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Geschichten von Herrn Keiner: Kritik an Israel

9. Juli 2012

Die „Geschichten von Herrn Keiner“ von Ulrich Schulte gibt es ja schon eine Weile online (http://www.herrkeiner.com). Seit Kurzem auch als Buch, ich habe hier darauf hingewiesen. Das soll aber noch nicht alles gewesen sein, jedenfalls vom Autor, der weitere Geschichten nachgeschoben hat. Hier noch ein weiterer Beitrag zum ewigen Thema „Kritik an Israel“.

Kritik an Israel
Herr G., der befreundete Lehrer, kam zu Herrn Keiner, um mit diesem über die Reaktionen zu sprechen, die ein deutscher Dichter mit seiner Kritik an Israel ausgelöst hatte. Er sagte: „Das ist doch ein Unding! Da beteuert dieser Mann mit seiner Warnung vor einem Angriffskrieg gegen den Iran, dass er seine Kritik als guter Freund der Israelis verstanden wissen möchte, dass es ihm um die Erhaltung des Friedens in der Region gehe, doch das hilft ihm überhaupt nicht. Er wird postwendend des ‚Antisemitismus‘ bezichtigt, was soviel heißt wie: Mit den geäußerten Befürchtungen muss man sich erst gar nicht befassen, denn diese Kritik verdankt sich – so das vernichtende Urteil – einer rassistischen Feindschaft gegen das Volk der Israelis. Mit der Folge: Dieser Kritiker darf ab sofort das Land Israel nicht mehr betreten.”
”Ja”, sagte Herr K., „das ist eine üble Retourkutsche, und sie zeigt, dass hier, ohne auch nur eines der vorgebrachten Argumente zu prüfen und zu widerlegen, vom Standpunkt einer durch die gleiche Rasse verbundenen Volksgemeinschaft aus argumentiert wird, die auf ihren nationalen Zusammenhalt nichts kommen lässt. Negative Kritik kann daher nur ‚von außen‘ stammen, von solchen ‚Elementen‘, die als ‚Anti-Semiten‘ Feinde des israelischen Volkes sind. Deshalb reichte für diese Art Beweisführung schon der bloße Verweis auf die faschistische Vergangenheit des Dichters, um dessen Kritik an den Kriegsplänen Israels als Machwerk des Bösen zu denunzieren.
Doch zur richtigen Einordnung dieses Vorfalls”,so fuhr Herr Keiner fort, „möchte ich darauf hinweisen, dass der Staat Israel mit einer solchen Zurückweisung von Kritikern des Landes nicht alleine steht. Alle Staaten dieser Welt verstehen sich darauf, einer unliebsamen Kritik jedwede Berechtigung abzusprechen, und zwar mit der immer gleichen Argumentations-Logik, welche von der Selbstherrlichkeit der politischen Machthaber zeugt: Auch wenn sich die Bürger des eigenen Landes unangemessen kritisch äußern, sprechen diese nicht für sich selbst, sondern stehen im Dienst ‚volksfeindlicher Kräfte‘, deren ‚Hintermänner‘ immerzu in irgendeinem ‚feindlichen Ausland‘ verortet werden. So wurden zu Zeiten des Kalten Krieges radikale Kritiker im Westen als ‚5. Kolonne Moskaus‘, auf der Gegenseite – ganz spiegelbildlich – als ‚Agenten des CIA‘, also in beiden Fällen als Landesverräter dingfest gemacht.”
”Ihre Ausführungen leuchten mir ein”, sagte Herr G., „doch mir stellt sich die Frage: Sind diese haltlosen Argumente zur Bloßstellung unliebsamer Kritiker nicht allseits durchschaut? Und wenn ja, warum ist gerade im Falle Israels zu registrieren, dass sich jede Kritik an diesem Land nur sehr verhalten äußert, gerade so, als ob die Kritiker Angst davor hätten, als ‚antisemitisch’ geoutet und damit geistig in die Nähe der faschistischen Progrome gegen die Juden gerückt zu werden?”
”Diese Frage habe ich mir auch gestellt”, antwortete Herr K., „doch wenn man bedenkt, dass der Vorwurf des ‚Antisemitismus‘ dem gleichen geistigen Strickmuster folgt, wie auch in anderen Staaten mit störender Kritik verfahren wird – man denke nur an die Nachkriegs-Kampagne der USA gegen ‚antiamerikanische Umtriebe‘ – , so kann es keine Frage der Güte des Arguments sein, dass Israel mit dem Antisemitismus-Vorwurf so erfolgreich Politik macht. In Wahrheit kann sich das nur der Machtposition verdanken, die sich Israel im Nahen Osten erobert hat, und: Wie alle Welt weiß, ist das, was sich dieser Staat so alles an Freiheiten herausnimmt, nahezu uneingeschränkt von der mächtigsten Nation dieser Welt, den USA, gedeckt. So darf Israel wider jedes Recht fremdes Land besetzen, Atomanlagen in Staaten der Region zerstören, sich selbst mit Atomwaffen ausstatten – am Veto der USA sind noch alle Versuche anderer Staaten gescheitert, mit Hilfe der UNO diesem kriegsträchtigen Treiben Israels Einhalt zu gebieten.”
”Also liegt es dann auch wohl am Respekt vor diesen Machtverhältnissen, wenn die Kritik des Dichters in der deutschen Öffentlichkeit nur wenig Zuspruch fand.”
”Ja”, antwortete Herr K., „das sehe ich auch so. Moralisch wird die besondere Freundschaftsbeziehung zu Israel zwar immer mit der ‚Schuld der Vergangenheit‘ begründet, doch in Wahrheit wird in der Parteilichkeit der Medien für ihr Land nur das geistig nachvollzogen, was die Interessenslage der deutschen Außenpolitik vorgibt: Das Begehr, die Potenz der politischen Einflussnahme auf die Staaten des Nahen Ostens zu vergrößern, ist mit Aussicht auf Erfolg nur durch die enge Partnerschaft mit Israel zu realisieren. Und es liegt an eben dieser außenpolitischen Berechnung, dass jede Kritik, die Israel unnötig verärgert, in Deutschland völlig fehl am Platze ist.”

