Ist Kommunismus ein theoretischer und praktischer Bezugspunkt für die radikale Linke? Und – wenn ja – lässt sich über ihn jetzt überhaupt schon mehr sagen, als dass er das ganz andere wäre? Dazu vier Thesen:
1. Ein vernünftiger Bezug auf Kommunismus – d.h. auch auf seine theoretische und praktische Geschichte – resultiert aus der Kritik des gegenwärtigen Kapitalismus.
Das mag banal oder selbstverständlich klingen, ist es aber nicht. Ich war vor einigen Wochen auf einigen Veranstaltungen einer von der Gruppe Inex organisierten Reihe in Leipzig, bei der es im Wesentlichen um die Kritik am Stalinismus ging. Bei fast jeder Veranstaltung kam aus dem Publikum die Frage, ob man sich denn angesichts der stalinistischen Verbrechen überhaupt positiv auf Kommunismus beziehen könne. Der Witz an dieser Frage ist, dass sie weder eine positive Antwort liefert, noch überhaupt eine Antwort bekommen will, sondern nur die Funktion hat, einen moralischen Standpunkt zu formulieren: Der Redner bzw. die Rednerin fühlt sich auf der moralisch sicheren Seite, indem er sich vom Realsozialismus distanziert, obwohl daraus gar keine bestimmte praktische politische Konsequenz resultiert.
Statt bei diesem Standpunkt zu bleiben und sich als kritischen Linken zu inszenieren, muss man sich doch angucken, was Kapitalismus ist: Kapitalismus produziert Elend, Kapitalismus zerstört Subjekte, psychisch und physisch. Und die Frage, die man daran anschließen muss, ist erstens, ob das nötig ist. Also: Gibt es eine Alternative zum Kapitalismus? Und zweitens: Will man das kapitalistische Elend hinnehmen? Vielleicht zur zweiten Frage zuerst. Auch sie ist meines Erachtens unter Linksradikalen nicht selbstverständlich: Wie man sich praktisch zum Kapitalismus stellt. Wenn man sich linke oder meinetwegen linksradikale Lebensläufe so anschaut, so gibt es häufig die Variante, dass die Leute früher oder später einen zynischen Standpunkt einnehmen. Dass sie sich z.B. entscheiden, ihre Reproduktion an ein akademisches Nischendasein zu hängen und sich politisch praktisch mit den herrschenden Verhältnissen abzufinden. Scheinbar „ergibt“ sich das biographisch einfach so – und sie gewinnen gleichzeitig dann noch einen psychischen Mehrwert daraus, dass sie es besser wissen als die affirmative Masse. Durchaus kein untypischer Verlauf von linksradikalem Leben. Ich denke, die Frage, »Will man das eigentlich hinnehmen?«, ist deshalb keine rhetorische, sondern eine, die durchaus praktische Konsequenzen hat, wichtigere Konsequenzen als so einige theoretische Differenzen, zu denen viele Kongresse abgehalten und Aufsatzbände veröffentlicht werden…
Wenn man sich dem Kommunismus von dieser Seite nähert – von einer Beurteilung des Kapitalismus und der Entscheidung, das nicht hinnehmen zu wollen, dann glaube ich, dass schon mal deutlich wird, dass das keine geschichtsphilosophische Übung ist. Mit Marx kann man zeigen bzw. Marx hat gezeigt, welche besondere Stellung in der heute herrschenden Gesellschaft die Ökonomie hat, kapitalistische Gesetzmäßigkeiten, die sich systematisch bedingen und verstärken. Wenn man also das Elend, das durch Kapitalismus produziert wird, nicht hinnehmen will, gelangt man zu der Frage, ob bzw. wie Kapitalismus als System abzuschaffen ist und durch was er zu ersetzen sein könnte. Das ist schon mal eine sehr viel konkretere Frage als die, ob man sich positiv auf den Kommunismus beziehen will, oder ob man das besser nicht tun sollte.
