsmal fürs ganze Leben. Davon kann man sich lösen, wenn man erkennt, was falsch, jedenfalls unvernünftig ist am religiösen Denken.

  18. 24. Oktober 2010, 14:34 | #18

    Wirklicher Quatsch ist dagegen zu sagen, kritisches Hinterfragen sei vom Lebensalter abhängig.

    argument? man braucht grundlagen für kritik. die haben 5jährige einfach idr nicht. vernunft und wissen entwickeln sich halt mit der zeit

  19. 24. Oktober 2010, 14:38 | #19

    Früher habe ich religiöses Denken auch so erklärt wie Samson:

    Plausibilität von Religion bezieht sich darauf, ob sie den Leuten ihren ‚Alltag‘ erklären kann. Wer keine Ahnung von Naturgesetzen hat, verlässt sich halt auf den ‚Wettergott‘.

    Das wird zu Beginn des religiösen Denkens vor mehreren Tausend Jahren sicherlich auch so gewesen sein. Damals hatten die Menschen ja wirklich noch so gut wie keine Ahnung von Naturgesetzen. Und von Anfang an waren Menschen (in diesem grundlegenden Punkt ja auch zurecht) der Auffassung, daß all das für sie Unerklärliche, wie z.B. das Wetter, das für sie ja buchstäblich eine Überlebensfrage war, dennoch einen Grund haben muß. Oder moralisch gewendet, irgendjemand mußte schuld sein. Das war dann die Stunde der religiösen Vordenker. Die haben die passende Antwort gehabt.
    Daß man mit Religion kein bißchen besser über die Runden kam, das haben die klügsten Verfechter dieses Denkens schon recht früh erkannt und offensiv ins Religiöse umgemünzt. Ein klassisches Beispiel für solche Überlegungen ist die Hiobsgeschichte aus dem Alten Testament. Da gibt der Schreiber (eventuell auch mehrere) ja ohne weiteres zu, daß es einem fürs Zurechtkommen gar nichts nützt, wenn man gottesfürchtig ist. Zentral war und ist es immer noch, den Menschen beizubringen, einfach so weiterzumachen wie bisher, egal wie knüppeldick es auch kommen mag. Und dabei natürlich immer ordentlich religiös zu bleiben, schließlich spielten da seitens der Propagandisten von Religion schon von Anfang an auch handfeste organisatorische Eigeninteressen eine Rolle.

  20. 24. Oktober 2010, 14:38 | #20

    @17 Neoprene: ich denke, du übertreibst den moment der bewussten entscheidung und auseinandersetzung. die kommen doch in der regel überhaupt erst dann zustande, wenn es zu irgend einer krise der überzeugung kommt – weil die etwa im widerspruch zum erlebten ist. es ist überhaupt nicht notwendig, dass es dazu kommt, wenn religiöse überzeugungen etwa hinreichend flexibel und wischi-waschi genug sind

  21. 24. Oktober 2010, 14:50 | #21

    In der Tat, bigmouth, der Bruch mit dem bisherigen religiösen Denken kommt bei den meisten Menschen „wenn es zu irgend einer krise der überzeugung kommt – weil die etwa im widerspruch zum erlebten ist.“ Genauer, wenn man anfängt, darin einen Widerspruch zu sehen. Automatisch ist da gar nichts. Von den Millionen, die die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs durchleben mußten, haben einige den Schluß gezogen, daß an Gott etwas faul sein muß, wenn er als Allmächtiger sowas zulassen konnte, viele andere haben selbst diesen Tiefpunkt der Menschheitsgeschichte nur einfach unter weitere schwere Prüfung ihrer Gottesfürchtigkeit abgebucht.
    Auch hier gilt, daß das pure Erfahren und Erleiden einer Krise Menschen überhaupt nicht weiterbringt. Die ganze blöde Hoffnung so vieler Linker, daß wenigstens die nächste schwere wirtschaftliche und soziale Krise die Menschen endlich von ihrer Unterstützung des kapitalistischen Systems abbringen müßte, wenn man schon „jetzt“ nicht an sie ran kommt, die ist doch schon dutzendmal enttäuscht worden.

