Freerk Huisken hat seine GegenRede 8 zum Thema „Über Miss- und Gebrauch institutionalisierter Erziehungsmacht“ im Magazin Auswege veröffentlicht.
Hier dieser Text in der überarbeiteten Version aus seiner Rubrik lose Texte:
Über Miss- und Gebrauch institutionalisierter Erziehungsmacht
Einige Jahrzehnte lang hatten die Schüler das Monopol auf das Thema ‚Gewalt‘. Gewalt in der Schu¬le, das war „Jugendgewalt” – von Schlägereien, dem Jacken-Zocken, den sogenannten Schutzgel¬derpressungen über Sachbeschädigung bis hin zu den Amokläufen der letzten Zeit. Es ist mehr als gerecht, dass nun wieder Erziehergewalt ins Zentrum rückt. Jedoch leider mit ziemlich falschem Schlag: Verkorkste Pädophile hätten sich an ihrer Vorbildfunktion versündigt, lautet der Tenor. Dass dem ist nicht so ist, soll dargestellt werden.
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Jedoch eine Klarstellung vorweg: Wenn sich Erwachsene an Kindern vergehen, d.h. sie zu sexuel¬lem Verkehr oder ähnlichem nötigen, dann hat das mit Liebe, auch mit „Knabenliebe” nichts zu tun. Für die braucht es allemal die Gegenseitigkeit des Gefühls. Auch kann dort, wo Gewalt im Spiel ist, nicht einmal reine Lust am Geschlechtlichen vorliegen. Die setzt, wenn auch nicht notwendig auf beiden Seiten das große Gefühl, so doch immerhin den Willen aller Beteiligten voraus, sich einem derartigen Verlangen vergnüglich hinzugeben. Der inkriminierte Missbrauch ist immer eine höchst einseitige Angelegenheit; und zwar auch dann, wenn bei den Kindern kein Widerstand gewaltsam gebrochen wird, wenn sie dem bewunderten Lehrer oder Pfarrer eigentlich nichts Böses zutrauen und sich irritiert bis gehorsam, auf jeden Fall ängstlich den Manipulationen durch ihre Erzieher hin¬geben. Deren Lust auf Kinder ist denn auch nichts als eine schlimme Mischung aus fleischlicher Be¬friedigung und dem Genuss der eigenen Macht über abhängige Zöglinge. Mit „befreiter Sexualität” hat so etwas nichts zu tun. Solcherart Pervertierung von Liebesgenuss ist dabei weder in der Eigen¬art des Erzieherberufs begründet noch liegt eine Krankheit in Gestalt einer genetischen Abweichung oder Hirnanomalie vor – wie sich dies z.B. Hirnforscher neuerdings entschuldigend erfinden.
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So einfach steht es damit nicht: Dafür sind diese und andere Rohheiten im Geschlechtsleben der Republik viel zu verbreitet. Im Internet ist jede Misshandlung an jedem Geschlecht und in jedem Alters ideell zu genießen und in der Wirklichkeit ist all dies gegen Geld zu haben. Wo sich – in der Regel – Männer ein eingebildetes Recht auf Bedienung ihrer superben Männlichkeit herausnehmen und in der Vergewaltigung von Frauen den Akt als Unterwerfung zu genießen vermögen, wo der „gute Onkel” ebenso wie der Familienvater seine Schweinereien unter Nutzung und in Inanspruch¬nahme von elterlicher Gewalt – vom „natürlichen Recht der Eltern” auf Pflege und Erziehung des Kindes ist im GG, Art.6,2 die Rede – an Kindern durchsetzen, wo sich – erneut zumeist – Männer bei ihren weiblichen Partnern die Bestätigung ihrer natürlich überragenden Bettqualitäten einfordern und sich ohne dies bei ihnen gar keine Befriedigung einstellen will, da ist eines offensichtlich: In der Privatsphäre und selbst noch in ihren intimsten Bereichen regiert allzu oft ein Rechtsstandpunkt, der sich Macht anmaßt oder erteilte Macht für private Bedürfnisse der übelsten Sorte ausnutzt; sei es, dass dieser Standpunkt aus dem mit erheblicher Machtfülle ausgestatteten staatlichen Auftrag