2. Ein Bezug auf Kommunismus muss zumindest auch positiv sein.
Denn wenn man die Frage so stellt wie eben von mir umrissen – was genau ist denn eine Alternative zum Kapitalismus? -, dann ist das schon ein positiver Bezug auf den zentralen Ansatzpunkt der kommunistischen Tradition. Und zwar unabhängig davon, wie viel Kritik man dann an dieser Geschichte übt. Man kommt zu einer in weiten Teilen ähnlichen Frage und hat damit schon mal eine wesentliche Gemeinsamkeit, auch wenn man in vielen Hinsichten zu anderen Antworten kommen muss als Kommunistinnen früherer Zeiten.
Dass der Bezug auf die kommunistische Tradition ein weitestgehend kritischer sein muss, setze ich hier voraus. Wenn man sich insbesondere die Geschichte des Realsozialismus anschaut, kann man erstmal feststellen, dass er nicht mehr existiert. Was ja auch schon in gewisser Weise gegen ihn spricht – zumindest was seine Praktikabilität angeht. Zweitens – und das kann ich hier auch nur heranzitieren, aber ich schätze mal, dass hier weitgehend Einigkeit bestehen wird – war der Realsozialismus eine Gesellschaft mit Staat, Geld, Herrschaft, die mit Emanzipation nicht wirklich viel zu tun hatte.
Die zentrale Frage und jetzt wird es vielleicht nicht praktisch, aber konkreter, die zentrale Frage, die man meines Erachtens nach an den Begriff Kommunismus oder vielleicht kann man auch sagen, an unsere Zielvorstellungen richten muss, ist die folgende: Wie hält man es eigentlich mit einem gesellschaftlichen Plan?
Es gibt ja viele Linke, auch Linksradikale, die – nicht zuletzt aus der realsozialistischen Geschichte – die Konsequenz ziehen, dass man von so etwas wie einem gesellschaftlichen Gesamtplan bloß die Finger lassen sollte. Ich glaube – und ich hoffe, ich vergesse jetzt niemanden in der Kritik -, dass es in dieser Mehrheit von Linken, die sich von der Planwirtschaft verabschiedet haben, drei große Richtungen gibt: Das ist zum einen eine sozialistische Ökonomie mit Marktelementen. Das ist besonders vertreten bei Richtungen wie der Linkspartei. Dann, bei Linksradikalen ein bisschen beliebter, die Vorstellung einer ganz strikten Dezentralisierung von gesellschaftlichen und damit auch ökonomischen Prozessen. Und die dritte Richtung, die auch noch mal ein bisschen anders ist, ist Erwartung, dass unser Ziel eine unmittelbare Assoziation sein müsse: dass also die gesellschaftliche Reproduktion und der politische Zusammenhalt sich letztlich von selbst und ganz spontan finden werde. Individuen tun sich völlig frei als Einzelne zusammen und machen das, was gesellschaftlich getan werden muss. Alle diese drei Richtungen halte ich nicht nur für nicht überzeugend, ich halte sie für Quatsch.
Erstens: Ein Sozialismus mit Marktelementen kommt an notwendige, konzeptionelle Widersprüche, was ich hier nicht ausfuhren kann. Entweder der Markt funktioniert nur halb, also gar nicht. Oder man hat tendenziell genau die Erscheinungen, deretwegen man den Kapitalismus ja abschaffen will. Zweitens: Eine strikte Dezentralisierung ist eine Unterschätzung von Machtpotenzialen kleiner, unstrukturierter Einheiten. Wenn ich mir vorstelle, eine Vollversammlung von z. B. 5 000 Leuten hätte eine völlige Verfügungsgewalt über meine Lebensbedingungen, verschafft mir das kein sichereres Gefühl als der Gedanke an einen gesellschaftlichen Gesamtplan. Drittens: Der Gedanke, gesellschaftliche Reproduktion funktioniere so dass der_die Einzelne vor seinem PC sitzt, To Do-Listen ins Internet stellt und sich da sich dann schon Leute finden, die das gemeinsam abarbeiten, ist eine völlige Unterschätzung von materiellen Prozessen in einer Gesellschaft und sich daraus ergebender Macht. Die Konsequenz aus dieser Einschätzung ist: Es gibt im Grundsatz keine vernünftige Alternative zu einer gesellschaftlichen Planung.
