Folgenden Text hat mir Freerk Huisken zur Kenntnis gegeben (ich hab das jetzt nicht genauer angeschaut, könnte aber aus seinem Manuskript für die Lampedusa-Veranstaltung in Bremen sein), den ich hier weiterreichen möchte:
„1.1.Bei wie viel Mittelmeer-Toten an EU-Grenzen ist öffentliche und politische Aufmerksamkeit angesagt? Wieso müssen das schon so ca. 400 Tote sein – wie kürzlich beim Kentern eines Bootes vor Lampedusa? Dabei werden die Opfer der letzten Jahre auf mehrere tausend Flüchtlinge beziffert, die das EU-Festland nicht erreicht haben (SZ 21.6.02: Gibraltar in fünf Jahren über 3000 Leichen angeschwemmt.)
Was bedeutet es, wenn Politiker jetzt öffentlich erklären, dass das Mittelmeer „kein Massengrab werden dürfe” (Staatsministerin Böhmer, CDU)? Dabei ist doch das Mittelmeer spätestens seit der Schengen-Vereinbarung zur Grenzsicherung genau dieses Massengrab.
Großes Aufsehen haben all die einzelnen Ertrunkenen der letzten Jahre nie erregt; für sich waren sie jeweils zwar durchaus unschöne, aber letztlich zu vernachlässigende Kollateralopfer einer für notwendig erachteten europäischen Abschottungspolitik. Und das mit dem „Versuch des illegalen Grenzübertritts” verbundene Risiko – so der politische Tenor – kannten die Flüchtlinge doch und haben es offensichtlich freiwillig in Kauf genommen. So wurden alle, nach der Anzahl der jeweiligen Leichen als Kleinkatastrophen abgehakten Havarien in der Vergangenheit erst einmal weg kommentiert.
Oder: Vielleicht sogar wegen einer damit verbundenen Abschreckungswirkung in Kauf genommen? Doch die stellt sich, wurde festgestellt, offensichtlich nicht ein. Wie auch: Wo den Flüchtlingen das Risiko einer misslungenen Mittelmeerüberfahrt offensichtlich allemal geringer zu sein scheint, als all das Elend in Afrika, dem sie zu entfliehen versuchen.
Es muss also erst ein Schiffs-”Unglück”, ”eine furchtbare Katastrophe”(FAZ) passieren, bei dem auf einen Schlag mehrere Hundert Boatpeople ihr Leben verlieren, die Insel Lampedusa mit dem Bergen der Leichen und der Unterbringung der Überlebenden gänzlich überfordert sein, dass die europäische Öffentlichkeit und Politik aufgeregt Notiz nimmt. Doch wie?
1.2. Zunächst einmal: Sie gibt sich betroffen und um Humanität besorgt. „Die Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa hat uns alle erschüttert.” So der Innenminister Friedrich wie viele seiner Kollegen. Barroso und andere nehmen in Lampedusa an der Beerdigung teil und sind ”tief gerührt”. „Heuchelei” sei das, schallt es ihm da aus den Reihen von Kritikern der dt. und eur. Asylpolitik entgegen. Achtung: Was sagt der Heuchelei-Vorwurf eigentlich? Er sagt: Es kümmere sie ernstlich keine Spur, wenn dort massenhaft Menschen ertrinken Ihre Grenzpolitik sei mörderisch und ihr Mitgefühl sei pure Show. Denn daran fehle es der Politik gerade, an Mitgefühl, an Humanität, an moralischem Empfinden mit den Opfern, heißt es! (”Was moralisch falsch ist, kann nicht politisch richtig sein!”, lautete in HH eine Parole.)
Doch wenn man das Treiben der Politiker nicht verharmlosen will, ihr Tun nicht auf fehlende Moreal reduzieren will, dann muss man da etwas genauer hinschauen. Politiker haben keineswegs vor, massenhaft Flüchtlinge an EUs Grenzen verrecken zu lassen. So etwas ist nicht ihr Zweck. In Kauf genommen haben sie das natürlich bislang schon. Doch wenn sie dann in diesem Ausmaß – bis zu 400 Tote auf einen Schlag – mit diesen unschönen Konsequenzen an ihren Grenzanlagen konfrontiert sind, dann merken sie durchaus auf und sind „betroffen”. Und sie tun das Humanitäre ihrer Politik auch gleich da hin, wo es hingehört: Sie verwandeln die Moral in eine Rechtsfrage. Sie fragen: Fällt es nicht unter „unterlassene Hilfeleistung”, wenn zugesehen wird, wie da Menschen ertrinken; selbst wenn es sich um „illegale Grenzgänger” handelt? Haben die nicht selbst als Flüchtlinge ein das „Menschenrecht auf Unversehrtheit”? Auf jeden Fall gilt es als rechtlich grenzwertig, die Leute einfach absaufen zu lassen. Deswegen heißt ihre Überlegung: Es muss doch möglich sein, dass wir unsere Grenzen so schützen, dass die Flüchtlinge nicht gleich massenhaft vor unseren Augen ertrinken! Über Heuchelei sind diese Brüder also immer schon hinweg: Entscheidungsmacht über Menschenschicksale auszuüben, das ist schließlich ihr Beruf. Dabei entscheiden sie sehr genau, zwecklogisch und rechtskonform, welches „Schicksal” welchen Menschen zukommt, über die sie Entscheidungsmacht haben.
1.3. Und in dem Sinne beschließen sie denn auch prompt neue Maßnahmen: Mit denen soll der Schutz der Grenzen mit dem verbesserten Schutz von Flüchtlingen vereinbar(er) werden. Genau das ist die politische Konsequenz aus ihrer Erschütterung. Die Einzelheiten der Maßnahmen konnte man in jeder Zeitung nachlesen. Die quasi-militärische Einrichtung Frontex bekommt eine leicht modifizierte Order und neue Instrumente. Boote sollen früher entdeckt und zum Umkehren „überredet” werden. Wenn es nötig ist, sollen boatpeople auch gerettet werden – über die Explizierung dieses humanitären Teils der Mission wird/wurde heftig innerhalb der EU gestritten – und dann in Afrika irgendwo an Land abgeladen werden. Schlepper- und Schleuserbanden soll das Handwerk gelegt werden, damit die gar nicht erst jene Katastrophen einleiten können, wie sie sich in Lampedusa ereignet haben.
So arbeiten sie konsequent an der Politik des Grenzschutzes weiter und effektivieren ihn so, dass die flüchtenden Menschen möglichst geschützt werden – doch geschützt werden wovor? Vor den tödlichen Konsequenzen der Grenzschutzmaßnahmen, die die EU errichtet hat. Anders gesagt: Ihr Anliegen heißt: Wie können wir unsere Grenzen so dicht machen, dass wir und unsere Völker nicht zugleich ständig mit diesen unschönen Bildern von Ertrinkenden und Ertrunkenen konfrontiert werden, die nicht zu den humanitären Anliegen eines Friedensnobelpreisträgers passen, uns als Versagen angerechnet werden und zudem Menschen- und andere Rechtsprobleme aufwerfen?
Das schließt eines als Inhalt und Zweck europ. Politik aus: Den Schutz dieser Kreaturen vor jenen Umständen, die sie zur Flucht aus ihrer Heimat bewogen haben……”