Ich bin erst jetzt (durch meine referer-Liste) auf einen Beitrag von libelle zur Diskussion um das Verhältnis von Staat und Volk gestoßen.
Hegelianismus heute
“Hegel ist nicht zu tadeln, weil er das Wesen des modernen Staates schildert, wie es ist, sondern weil er das, was ist für das Wesen des Staats ausgibt.” Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, MEW 1, S.266
Den gleichen Vorwurf muss man den Freunden des GegenStandpunkt bezüglich des Verhältnisses zwischen Staat und Volk machen: Das Wesen des Verhältnisses zwischen Staat und Volk, wie es ist, nämlich dass Volksangehörigkeit eine praktische Rechtsfrage und damit eine Entscheidung des Staates ist, machen sie zum Wesen des Verhältnisses zwischen Staat und Volk überhaupt, also seinem Begriff.
Folgerichtig schreibt der GegenStandpunkt seinen Begriff vom Volk auch gleich aus dem Gesetzbuch ab:
“Volk: das ist, folgt man der praktisch verbindlichen Festlegung moderner Gesetzgeber, nichts weiter als die Gesamtheit der Bewohner eines Landes, die die zuständige Staatsmacht zu ihren Angehörigen erklärt. Diese bilden – ungeachtet ihrer natürlichen wie gesellschaftlichen Unterschiede und Gegensätze – ein politisches Kollektiv, indem sie derselben Staatsgewalt untergeordnet sind.”
GegenStandpunkt 01/06 S.87
Wie bei Hegel werden also die gewaltsamen Setzungen des Staates als der sich wissende und wollende Geist aufgefasst: Dass der Staat das Volk im Recht setzt soll auch schon der Begriff des Volkes sein. Der Staat wird aufgefasst wie ein Gefangenenlager. Das Problem dabei ist nur, dass die Vorstellung des Gefangenenlagers eben eine äußere, von den Gefangenen unabhängige Gewalt unterstellt, die die Gefangenen in das Lager sperrt. Im Fall des Volkes ist es aber so, dass es sich selbst in das Lager sperrt, oder aber man nimmt die Verrücktheit einer äußeren Gewalt gegen das Volk an, die wie im Gefangenenlager unabhängig vom Volk wäre. Spinnt man diese Verrücktheit fort, ergibt sich, dass man gegen die eigene Gefangenschaft nichts unternehmen kann, der Versuch die gesellschaftlichen Verhältnisse zu ändern also völlig sinnlos wäre, da Gefangenenrevolten eben einfach von der äußeren Gewalt, der Lageraufsicht zusammengeschossen werden.
Dass es sich bei dieser Verwechslung von Recht und Begriff um Irrsinn handelt merkt man schon daran, dass der Staat sich aus dem Volk rekrutiert und sämtliche Mittel daraus bezieht. Angewendet auf das Bild vom Gefangenenlager ergibt sich, dass die Gefangenen aus ihrer Mitte ihre Aufseher bestimmen, die Waffen herstellen, die es braucht um sie in Schach zu halten, die Wärter versorgen, ihren Arbeitsdienst beschließen und dass sie in periodisch stattfindenden Willenskundgebungen “Ja” zu ihrem Gefangenenlager sagen usw… Das macht man mit dem Status “Gefangener” oder “Zwangsarbeiter” nicht, oder nur unter dem Druck einer äußeren, überlegenen Gewalt.
Die Herstellung des Zusammenhangs unter den Volksangehörigen kann deshalb keine Leistung einer Gewalt sein! Als rein negativer Bezug einer Herrschaft auf die Untertanen kommt dieses Verhältnis nicht zustande, sondern es braucht ein gemeinsames Interesse der Volksangehörigen, das sie unabhängig von der Gewalt zusammenschließt und dessen Ergebnis ihre Unterwerfung unter eine Herrschaft ist.