Wenn wir also Kapitalismus nicht hinnehmen wollen, und die genannten drei Richtungen von gesellschaftlicher Alternative schon im Konzeptstadium in sich zusammenbrechen und nicht konsistent sind, dann hat sich die Frage, ob man sich positiv auf den Kommunismus beziehen kann, recht schnell verwandelt in die Frage, ob und wie eine gesellschaftliche Planung möglich ist ohne Herrschaft, und das schließt ein ohne Geld. Ausgerichtet an Bedürfhissen, ausgerichtet an der größtmöglichen Bestimmung der Einzelnen über die Bedingungen ihres eigenen Lebens.
3. Ein zentraler Plan trägt Tendenzen zur Herrschaftsausbildung in sich.
Eine Tendenz zur Hierarchiebildung ist kooperativen Prozessen ohnehin eigen. Spezialisierung, Herausbildung von Expertenwissen etc. führt tendenziell dazu, dass einige scheinbar wichtiger sind als andere. Das kann jeder von euch sicher an seinen eigenen Organisationserfahrungen überprüfen. Betrachtet man die leninistische Tradition, wird einem schlecht, wenn man liest, wie wenig das als Gefahr eingeschätzt wurde von Leuten, die vor der Oktoberrevolution ja in vielen Fragen durchaus akzeptable Standpunkte vertreten haben. Das ist keine abstrakte, sozusagen demokratietheoretisch motivierte Kritik. Das würden jetzt Leute z.B. im Umkreis des Gegenstandpunkts einwenden, die sagen würden, dass es doch nur darauf ankommt, was entschieden wird – und Fragen von Beteiligung und Hierarchie gar keine Rolle spielen. Schaut man sich aber z.B. die Geschichte des Realsozialismus an, dann wird recht früh deutlich, dass die große Mehrheit dort so strikt von Informationen und Entscheidungsprozessen ferngehalten wurde, dass sie gar nicht in der Lage waren zu beurteilen, ob, jetzt mal gegenstandpunktlerisch gesprochen, da ihre Zwecke realisiert werden oder nicht, mal ganz abgesehen davon, dass sie zu Zeiten einer funktionsfähigen realsozialistischen Staatsgewalt kaum eine praktische politische Konsequenz hätten ziehen können, wären sie zu dem Ergebnis gekommen, dass da einiges faul ist. Es blieb das dumpfe Gefühl, dass diese Art von Sozialismus nicht für sie da ist, was dann am Ende schnell in Affirmation des Klassenfeindes umschlagen konnte. Diese Entgegensetzung von „Inhalt“ der Entscheidungen und der Frage, wer sie treffen darf, ist so also schon falsch.
Zumindest meine eigene Erfahrung ist, dass in linksradikalen Gruppen ganz deutlich die Tendenz zur Herausbildung informeller Strukturen gibt. Entscheidungsprozesse laufen dann häufig so ab, dass hinterher keiner mehr weiß, wie sie denn überhaupt zustande gekommen sind. Dass es an dieser Stelle nicht schon zu Herrschaft kommt, hat damit zu tun, dass wir so marginalisiert sind, dass – zumindest im Normalfall – die eigene politische Gruppe nichts mit den Bedingungen der eigenen Reproduktion zu tun hat. Das wäre ja bei einem gesellschaftlichen Gesamtplan eindeutig anders – und die Konsequenzen deshalb weit ungemütlicher als in der Feierabendantifa.
Wenn ich gesagt habe, dass meiner Einschätzung nach ein gesellschaftlicher Plan die Tendenz zur Herrschaftsbildung in sich trägt, dann argumentiere ich da nicht mit menschlicher Natur oder Ähnlichem, sondern schlicht damit, dass ich mir recht sicher bin, dass auch in einer kommunistischen Gesellschaft so etwas wie Interessengegensätze existieren werden. Andere als heute, aber es gibt keinen Grund, von naturwüchsiger Harmonie zwischen allen auszugehen.