Kategorien(1) MG + GSP Tags:
  1. M.
    15. Juli 2012, 16:49 | #1

    Ein dämlicher Text mehr von Schulte. Allein die Bezeichnung der Israelis als „Rasse“ ist schon mehr als peinlich und ahnunglos.

  2. 15. Juli 2012, 19:57 | #2

    Wie dämlich muß man eigentlich sein, um wie M. hier mit einem Kleinkind-Verdikt wie „dämlich“ zu arbeiten??
    Auf jeden Fall kann bzw. eher wohl will M. den von ihm abgelehnten Text noch nicht mal richtig lesen: Das Wort „Rasse“ taucht dort nur in einem Satz auf: daß man hier sehen könne „dass hier, ohne auch nur eines der vor­ge­brach­ten Ar­gu­men­te zu prü­fen und zu wi­der­le­gen, vom Stand­punkt einer durch die glei­che Rasse ver­bun­de­nen Volks­ge­mein­schaft aus ar­gu­men­tiert wird.“ Wo wurden denn hier „die Bezeichnung der Israelis als „Rasse““ verwendet. Hier wurde ein rassistischer Standpunkt benannt und kritisiert. Nicht mehr aber eben auch nicht weniger.

  3. M.
    15. Juli 2012, 21:49 | #3

    Das Wort Rasse spielt auch aus israelischer Perspektive keine Rolle, da in offiziellen Texten (z.B. Unabhngigkeitserklärung) immer das Wort „Volk“ benutzt wird. Den Unterschied erklär ich dir jetzt aber nicht auch noch….
    Das „Kleinkind-Verdikt“ nehme ich zurück: der Text ist dümmlich und naiv, weil schon das ganze Projekt, Brecht neu zu schreiben, dümmlich und naiv ist. Wenn schon LIteratur, dann auch Literatur (haha, „Kleinkind-Tautologie“, hihi).

  4. Mattis
    16. Juli 2012, 22:07 | #4

    Jedenfalls ist die selbst-definierte göttliche Auserwähltheit der Juden doch streng genetisch abgeleitet, oder nicht? Ob die Begriffe nun Rasse oder Stamm oder Volk lauten, das ändert doch nichts an der durch die Juden selbst hervorgehobenen biologischen Fixierung ihres Anspruchs.

