Die Thesen von Peter Decker vom GegenStandpunkt für die Podiumsdikussion mit Michael Heinrich am 25.04.2012 in Bielefeld, die es auf der Webseite des Veranstalter als PDF gibt, hier nochmal in HTML umgewandelt:
Thesen zu den Charaktermasken des Kapitals, den sozialen Klassen – und was für antikapitalistische Politik daraus folgt
1. Die Klassen
a) Wie die Klassen erscheinen, weiß jedes Kind: Nämlich als eine gespaltene Gesellschaft, aufgeteilt in eine extrem reiche Minderheit, eine größere Minderheit extrem armer Bürger und dazwischen eine stufenlose Hierarchie von Einkommen, Konsumniveau, Existenz(un-)sicherheit, Gesundheit, Kultur und sogar Lebensspannen. Dazu braucht man keinen Marx. Diese Fakten beklagen von ihrem Blickwinkel aus auch Kirchen, Gewerkschaften, politische Parteien.
b) Wer von Klassen redet, sagt mehr als die Soziologenphrase von der sozialen Ungleichheit. Er benennt den Grund für die ungleiche Verteilung der Glücksgüter: Mit der Stellung zum Eigentum an den Produktionsmitteln, – ob nämlich einer sie besitzt oder ob er nur sich selbst als Eigentum besitzt, – sind das Erwerbsleben und die Resultate der individuellen Anstrengungen vorentschieden und im Durchschnitt nicht mehr entscheidend veränderbar. Der Besitz „ökonomisch relevanten Eigentums” (Heinrich) erlaubt seinem Besitzer den Arbeits- und Lebensprozess der Gesellschaft als Instrument der eigenen Bereicherung auszubeuten: Nur er hat die Mittel, Arbeit zu organisieren, Produktion zu unternehmen und die für sich hilflose Arbeitswilligkeit der eigentumslosen Masse wirksam werden zu lassen – natürlich unter der Bedingung, dass der Prozess sein Eigentum vermehrt. Die exklusive Verfügung einiger über die Instrumente des materiellen Reichtums legt umgekehrt die große Masse der Bürger darauf fest, Diener am Wachstum fremden Eigentums zu sein und eigenes Einkommen nur erzielen und aufbessern zu können, indem sie den Vermögens-Zuwachs der anderen Seite vergrößert. Die Besitzer der Ware Arbeitskraft können sich aus dieser Lage durch Arbeit nicht befreien. Deshalb ist das Etikett „Klassengesellschaft” eine fundamentale Kritik: Es charakterisiert ein System, das die Vielen auf den Dienst am Wachstum eines fremden Reichtums festlegt, von dem sie nichts haben; ein System, das ferner alle sonstigen Schichten und sozialen Rollen, die nicht Kapitaleigentümer oder Lohnarbeiter sind, diesem die Gesellschaft beherrschenden Gegensatz zuordnen.
c) Die Betroffenen sehen ihre Lage anders. Weil sie nicht per Geburt in einer Kaste oder einem Stand eingesperrt sind, sondern frei mit ihrem Eigentum um ökonomischen Erfolg konkurrieren dürfen, wollen sie auch nichts davon wissen, dass eine durch Eigentumslosigkeit definierte Klassenlage ihr Leben weitgehend vorherbestimmt. Dass es ihnen um sich gehen darf, dass sie von niemandem gezwungen werden, Arbeitsverhältnisse einzugehen, als von ihrem Erwerbsinteresse bzw. ihrer Geldnot, das legitimiert in ihren Augen die Resultate ihres Strebens als Produkte ihrer Leistung: Konkurrenz erzeugt Gerechtigkeit! Ausnahmen – vom Tellerwäscher zum Millionär -beweisen, dass es geht; dass es also bei der Klassenlage nicht darauf ankommt, was sie ist, sondern was einer daraus macht. Die Konkurrenz, zu der sie berechtigt und willens sind, verdeckt ihnen, dass eben diese Konkurrenz freier und gleicher Bürger dem Inhalt nach ein einseitiges Dienstverhältnis vermittelt zwischen einer herrschenden Klasse, die sich die Früchte der gesellschaftlichen Arbeit aneignet und einer dienenden Klasse, die dauerhaft in Existenzunsicherheit und relativer oder absoluter Armut lebt.