Dieses Interesse kann beim Volk, also einer Gruppe von Menschen, die irgendwo hausen und sich reproduzieren, nur im Verhältnis bestehen, das man zu anderen Menschen einnimmt: Man schließt sie von sich selbst und den Grundlagen der eignen Reproduktion aus. Dieser Ausschluss ist ein Gewaltverhältnis, in das man zum ausgeschlossenen Rest der Menschheit tritt und das Voraussetzung der Verfolgung der Interessen der Volksangehörigen ist und dem gerade entstandenen Volk die Notwendigkeit beschert seinen Exklusivitätsanspruch bzgl. der Verfügung über- und des Zugriffs auf Reichtumsquellen gegen andere zu behaupten. Diesem Zweck müssen die Sonderinteressen der Volksangehörigen untergeordnet werden, da die Durchsetzung des Volkes – d.h. der exklusive, ausschließende Zugriff auf Reichtumsquellen – Bedingung sämtlicher ökonomischer Interessen der Gesellschaft ist. Das macht eine Herrschaft notwendig, die diesen Konkurrenzzweck getrennt von der Gesellschaft ihr aufherrscht und die auch im Recht setzt, wer zum Volk gehört und wer nicht, da sie ja das Subjekt dieses Zwecks ist. Die Setzung der Volksangehörigkeit im Recht ist also alles andere als der Begriff des Volkes. Da die Herrschaft die Einrichtung ist, die die Konkurrenz mit anderen Nationen organisiert und der Gesellschaft aufherrscht (Reichtum dafür in Beschlag nimmt, das Militär organisiert etc…), bezieht sie sich auf die Gesellschaft, also das Volk selbst als Mittel.
Bemerkungen zum Marx-Zitat am Ende der Diskussion bei MPunkt
Wenn die Herrschaft sich so – als verselbständigte Gewalt zu einem Mittel – auf das Volk bezieht, dann ist es nicht notwendig, dass das Volk sich selbst zum Agenten des Staatsinteresses macht und das Staatsinteresse bewusst, als dieses Projekt sich exklusiven Zugriff auf Reichtumsquellen zu verschaffen fasst, sondern es reicht, dass ein Interesse am Staat gefasst wird. Es reicht für die Queen, oder “die Deutschen” zu sein, um sich als Volksangehöriger in diesem Verhältnis zu bewähren. Weil die Herrschaft eine verselbständigte Gewalt ist, ist letzteres sogar das notwendige Verhältnis: Die Herrschaft herrscht und das Volk stimmt zu. Praktisch wird die Dienstpflicht dann von der Herrschaft organisiert. Marx drückt diese Gedanken so aus:
Der konstitutionelle Staat ist der Staat, in dem das Staatsinteresse als wirkliches Interesse des Volkes nur formell, aber als eine bestimmte Form neben dem wirklichen Staat vorhanden ist; das Staatsinteresse hat hier formell wieder Wirklichkeit erhalten als Volksinteresse, aber es soll auch nur diese formelle Wirklichkeit haben. Es ist zu einer Formalität, zu dem haut goût |der Würze| des Volkslebens geworden, eine Zeremonie.
(MEW 1, 268)
In der Verwirklichung dieses Verhältnisses kommt es nicht mehr darauf an, was der einzelne Volksangehörige denkt, wie er sein Interesse am Staat fasst.
Dass von den Sonderinteressen der Gesellschaft abstrahiert wird, drückt Marx so aus (im ständischen Element sind ja gerade die Privatinteressen lokalisiert):
Das ständische Element ist die sanktionierte, gesetzliche Lüge der konstitutionellen Staaten, daß der Staat das Interesse des Volks oder daß das Volk das Staatsinteresse ist.
Im Inhalt wird sich diese Lüge enthüllen. Als gesetzgebende Gewalt hat sie sich etabliert, eben weil die gesetzgebende Gewalt das Allgemeine zu ihrem Inhalt hat, mehr Sache des Wissens als des Willens, die metaphysische Staatsgewalt ist, während dieselbe Lüge als Regierungsgewalt etc. entweder sich sofort auflösen oder in eine Wahrheit verwandeln müßte. Die metaphysische Staatsgewalt war der geeignetste Sitz der metaphysischen, allgemeinen Staatsillusion.
MEW 1, S.268