  5. M.
    18. Juli 2012, 10:59 | #5

    @Mattis: wenn sie „streng genetisch abgeleitet“ wäre, könnte man nicht zum Judentum konvertieren. das kann man aber. und selbst wenn man das nicht könnte, wäre die genetische „Strenge“ dadurch relativiert, dass nur die mütterliche Abstammung einen Menschen automatisch zum Juden oder zur Jüdin macht. das alles sind also keine strikt restriktiven Regelungen zur Reinhaltung einer „Rasse“. dieser Begriff ist einfach fehl am Platz.

  6. Apple
    18. Juli 2012, 14:56 | #6

    Bei Rassen geht es auch nicht immer um ihre geregelte Reinhaltung – das hast du jetzt einfach unterstellt – sondern um die Ableitung von Ansprüchen und Identitäten aus einer angeblichen biologischen Verbundenheit.

  7. Mattis
    18. Juli 2012, 21:13 | #7

    Apple hat es schon gesagt: wer hat was von Reinhaltung gesagt. Aber wenn die Abstammung nicht wesentlich wäre, bräuchte man ja auch auf die mütterliche Linie keinen Wert zu legen. Und das Konvertieren unterliegt strengen Maßstäben, das hat schon Ausnahmecharakter, und ohne Beschneidung gibts keine jüdische Spiritualität, wie die aktuelle Debatte hören lässt.
    Was Menschen sich alles so ausdenken.

  8. M.
    18. Juli 2012, 22:48 | #8

    Mit „Reinhaltung“ wollte ich auch nur betonen, dass man einer Rasse, im Unterschied zu einem Volk, nicht beitreten kann. Zu einer Rasse – sofern die Institutionen eben auf diese Kategorie abheben – kann man nicht konvertieren.

  9. paul
    19. Juli 2012, 16:06 | #9

    „“ ”Ihre Aus­füh­run­gen leuch­ten mir ein”, sagte Herr G „“
    … dieses ganze Werk ist doch eigentlich nur als Parodie zu lesen.
    Das lustige ist: Der gegenstandpünktliche Antisemit und der SS-Dichter wollen am Ende das Gleiche – endlich Schluss mit dieser „infiziert(en)… deutschen Nachkriegsmoral“ (Huisken).
    Das ist auch der entscheidene Hinweiß darauf, dass Antisemititsmus nicht grundsätzlich mit Nationalismus verwoben sein muss, das sich ein SS-Dichter und ein Marxist in manchen ekeligen Punkten (Gleichschaltung) durchaus einig sein können.

  10. Apple
    19. Juli 2012, 16:28 | #10

    Der Rasse tritt man ja auch nicht bei, sondern man tritt dem Volk – einer politischen Gemeinschaft – bei, wenn man der Rasse angehört. Dass es auch noch andere Möglichkeiten gibt, dem Volk beizutreten, ist damit nicht ausgeschlossen.

  11. 19. Juli 2012, 17:15 | #11

    paul, geh doch mit deinem Unfug zu generelle oder lyzis, dort finden eine ekligen Gleichsetzungen wahrscheinlich Gehör.

  12. Mattis
    19. Juli 2012, 20:55 | #12

    @paul
    Grass wurde als Jugendlicher, 16 Jahre alt, kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges zum Kriegsdienst in der Waffen-SS eingezogen. Klar, du an seiner Stelle hättest einen jugendlich-heldenhaften Widerstand hingelegt. Ausgerechnet du.
    Hier hast du dich jedenfalls mit einem einzigen Satz selbst demontiert. Reife Leistung.

  13. Mattis
    20. Juli 2012, 22:05 | #13

    Diesmal ein bißchen Stilkritik.
    Wenn die Keiner-Geschichten wie fleißig umgeschriebene Artikel daherkommen, liest es sich mühsam, und man spürt stark die pädagogisch-didaktische Absicht. Insbesondere dann, wenn der Frager wie in diesem Falle quasi vorbereitender Stichwortgeber ist, so wie bei einem zahmen Interview. Ich denke, solche Geschichtchen leben von der kurzen Konfrontation, mit einer Zuspitzung, einer Art Pointe, die auch gar nicht unbedingt aufgelöst werden muss. Das ist schwer, zugegeben.