d) Da gibt es für die kapitalismus-kritische Linke also etwas zu tun: Die Kritik des falschen Bewusstseins der Opfer des Systems. Denn wenn sie ihre Klassenlage sehen würden, wie sie ist, würden sie sich die nicht gefallen lassen. Sie kennen sich als „Wir da unten, ihr da oben”, halten sich für „sozial schwach”, schwanken zwischen Selbstzweifeln, weil sie es „nicht weit bringen” und durchsichtigem Größenwahn. Aber eines wissen und billigen sie nicht: Dass sie die Deppen des Laden und auf der Welt sind, um zu arbeiten und andere reich zu machen, und dass sie sie Macht, sie auszunutzen, durch ihre Dienste auch noch selbst herstellen.
2. System – Charaktermaske – Mensch
a) Wenn man mit Marx vom Kapital als einem „automatischen Subjekt” spricht und von den Menschen als Charaktermasken und Personifikationen des Kapitals, formuliert man zunächst einmal ein Rätsel, das aufgelöst werden muss. Die Akteure sind nämlich keine Marionetten, sondern selbstbewusste Menschen, die ihre Interessen haben und wissen und Mittel einsetzen, um sie zu realisieren. Man muss erklären, wie es dazu kommt, dass sie die Gesetze des Kapitals exekutieren, die sie gar nicht kennen; und dass sie durch Betätigung ihrer bewussten Interessen ökonomische Sachzwänge in die Welt setzen, an denen manche scheitern.
Die erste Quelle der „subjektlosen” Macht des Kapitals und seiner Sachzwänge ist die gar nicht subjektlose Macht des Staates. Verfassungsgemäß etabliert und garantiert die politische Gewalt das Privateigentum, ein Recht auf ausschließendes Verfügen über bearbeitete und unbearbeitete Natur wie über eigene Arbeit. Das private Verfügen erstreckt sich auf Mittel der Konsumtion, die jeder braucht, wie auf die Mittel der Produktion, die erst recht jeder braucht. Die Staatsgewalt setzt vor alles Benutzen das eigentumsrechtliche Besitzen und definiert dadurch, was in dieser Gesellschaft Reichtum ist: Nicht nämlich ein Haufen von nützlichen Dingen, sondern die im Geld quantifizierte Verfügungs- und Zugriffsmacht auf sie. Und sie macht diese gesellschaftliche Zugriffsmacht – ein Rechts-, also ein Gewaltverhältnis – zum ökonomischen Hebel, zur Quelle von neuem Reichtum: Zugang zu dem, was einer besitzt, gewährt er anderen, die es brauchen, nämlich nur, wenn die ihm dafür einen Gegenwert liefern oder Dienst leisten, dessen Größe sich aus dem Grad ihrer Angewiesenheit auf das Eigentum des anderen ergibt. Nur unter der politischen Gewalt des Eigentums werden Arbeitsmittel zu Instrumenten der Aneignung fremder Arbeitsleistung, nur unter dieser Bedingung verwandeln sich die Lebensbedürfnisse der Habenichtse für sie zum Zwang, sich fremden Geldinteressen dienstbar zu machen.