von Eltern und Lehrern zur Aufzucht des Nachwuchses abgeleitet ist, sei es dass er sich umstands-los als Recht der männlichen Rasse vorträgt oder sich aus dem Verfügungsrecht des Geldbesitzers ableitet, der mit seinem Verdienten im Besitz einer universellen Zugriffsmacht ist, mit der lässig jede hierzulande errichtete moralische Schranke übersprungen wird. Wer über Rechte verfügt, wer sich mit seinen Anliegen oder Bedürfnissen im Recht weiß und gerade auch derjenige, der sich sein Recht nur einbildet, setzt sein Interesse absolut, erklärt es gegen jeden ihm entgegenstehenden Wil¬len für gültig und sieht sich deswegen auch befugt, zur Durchsetzung seiner Macht schon mal Ge¬walt einzusetzen. All das hat er dem System des Rechtsstaats abgeschaut – auch wenn in der Schule der Zusammenhang von Interesse, Recht und Gewalt etwas anders vorgestellt wird, d.h. stets von staatlichen Interessen ausgegangen wird, die nicht etwa wegen ihrer Funktionalität für kapitalisti¬sches Wirtschaften, sondern wegen ihrer überragenden moralischen Qualität als Menschenrechte -Schutz von Privateigentum und demokratische Herrschaft – allgemeine Gültigkeit beanspruchen dürfen und deswegen gegen jeden Angriff bis hin zum Hindukusch verteidigt werden müssen. Den¬noch entwickelt so ziemlich jeder Bürger eigene Anliegen, die ihm derart bedeutsam dünken, dass er sie auch dann zu seinem privaten Recht erklärt und ihre Durchsetzung gewaltsam verfolgt, wenn sie mit der staatlichen Rechtsordnung nicht zu Deckung zu bringen sind.
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Wenn man dagegen gefeit ist, Erklärungen mit Entschuldigungen zu verwechseln, kann man die¬sem Zusammenhang entnehmen, dass Kindesmissbrauch in staatlichen oder privaten, weltlichen oder kirchlichen Erziehungsanstalten weder ein Zufall – dagegen spricht allein schon seine Häufung – noch der Einbruch gänzlich erziehungsfremder Perversion in Anstalten ist, die sich der Fürsorge, Entwicklung und Unterweisung des Nachwuchses pfleglich anzunehmen haben. Vielmehr treffen in den Erziehungseinrichtungen derartige sexuelle Neigungen auf günstige Bedingungen ihrer Umset¬zung. Zum einen stellen Chorknaben, Internatsinsassen oder Schüler eine einzigartige Gelegenheit für jene Pädagogen mit und ohne Talar dar, die auf „Knaben stehen”. Was eigentlich für den Beruf sprechen soll, dass man es in ihm „mit Menschen” zu tun hat, mit jungen zumal, bekommt darüber inzwischen einen schalen Beigeschmack. Dabei darf die gehobene Verantwortung, die diese Tätig¬keit gegenüber Berufen auszeichnen soll, in denen der Mensch angeblich nur mit Sachen befasst ist, gar nicht bestritten werden. In der Tat hängt an ihr viel hinsichtlich der späteren sittlichen, geistigen und praktischen Tauglichkeit des Nachwuchses für alle Dienste, die ihm später in den niederen oder gehobenen Funktionen abverlangt werden, die der Kapitalismus parat hält. Gerade deswegen ist diese verantwortungsvolle Arbeit auch vom Staat in allen Schulen in der Form eines Rechtsverhält¬nisses eingerichtet, das der Erzieher gegenüber dem Zögling als sanktionsbewehrtes Zwangsregime etabliert und umsetzt. Genau darin steckt – dies zum zweiten – ein umfangreiches pädagogisches Arsenal, das zur Handhabung solcher Gelegenheit zum Missbrauch taugt.
Zugleich aber, und darauf soll am Schluss verwiesen werden, liegt in diesem schulischem Zwangs¬regime der Auftrag für allerhand Gebrauch begründet, der den Kindern überhaupt nicht zuträglich ist, ohne jedoch deswegen hierzulande unter Missbrauch zu fallen.