  14. paul
    21. Juli 2012, 12:06 | #14

    „Klar, du an seiner Stelle hättest einen jugendlich-heldenhaften Widerstand hingelegt. Ausgerechnet du.“
    Das ist die übliche Rechtfertigunglinie rechtsgesinnter Stammtische ala „Damals konnte man ja gar nicht anders“ oder „darüber können wir uns ja kein Urteil erlauben“. Und wieso überhaupt „Ausgerechnet Du“?! So eine unverschämte Psycho-Tour
    würde sich nicht mal Grass erlauben.
    Desweiteren wurde Grass nicht hilflos eingezogen, sondern der wollte den Untergang des 3. Reiches aktiv mit aufhalten. Schreib die Biographie also nicht noch märchenhafter als es der Dichter selbst schon tut.
    Sich mit dem Offensichtlichen nicht Beffassen zu wollen – das Grass sein Gedicht nichts anderes als deutsche Schuld- und Vergangenheitsbewältigung (und das in offensichtlich eigener Sache) ist – diesen zentralen Sachverhalt, diese grundlegende Motivation des Dichters auszublenden kann man nur als Einverständis deuten.
    Im Übrigen wird der Begriff des Antisemitismus beim GSP scheinbar nur (noch?) als ein ‚gemeines‘ Herrschaftmittel, als ein inhaltloser Vorwurf verstanden um eine iregendwie „richtige“ Kritik „mundtot“ zu machen. Damit ist man tatsächlich auf dem Niveau von deutschen Stammtischen und rechter Querfront angekommen.