b) Auf Basis des politischen Zwangs zum Verkehr als Privateigentümer zwingen die Akteure einander die Logik und die Konsequenzen ihrer Erwerbsquellen dadurch auf, dass sie sie in Konkurrenz zu einander betätigen: Anbieter der gleichen Warenart konkurrieren um dieselben Nachfrager und bekommen von der Gesamtheit der Anbieter und Nachfrager, „dem Markt”, mitgeteilt, was ihr Angebot wert ist. Die Rückwirkung des eigenen Interesses auf den kapitalistischen Akteur, dadurch, dass andere dasselbe Interesse verfolgen, bringt dabei weder neue oder noch andere Zwecke in die Welt, als in den Erwerbsquellen, die die Akteure betätigen, selbst schon stecken. Mit dem Zweck der Geldvermehrung durch Einsatz seines Eigentums tritt der Kapitalist, mit dem Zweck des Geldverdienens durch Arbeit tritt der Arbeiter schon in die Konkurrenz ein, weil andere mit denselben Interessen ihm aber den Markt, die Arbeitskräfte, den Arbeitsplatz streitig machen, zwingen sie einander, nicht den Zweck, aber die Messlatte des Erfolgs ihrer Zweckverfolgung auf und machen dadurch die „inner tendencies” des Kapitals (bzw. der Lohnarbeit) zu äußeren, jedem Akteur gegenüber verobjektivierten Gesetzen. [Marx, Grundrisse, MEW 42, S. 550f, 558f, 644] Jedem einzelnen treten so die Erfolgsbedingungen seines kapitalistischen Interesses und die Mittel, die er dafür ergreifen muss, als äußere Fakten und Sachzwänge gegenüber, denen er genügen muss, um Erfolg zu haben.
Der Unternehmer z.B. will durch Einsatz eines Kapitalvorschusses einen Überschuss erzielen, eine Gelddifferenz – und zwar eine möglichst große. Dieser Zweck ist weit hinaus über den bescheidenen Gesichtspunkt von Bedürfnis und Lebensunterhalt. Der Bedarf nach Geld ist – anders als der nach allen anderen Gütern – per se maßlos; und der nach Geldquellen ist es erst recht. Was der Kapitalist will, ist Wert und Wertsteigerung. Was er nicht kennt und nicht will, ist das Wertgesetz, das er und seinesgleichen durch ihre allseitige Aktion erzeugen und dem sie unterliegen.
Die Konkurrenz zwingt die Wirtschaftssubjekte nur zu den Konsequenzen, die in ihren ökonomischen Mitteln schon eingeschlossen sind – und das heißt für die gegensätzlichen Klassen Gegensätzliches: Sie zwingt die Kapitalisten zum Einsatz der Mittel ihres Zwecks: Um den angestrebten Überschuss über ihre Kosten zu erzielen, müssen sie die Kosten ihrer menschlichen und sachlichen Produktionsfaktoren senken und die einmal bezahlten Faktoren möglichst ausgiebig nutzen. Sie müssen gar nichts wissen vom Unterschied zwischen dem lebendigen Arbeitsvermögen und den technischen Anlagen: Sie machen automatisch das für sie Richtige, wenn sie beide billigst einkaufen und intensiv nutzen. Sie haben Mittel ihres Erfolg, die Konkurrenz zwingt sie, sie auf dem gesellschaftlich gültigen Niveau einzusetzen.
Für Arbeitskräfte sieht die Sache anders aus: Sie sind selbst die Mittel ihres Erfolgs; auch sie zwingt die Konkurrenz zur Kostensenkung. Nur sind sie selbst diese Kosten: Sie müssen sich billiger anbieten, länger arbeiten, sich mit Fähigkeit und Willigkeit dem Kapital nützlicher machen als der Mitbewerber um den Arbeitsplatz. Den Kapitalisten zwingt die Konkurrenz zum effizienten Einsatz seiner Mittel, um seinen Geldmaterialismus zu befriedigen, den Lohnarbeiter zum Verzicht auf seinen Materialismus.