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Das staatlich eingerichtete schulische Zwangsregime über Kinder von heute hat zwar mit den Ver¬fahren der Rohrstockpädagogik von einst nichts zu tun, wenn gleich es auf Gewalt in anderen For¬men auch nicht verzichten will. Das hat seinen Grund nicht in Erziehung überhaupt, sondern in dem, was die schulische Erziehung heute und hierzulande von Kindern will bzw. mit ihnen anstellt. Sie bedient sich der „Naturtatsache” des noch unfertigen Willens der Kinder, um an ihnen ein Pro¬gramm abzuziehen, dass deren selbstbewusste, mündige Unterwerfung unter den „Ernst des Le¬bens” zum Zweck hat. Mit Lernen, also mit der Ausstattung des Willens mit Wissen, das es Heran¬wachsenden ermöglichen würde, geistig ihre Welt zu beherrschen, um sie praktisch ihren Bedürf¬nissen gemäß zu machen, hat das wenig gemein. Vielmehr wird gelernt, sich der Schulpflicht zu beugen, den Anordnungen des Lehrpersonals auch wider deren Vernunft zu folgen und die Aneig¬nung von Wissen einem Zeitdiktat zu unterwerfen, das nicht Einsichten, sondern die Einfügung in die Lernleistungskonkurrenz hervorbringt, als deren Resultat eine Sortierung des Nachwuchs nach Schulsiegern und Schulverlierern ziemlich irreversibel exekutiert wird. So wird das Recht der Er¬zieher, über „unmündige Kinder” gemäß des Schulprogramms zu verfügen, wahrgenommen und praktiziert. Die Widerspenstigkeit des kindlichen Willens ist damit geradezu vorprogrammiert. Der muss der Pädagoge Herr werden und das gelingt ihm ganz ohne Rohrstock mittels einstudierter Motivationstechniken und der ihnen innewohnenden Erpressung, mit „Überzeugungsarbeit”, die auf Sachzwänge verweist, deren Repräsentanten die Lehrer selber sind, mit psychologischer Drangsalierung wie Liebesentzug, Bloßstellung vor den Klassen-”kameraden” oder rassistischen Ausgrenzungen, schließlich mit dem Einsatz der Noten als Disziplinierungsmittel, dem Verweis auf Schulstrafen und der Drohung mit der Elternbenachrichtigung usw. Dass dabei hier und da zusätzlich noch physische Gewalt zum Einsatz kommt, wird wohl so sein, macht aber den Kohl nicht fetter. Denn die modernen Unterwerfungsmethoden, deren Vertreter an der Prügelpädagogik allein auszusetzen haben, dass sie für eine Erziehung zum „mündigen Bürgers” reichlich dysfunktional ist, die Gehorsam aus freien Stücken und nicht aus Angst vor Prügel anstrebt, sind mindestens genauso widerwärtig wie die berühmten Watschn, die jetzt erneut in Misskredit gekommen sind.
Für Erzieher selbst fasst sich dieses Arsenal an Mitteln und Wegen der Beeinflussung des Willens unter Fürsorge‘ zusammen, die er den Zöglingen angedeihen lässt: In allem, was er mit ihnen in der Erziehungsanstalt anstellt, weiß er sich sicher, dass er nur ”das Beste für das Kind” will, dass er al¬lein weiß, was für das Kind „das Beste” ist, und dass er deswegen eigentlich auch die Zuneigung seiner Zöglinge verdient. Diese unmittelbare Ineinssetzung seines staatlichen Auftrags mit dem Dienst am Kind gehört zur Berufsmoral des Lehrers dazu. Sie schließt ein, dass Kinder als Material der eigenen „Selbstverwirklichung” eingeordnet sind: ‚Berufung‘ oder ‚pädagogisches Eros‘ heißt das dann.
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Wenn nun Pädagogen dieses ihr Verfügungsrecht über Kinder als das Selbstverständlichste von der Welt halten, sich Erziehung gar nicht anders vorstellen können und die darin eingeschlossenen For¬men psychologischer und materieller Machtausübung als pädagogische Instrumente nehmen, die natürlich immer nur zum Besten des Kindes eingesetzt werden, dann sollte man sich nicht wundern, dass sie dieses Recht und das daran hängende Arsenal mehr oder weniger sublimer Drangsalierun¬gen auch noch zum Mittel ihrer Gelüste machen. So kommen dann schon mal bei einigen Erziehern Gelegenheit, Mittel und das gemeine Bedürfnis, sich an Abhängigen sexuell zu schaffen zu machen, in Erziehungsanstalten zusammen. Die kinderfreundliche Berufsmoral der Erzieher komplettiert dieses Szenario. Ganz besonders trifft das auf Internate mit schwüler Familienideologie zu, in de¬nen schon mal die Differenz zwischen beruflicher Tätigkeit und Privatleben verschwimmt und Ver¬traulichkeiten, die über das in jeder öffentlichen Schule angesagte Maß hinausgehen, das Verhältnis zwischen Erzieherautorität und dem von ihr abhängigen Schüler charakterisieren. Kein Wunder, dass in solchem Sumpf die rücksichtslose sexuelle Neigung geradezu ein Sonderangebot entdeckt.