  15. Pirlo
    21. Juli 2012, 15:36 | #15

    Kleiner Exkurs zum „Antisemitismus“
    Im Nachhinein kann natürlich kein Mensch verstehen, weshalb Hitler ausgerechnet gegen die Juden so gewütet hat, wo die doch in Wirklichkeit lauter normale bis hochanständige Zeitgenossen gewesen sind, zumindest nicht schlechter als ihre von Hitler bevorzugten Nachbarn. Man sollte bei der richtigen Seite dieser Verwunderung bleiben und festhalten, daß an den Juden selber wirklich nichts dran war oder ist, was sie zu Opfern der faschistischen Sortierungs- und Säuberungswut prädestiniert hätte. Hitlers Judenhaß hatte seinen Grund definitiv nicht in ihnen, sondern in seiner Idee des Bösen, das er ihnen nachgesagt hat: Er hat die Existenz eines inneren Feindes im eigenen Volk postuliert; unter dieser Prämisse hat er sein Volk ideell durchgemustert; dabei sind ihm die paar Besonderheiten, die leicht abweichenden Sitten und Spinnereien, die die jüdische Gemeinde in Deutschland teils gepflegt, teils sogar eher abgelehnt hat und um deren Differenz zu anderen, etwa christlichen Kulten der Auserwähltheit man wirklich kein Aufhebens machen sollte, zu Indizien geraten: zu Hinweisen auf eine „fremdvölkische“ Eigenart, die ihm für die Ermittlung des feindlichen „Volkes im Volke“ enorm passend erschienen. Weshalb er mit dieser Ermittlungsmethode soviele Gesinnungsgenossen und Anhänger fand, ist damit auch geklärt: Der vom eindeutigen Fahndungsauftrag gelenkte völkische Blick war so populär wie der patriotische Wunsch nach einem starken Deutschland.
    Leider macht sich der fassungslose Rückblick in der Regel den eigenen Befund zum Rätsel. Statt sich klarzumachen, was Hitler den Juden Böses nachgesagt hat und was daraus logischerweise alles folgt, fragt man sich, warum er es ausgerechnet denen — lauter „unschuldigen Menschen“ — nachgesagt hat; als hätte er bei anderen „Volksfeinden“ möglicherweise richtiger gelegen und als wollte man ihm bloß den Vorwurf machen, er hätte die Falschen erwischt; tatsächlich erspart sich diese Fragestellung jede Kritik an der Rolle, die die Nazis den Juden angedichtet haben. Die Gründe für Hitlers Judenhass werden stattdessen in den paar jüdischen Abweichungen vom abendländischen Durchschnitt vermutet, die fürs normale bürgerliche Leben eigentlich völlig unerheblich sind; die deswegen einem normalen Menschen auch erst überhaupt auffallen, wenn er unter ganz anderen, höheren Gesichtspunkten darauf aufmerksam gemacht wird, nämlich unter dem Aspekt, dass sich unter „scheinbar“ harmlosen Abweichungen vom Normalen eine Absage an die Norm verbergen dürfte. Tatsächlich haben solche „Extravaganzen“ nie und nimmer auch nur das Geringste von jener staatsmoralischen Qualität an sich, die der Judenhass ihnen beilegt; dessen Gründe sind dort also ein für allemal nicht zu entdecken.
    Doch leider ficht das die methodische Vorentscheidung, sie genau dort zu suchen, nicht an. Die verkehrte Recherche verfügt sogar über ein Beweismittel: Schon in alten Zeiten und fernen Gegenden waren Juden unbeliebt; die verschiedensten Bevölkerungsgruppen und Instanzen, von den mittelalterlichen Fürsten bis zu den galizischen Kleinstädtern, von der spanischen Inquisition über Luther bis zu den „Untertanen“ des preußischen Kaiserreichs, sind über sie hergefallen; muss dann nicht am Verhältnis der Verfolger zu diesen Opfern etwas Spezielles dran sein? Lassen wir beiseite, dass diese antirassistisch gemeinte „Schlussfolgerung“ die Logik des Rassismus genau reproduziert: Sie ist verkehrt. Die Judenfeinde aus den verschiedenen Jahrhunderten werden schon jeweils ihre Gründe gehabt haben, mit sittlich-moralischem Ingrimm nach Abweichlern Ausschau zu halten und dem fremden Dialekt, der seltsamen Tracht und der andersartigen Gottesdienstordnung die Bedeutung von Symptomen einer grundsätzlich widrigen Gesinnung zuzuschreiben — insoweit hat der Juden- und überhaupt jeder Minderheitenhass noch nie anders funktioniert als bei Hitler. Man muss schon immer wieder denselben Fehler machen und in der langen Geschichte der antijüdischen Pogrome und Autodáfes, statt die wildgewordene Moral und deren Militanz zu erklären, alles auf den Befund zuspitzen, dass es dauernd die Juden getroffen hat: Erst dann belegt die ewige „Leidensgeschichte des jüdischen Volkes“ nicht mehr die brutalen Ausgrenzungsleistungen einer Moral, die auf bedingungsloser Geschlossenheit der „Gemeinschaft“ besteht, sondern ein sich durchhaltendes Spezialverhältnis der Verfolger zu ausgerechnet diesen Opfern. Erst dieser Fehlschluss setzt das Rätsel des „Antisemitismus“ in die Welt.
    Bitte, jetzt nicht gleich innerlich aufschreien: „Ja wollt ihr denn leugnen, dass immerzu Nicht-Juden Juden abgeschlachtet haben?“ Hier wird gar nichts geleugnet, sondern erklärt, welcher Fahndungsstandpunkt die Juden so häufig zu Opfern gemacht hat. Es wird auch nicht rückblickend „empfohlen“, die Juden hätten sich besser rechtzeitig vollständig anpassen sollen — an was denn schon, was irgendwie besser gewesen wäre als ihr eigener Spleen mit der Auserwähltheit; und wozu denn: um selber öfter auf der richtigen Seite gewesen zu sein? —, sondern es wird auf den Wahn der Verfolgermannschaften aufmerksam gemacht, der sich über Unterschiede der denkbar belanglosesten Art mit der denkbar schärfsten moralischen Unterscheidungswut hermacht. Diese ist der ganze Fehler. Das Stichwort „Antisemitismus“ taugt bestenfalls als Rubrik für eine Statistik, die nachzählt, wie oft der abendländische Volkszorn mit seinem furchtbaren Ideal einer eingeschworenen Volksgemeinschaft die Juden in die Rolle des auszugrenzenden Fremdvolks bugsiert hat.
    Dass diese Rubrik so enorm lang ist und bis in die Gegenwart reicht, belegt zusätzlich nur, wie stereotyp der Gemeinschaftsgeist zu Werke geht, wie gebetsmühlenartig ihm die Wahnsinnstaten früherer Generationen als ganz guter Ratschlag für die Konstruktion gegenwärtiger Feindbilder einfallen, wieviel Borniertheit also unterwegs ist, wenn ein kollektiver Fehler sich seine Tradition schafft. Dass irgendetwas früher auch schon so war: Diese großartige Entdeckung beweist nur einem nach sittlicher Orientierung suchenden Kopf, dass es so auch bleiben sollte; der übernimmt freilich gern die Geschmacksverirrungen, Übersetzungsfehler, Feindbilder und sonstigen Geistesblitze seiner Vorfahren als weltanschaulichen Besitzstand. Man sollte sich hüten, diesen Akt geistiger Unterwerfung theoretisch zu reproduzieren und für eine gelungene Erklärung der Tatsache zu halten, dass den gesitteten Abendländern immer und immer wieder die Notwendigkeit eingeleuchtet hat, ihr — sei es christliches, sei es völkisches — Gemeinwesen von inneren Feinden zu säubern, und dass ihnen zu deren Identifizierung die Unterschiede beim Tischgebet schon ganz gute Dienste geleistet haben.
    Quelle:
    Konrad Hecker: Der Faschismus und seine demokratische Bewältigung (München 1996), S. 138-140