3. Klassenbewusstsein und Klassenkampf, wie es sie gibt – und wie wir sie brauchen.
a) Kapitalismuskritik wendet sich an die lohnabhängige Mehrheit. Denn erstens bleibt im diesem System deren Materialismus auf der Strecke, während die reiche Minderheit ihren Materialismus als Abfallprodukt der Kapital-Akkumulation außerordentlich gut bedient sieht. Die Lohnabhängigen haben also guten Grund, den ruinösen Dienst am Kapital abzuschütteln. Zweitens haben auch nur sie die Macht dazu: Mit ihrer Arbeit reproduzieren und vergrößern sie beständig die Macht des Kapitals über sich. Die endgültige Verweigerung ihres Dienstes entzieht dem Kapital die Macht über die Gesellschaft und dem Staat die Mittel ihrer gewaltsamen Sicherung.
b) Dabei ist es nicht so, dass es kein Klassenbewusstsein gäbe – nur was für eines! Der Gegensatz von Lohn und Profit ist kein Geheimnis. In den Gewerkschaften ist das Bewusstsein organisiert, dass der Arbeiter nur einerseits als freier Eigentümer seiner Einkommensquelle für sich sorgen und um seinem Vorteil konkurrieren kann. Damit seine Arbeit als Einkommensquelle überhaupt funktioniert, braucht er auch das Gegenteil, die Aufhebung der Konkurrenz, den Zusammenschluss mit seinesgleichen: Nur kollektiv kann er der beherrschenden wirtschaftlichen Macht, den Kapitaleignern, als Verhandlungspartner gegenüber treten und steht nicht gleich als hilfloser Bittsteller da. Freiwillig – soviel Einsicht steckt in diesem Zusammenschluss – zahlt die andere Seite gar nichts.
c) Das Bewusstsein des Gegensatzes wird allerdings ergänzt durch sein Gegenteil: Genau die Profitgeier, die ihm nichts gönnen, braucht der Lohnarbeiter in der Rolle der Arbeitgeber: Nur sie können mit seiner Arbeitsbereitschaft etwas anfangen und ihm einen Lohn zahlen. Die widersprüchliche Stellung führt dazu, dass die Lohnabhängigen den Gegensatz der Interessen von vornherein nur unter dem Gesichtspunkt der angestrebten Versöhnung zur Kenntnis nehmen. Sie treten den Interessen der anderen Seite nicht ebenbürtig mit den eigenen Interessen entgegen, sondern mit einem Antrag auf Kompromiss, der doch möglich sein sollte, weil sie das Recht der Kapitalisten auf Profit ja nicht bestreiten. Sie pflegen eine „personalisierende Kapitalistenkritik”: Nicht in dieser Klasse und ihrem objektiven Interesse sehen sie ihren Gegner, sondern im einzelnen „raffgierigen Egoisten”, der nach „Maximalprofit” statt Normal-Profit strebt, dem es „nur um Profit und nicht um die Menschen geht”; eben in dem schlechten Menschen, der den Kompromiss verweigert, den er sich doch leicht leisten könnte.
d) Was es braucht und was fehlt, ist die moralfreie Einsicht, dass das Kapital und seine Agenten sich nicht eine Versündigung an einer eingebildeten Gemeinsamkeit und auch keinen Verrat an einer sozialen Verantwortung zu schulden kommen lassen, sondern dass ihr Interesse eben das Allgemeininteresse dieser Gesellschaft ist, von dem alle anderen Interessen abhängen, dem sie alle nachgeordnet sind. Kapitalisten erfüllen ihre soziale Pflicht, wenn sie ihren Profit mehren, denn Volks- und Gemeinwohl, soziale Verantwortung etc. haben zur Voraussetzung, dass die Mittel dafür erst einmal – kapitalistisch natürlich – erwirtschaftet sein müssen. Die Arbeiterschaft hat zu erkennen, dass die ganze Ordnung ein zum System gewordenes feindliches Interesse gegen sie und dass ihre eigene Erwerbsquelle kein Besitzstand ist, sondern nichts als die freiheitliche Form der Dienstbarkeit für fremde Zwecke.