  22. Krim
    24. Oktober 2010, 17:36 | #22

    „Plausibilität von Religion bezieht sich darauf, ob sie den Leuten ihren ‚Alltag‘ erklären kann.“ Du mit deinen Anführungsstrichen. Eigentlich gehört doch das Erklären in Anführungsstriche, denn Erklärungen liefert Religion nun wirklich nicht. Jemand der die Religion ernsthaft als Erklärung der Welt/Alltags nimmt, der würde sie sofort verwerfen. Religion befriedigt schon ein Bedürfnis, aber gewiss kein wissenschaftliches.
    1. Macht die Religion Sinnangebote. Sie vertröstet also auf ein jenseitiges Glück oder einen Lohn im Himmel, wenn schon das Diesseits ein einziges Jammertal ist.
    2. Gibt es alternative Sinnangebote, Aberglaube, Sterndeuterei, Esotherik, Fetischismus. Hier stehen hinter dem Glauben handfeste Interessen. Der Gläubige will mit seiner Verehrung des Göttlichen das nicht beeinflussbare beeinflussen. Er will mit Opfern usw. die Götter auf seine Seite bringen, damit die eigenen Vorhaben gelingen. Oder er will ergründen, ob seine Interessen unter einem guten Stern stehen. Es ist also auch hier nicht Wissenschaft, sondern interessiertes Denken, das ihn zu eingebildeten Mitteln greifen lässt seine Ziele zu erreichen. Hier empfehle ich die beiden Artikel bei den Jungen Linken: http://www.junge-linke.org/tag/religion „Kaum zu glauben! Kritik der Religion“
    „Eine Kritik von Glauben, Aberglauben, New Age, Esoterik, Okkultismus, Feng Shui“

  23. Samson
    24. Oktober 2010, 20:00 | #23

    Daß man mit Religion kein bißchen besser über die Runden kam, das haben die klügsten Verfechter dieses Denkens schon recht früh erkannt und offensiv ins Religiöse umgemünzt.

    Das bestreite ich doch gar nicht, ebensowenig dies:

    Jemand der die Religion ernsthaft als Erklärung der Welt/Alltags nimmt, der würde sie sofort verwerfen. Religion befriedigt schon ein Bedürfnis, aber gewiss kein wissenschaftliches.

    Ich behaupte lediglich, dass meinetwegen analog zu Religionen alle Nationalhuberei auf vergleichbaren Emotionen basiert und von den zuständigen Instanzen innerhalb jeder Klassengesellschaft nach Kräften gefördert wird. Und deswegen ist es Humbug zu sagen, es sei die „eigenständige willentliche Entscheidung von Staatsbürgern sich den Nationalismus für „ihren“ Staat anzueignen“. Dahinter stehen ebensolche handfeste Interessen, innerhalb der vorgefundenen Klassengesellschaft zurechzukommen, wie hinterm Aberglauben.

  24. 24. Oktober 2010, 20:37 | #24

    Samson, es wird doch hier überhaupt nicht bezweifelt, daß hierzulande sowohl Religion (jedenfalls die „richtigen“) wie Nationalhuberei (jedenfalls wenn es um Deutschland geht) „von den zuständigen Instanzen … nach Kräften gefördert wird“. Unter anderem deshalb sollte man sich als Kommunist sich dessen ja annehmen und versuchen, den Leuten klarzumachen, warum das für sie nicht Gutes ist.
    Mir ist aber nicht klar, worauf du aus bist, wenn du einerseits mit Verve dagegen zu Felde ziehst, daß sich die Leute viel darauf einbilden, daß sie ganz aus demokratischer Religionsfreiheit sich „ihren“ Gott und eben auch Deutschland als „ihre“ Nation ausgewählt haben. Den Immigranten wird doch gerade dies „anempfohlen“, sich genau diese Gedanken der Mehrheitsdeutschen auch zu machen und vor allem zu eigen zu machen. Andererseits gibt du ja auch zu, daß hinter diesen ideologischen Sichtweisen „handfeste Interessen, innerhalb der vorgefundenen Klassengesellschaft zurechzukommen“ stehen. Eben, man muß die Leute letztlich dazu bringen, was anderes zu wollen, wozu sie dann solchen Blödsinn nicht mehr brauchen. Und umgekehrt, solange sie am Zurechtkommen festhalten, kommen sie immer wieder auf religiös/nationale Versatzmuster zurück. Die passen nämlich ganz genau dazu.
    Daß gerade die „modernsten“ Konkurrenzler ein ideales Feld abgeben für religiösen Unsinn, zeigt die enorme Verbreitung von hunderten von neuen Religionen und Kulten, von semireligiösem Psychologiekrams gerade in den fortgeschrittensten Zentren des Weltkapitalismus, z.B Kalifornien. Man erkennt da auch besonders gut den zum Teil ganz offen instrumentellen Einsatz dieser Ideologieversatzstücke: Welche konkrete Religion es dann wird, welche Psychologieschule en vogue ist, das ändert sich ja beinahe genauso schnell wie die Mode. Da mögen die Leute leichthin ihren religiösen Kult wechseln wie ihre Klamotten, bitterernst ist aber der Ausgangspunkt, daß man ein erfolgreicher Konkurrenzler werden oder bleiben will.
    Und weil das im modernen Kapitalismus unserer Tage genauso wenig garantiert ist wie es in früheren Jahrhunderten der Ernteerfolg gewesen ist, haben solch uralte Unsitten wie das religiöse Denken auch heute noch viel zu viele Anhänger.