  16. Pirlo
    21. Juli 2012, 15:40 | #16

    Das Inhaltsverzeichnis des Hecker-Buchs.

  17. Pirlo
    21. Juli 2012, 16:13 | #17

    Nachtrag @ Neoprene
    Zu meinem nicht geringen Erstaunen findet sich dieser doch schon grundsätzliche Text nicht in deinem Download-Archiv!? 🙁

  18. 21. Juli 2012, 16:44 | #18

    Pirlo, es freut mich zwar, daß du mir zubilligst, „schon grundsätzliche Texte“ (auch) hier vorzuhalten, ich bin ja ein großer Fan von kommunistischer Redundanz, aber den Anspruch, sozusagen hier eine Komplettbibliothek für die vollentfaltete sozialistische Persönlichkeit anzubieten, den sollte man so einem Personen- und nicht Organisationsblog nicht entgegenhalten. Ich tue das aber gerne auch zu meinen Downloads.

  19. Mattis
    21. Juli 2012, 18:47 | #19

    @paul
    „Das ist die übliche Rechtfertigunglinie rechtsgesinnter Stammtische …“
    Nur weil ich deine Hau-drauf-Propagandasprache („SS-Dichter“) nicht durchgehen ließ?
    Ja klar, wer Grass nicht beschimpft und nichts davon hält, sich der ferneren Vergangenheit eines Menschen demagogisch zu bedienen, kann nur „rechts“ sein und auf dem Niveau der „Stammtische“.
    „Sich mit dem Offensichtlichen nicht Beffassen zu wollen – das Grass sein Gedicht nichts anderes als deutsche Schuld- und Vergangenheitsbewältigung (und das in offensichtlich eigener Sache) ist – diesen zentralen Sachverhalt, diese grundlegende Motivation des Dichters auszublenden kann man nur als Einverständis deuten.“
    Was für eine „Motivation“ den treibt, und ob das womöglich „in eigener Sache“ läuft (was anscheinend der Hauptvorwurf ist) – interessiert mich nicht. Ich schau mir allenfalls an, was der hier und heute von sich gibt, und da fand ich die Reaktionen auf ihn nun wirklich bemerkenswerter und entlarvender als seine komischen „Verse“.
    Im übrigen frage ich mich, ob es für dich überhaupt noch jemanden außer deinesgleichen gibt, der nicht „auf dem Niveau von deutschen Stammtischen und rechter Querfront angekommen“ ist.
    „Der gegenstandpünktliche Antisemit und der SS-Dichter wollen am Ende das Gleiche – endlich Schluss mit dieser „infiziert(en)… deutschen Nachkriegsmoral“ (Huisken).“
    Ich weiß nicht, ob der Dichter und der Huisken damit richtig charakterisiert sind – aber ich lese daraus, dass du offenbar ein treuer Verfechter dieser deutschen Nachkriegsmoral sein möchtest. Nur – warum?

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