Wenn das so ist, wir also erstens Kapitalismus abschaffen wollen, zweitens die einzig sinnvolle Grundlage für eine Alternativgesellschaft ein gesellschaftlicher Gesamtplan ist, aber drittens es auch nach Ende des Kapitalismus Interessensgegensätze geben wird und zwar nicht nur in einer Übergangsgesellschaft, sondern dauerhaft, dann resultiert daraus auch wieder etwas Problematisches. Nämlich, dass politische Institutionen – ich habe bisher hauptsächlich über Ökonomie geredet – für uns von Interesse sein sollten. Institutionen, die diese Interessensgegensätze vermitteln. Wenn man gleichzeitig, und dafür gibt es gute Gründe, von so etwas wie Staaten nicht viel hält, resultiert daraus die schwierige Frage, wie denn solche Institutionen möglich sein sollen ohne einen Staat zu haben. Oder andersherum gesagt, wie man Institutionen schaffen kann, die freie und gleiche Entscheidungsmöglichkeiten sicherstellen können, ohne so etwas wie staatliches Recht zu stiften.
4. Der Bezug auf den Kommunismus ist heute schon eine Frage der Praxis.
Ich habe eben schon, durchaus mit Absicht, auf unsere heutige Organisationspraxis hingewiesen. Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass es von Gruppen, die heute von informellen Strukturen und von Hierarchien geprägt sind, Gruppen, die teilweise eher erweiterte Freundeskreise darstellen, dass es von diesen Gruppen einen kontinuierlichen Weg gibt zu der Übernahme gesellschaftlicher Entscheidungsprozesse und Ressourcen, Aneignung von Produktionsmitteln, etc. – wie immer man es nennen will.
Eine gängige Haltung dazu ist, zu sagen: „Revolution steht doch heute nicht auf der Tagesordnung“ – was auch immer das sein soll… – deshalb könne man sich doch die Frage irgendwann mal stellen, wenn die Revolution denn auf der Tagesordnung stehe. Ich bin da sehr skeptisch, denn ich glaube nicht an Tagesordnungen und ich befürchte, dass in so einer Situation, in der wir nicht mehr so marginal sind wie heute, wir andere Probleme haben werden, als Konzepte zu diskutieren, wie man denn Entscheidungsprozesse vernünftig organisieren könnte. Dies hängt damit zusammen, dass dann natürlich Fragen ganz anderen Ausmaßes anstehen, und es hat auch damit zu tun, dass die momentan fast luxuriöse Position, dass wir mit staatlicher Repression in der Regel nur in Randbereichen unserer Arbeit zu tun haben, gerade mit dieser „Tagesordnung“ zusammenhängt.
Mit staatlicher Repression meine ich jetzt nicht Überwachung, sondern Repression der etwas härteren Gangart, die sich – selbst wenn wir nur doppelt so viele sind wie heute – mit Sicherheit radikal ändern wird. Die Frage, wie man denn überhaupt organisieren kann, ohne in Macht und Herrschaft abzugleiten, ist heute schon eine Praktische, weil sie gar nicht nur eine Erkenntnisfrage ist sondern wesentlich auf Grundlage von Erfahrungsprozessen beantwortet werden muss. Diese Prozesse bedürfen einer Einübung und es gibt überhaupt keinen gedanklichen Weg, sich vorzustellen, das könne in einer revolutionären Situation mal eben nachgeholt werden. Insofern glaube ich, dass die Organisationsfrage und die Frage, was der emanzipative Gehalt unserer heutigen Organisationsform ist, eine Frage darstellt, die von uns dringend diskutiert werden muss.
[Rüdiger Mats ist Autor und Lektor, promovierte über die Ökonomie des Realsozialismus und veröffentlicht regelmäßig zu linken Politikkonzepten und zur Idee, Organisierung und historischen Defensive des Kommunismus. Dieses Thesenpapier erschien zuerst im UG-Magazin 1/2012]