  25. Samson
    24. Oktober 2010, 22:26 | #25

    Mir ist aber nicht klar, worauf du aus bist, wenn du einerseits mit Verve dagegen zu Felde ziehst, daß sich die Leute viel darauf einbilden, daß sie ganz aus demokratischer Religionsfreiheit sich „ihren“ Gott und eben auch Deutschland als „ihre“ Nation ausgewählt haben.

    Dass die Leute sich was drauf einbilden, ist ja nicht zu übersehen, sonst würden nicht selbst demaßen viele Linkspartei-Wähler so unverblümt dem Sarrazin zustimmen (gleichgültig wie suggestiv womöglich die Fragen gestellt wurden).
    Ich halte nur deine Behauptung für, sagen wir, bischen kurzsichtig, es sei blöder Determinismus, wenn man darauf verweist, dass es staatliche Institutionen sind, innnerhalb derer der Nationalismus befördert wird. Freilich spielt auch das Millieu, in welchem jemand aufwächst eine Rolle. Gut möglich bspw. (ich weiß dass das spekulativ ist), dass die ‚Integrations-Empfehlung‘ an Immigranten Moment einer Herschaftsstrategie ist, die letztlich ihre Ausgrenzung bezweckt (d.h. wenigstens der armen Schlucker). Wie wenig solche Integration nützt, haben doch gerade die ‚assimilierten‘ Juden erfahren müssen, als die Nazis ihre eigene Judendefinition in die Welt setzten. Deswegen hat Rassismus mit Biologie soviel zu tun wie Meteorologie mit dem Opfer für den Wettergott. Schon die diesbezügliche Frage sollte man sich, wenigstens als Kommunist, tunlichst verkneifen.
    Vielleicht funktioniert es auch ganz einfach so perfide wie die ‚Gesundheitspolitik‘. Einerseits werden die Kosten privatisiert, beim Personal gespart. Andererseits verbreitet die Propaganda-Abteilung Panik bezüglich qualitativ schlechter öffentlicher Krankenhäuser und suggeriert dem interessierten Publikum, im Zweifelsfall sei eine Patientenverfügung, sterben zu wollen irgendwie humaner als ’sinnloses Leiden durch Apparatemedizin‘ o.s.ä. Anders gesagt, wenn die Leute nicht mal mehr als Patienten vernutzbar sind, sollen sie selber niemanden zur Last fallen wollen. Und solcher ‚Wille‘ kommt auf eigenständig unterschriebenem Papier daher …

  26. Krim
    25. Oktober 2010, 00:47 | #26

    Emotionen als Erklärungsversuch verlagern das Problem bloß. Auf welchen Emotionen denn? – Auf nationalistischen. Und wie kommt es zu nationalistischen Emotionen?. – Durch gewohnheitsmäßig gefällte und in Fleisch und Blut übergegangene gewohnheitsmäßige nationalistische Urteile. Und die fällen die Leute wiederum höchstselbst. Das Interesse zurechtzukommen muss man nicht fassen, da man sowieso keine andere Wahl hat. In Wahrheit handelt es sich, um den Zwang zurechtkommen zu müssen, auch stummer Zwang der Verhältnisse genannt. Das muss man sich nicht auch noch zum positiven Willensinhalt, zum Herzenanliegen machen. Wer aber den Zwang der Verhältnisse als sein Mittel begreifen will, sein Glück zu machen, der hat eine Entscheidung getroffen und aus dieser Entscheidung ergeben sich ein Menge Fehler.

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