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Auch in der Art und Weise wie solche Pädagogen sich ihre Vergehen – vorher oder nachher – zu¬rechtlegen, bemühen sie nicht selten Zusammenhänge aus dem Arsenal ihres spezifischen Amtes: Da mögen Pädagogen ihre Übergriffe mit Gegenliebe von Kindern rechtfertigen, sie verharmlosend unter Fürsorge abbuchen, sich ein Recht auf Gegendienste der Zöglinge für dieses und jenes, das an ihnen geleistet worden ist und für das sie schweren Verzicht geleistet haben, einbilden, die alten Griechen bemühen, sie als pädagogischen Akt sexueller Befreiung vorstellen, als Gottes Wille oder Fügung deklarieren usw., immer handelt es sich dabei um Legitimationen, die sich der Drangsal verdanken, gegen die Moral verstoßen zu haben, deren Hüter sie doch zu sein hätten.
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Zur Zeit ist das Entsetzen groß und es wächst der Zweifel in die vereinte kirchliche und weltliche Erzieherzunft, ob man ihnen, die doch eigentlich Vorbild zu sein haben, den Nachwuchs weiterhin so unkontrolliert überlassen darf. Ein Großreinemachen, gar eine Überprüfung des pädagogischen Zwangsverhältnisses kündigt dieser Zweifel allerdings nicht an. Sexueller Missbrauch und Prügel sollen unterbunden werden. Der sonstige gewöhnliche Gebrauch der Erziehungsmacht steht nicht auf dem Prüfstein, obwohl der es wirklich in sich hat. So gilt es nicht als Skandal der Schulerzie¬hung, dass Kinder zu einem Gebrauch des Verstandes erzogen werden, der nur danach fragt, ob er gute Noten einträgt; dass Kinder auf eine Lernkonkurrenz verpflichtet werden, in der sie, wenn sie zu den Schulsiegern gehören wollen, andere zu Verlierern machen müssen; dass dies die Erziehung zum Betrug und Selbstbetrug, zum Opportunismus und zur Anschleimerei, zum Schulmobbing und zu all den Angebertechniken einschließt, mit denen man sich in der Schule in Szene setzt; dass Schüler lernen müssen, Wissenslücken vorm Notenrichter zu verbergen und es für normal halten sollen, dass man für geistige Defizite, die das Werk der Schule sind, bestraft wird; dass das Lernen im Klassenverband mit allergrößter Selbstverständlichkeit per Zeitdruck so organisiert ist, dass im¬mer Verlierer und Sieger in gewünschten Proportionen herauskommen; dass der Lehrer, der doch für alle Schüler da sein soll, seine Präsenz nicht selten nur vermittels seines „roten Büchleins” be¬streitet; dass Sozialverhalten als Erziehungsziel in einer Einrichtung groß geschrieben wird, in der Abschreiben und Abschreibenlassen nicht als Hilfe, sondern als Betrug gewertet wird; dass Kindern ein Stoffkanon vorgesetzt wird, der darauf abzielt, sie in einer Gesellschaft heimisch zu machen, die bei der Mehrheit der Schulabsolventen später den Wunsch hervorbringt, dass es ihre Kinder einmal besser haben sollen; dass – um auch einmal die „Menschenwürde” des Kindes anzusprechen – der Gang zur Toilette ohne Anmeldung beim und Genehmigung durch den Lehrer nicht zu haben ist und bereits der Kaugummi im Mund eine Disziplinarstrafe nach sich ziehen kann; dass häufiger ge¬äußertes Desinteresse am Unterricht – das „Aufmerksamkeitsdefizit” – als Krankheit diagnostiziert und auch dann mit Tabletten mit sedierender Wirkung therapiert wird, wenn der Zögling seine eige¬nen Interessen durchaus höchst konzentriert und ausdauernd verfolgt; dass auch Defizite im Rech¬nen bzw. Lesen und Schreiben, an denen die Grundschule kräftig mitarbeitet, gleichfalls in den Rang einer Krankheit gehoben werden; dass Kinder Angst vor Leistungskontrollen haben, sich mit schlechtem Zeugnis nicht nach Hause trauen und schon mal Hand an sich selber legen usw. All das ist Schule und gehört zu einem Erziehungsprogramm, in dem junge Menschen für die Konkurrenz¬gesellschaft fit gemacht werden; weswegen neuerdings die Erziehung zur Frustrationstoleranz und zur Stressresistenz groß geschrieben wird – was einiges über den Laden aussagt, in welchem sie später ihr Leben organisieren müssen.
Aber das wäre ein neues Thema und mit ihm der Gebrauch, der hierzulande in der Arbeitswelt sys¬tematisch von Menschen gemacht wird, deren „Bildungsarmut” sich dann als materielle Armut er¬weist. Und auch das fällt nicht unter Missbrauch.