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Warum Linkspartei wählen verkehrt ist (immer noch)

24. September 2013

Schon zu einer früheren Bundestagswahl (2005) hat Wolfgang Rössler vom GegenStandpunkt in Freiburg einen schönen Verriß des Linkspartei-Wahlprojekts geliefert („Warum Linkspartei wählen verkehrt ist„), so wie ihm das eben so eigen ist (Ich habe nochmal in diese Richtung nachgewühlt, weil der diesjährige (Anti-)Wahlkampf daran gemessen wirklich lahm gewesen ist, gerade der „Höhepunkt“, das Streitgespräch mit Christian Spehr, Landessprecher der Linkspartei in Bremen, mit Jonas Köper vom GegenStandpunkt am 20.09.2013 hat mich da doch sehr enttäuscht, weil der elende erzreformistische Polemiker Spehr auf erstaunlich wenig zugespitzte Widerrede gestoßen ist, selbst Jonas Köper hat da nur alle naselang etwas schärfer gegengehalten) . Wolfgang Rössler kann man sich übrigens auch bei YouTube anhören.
Und zum Streit zwischen Linkspartei und GegenStandpunkt kann man auch immer noch den alten Konkret-Artikel „Nachdenken in Ingolstadt“ nachlesen, wo 1994 Gregor Gysi und Karl Held über die Frage gestritten haben „Ist Wählen verkehrt?“

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  1. Teh Asphyx
    25. September 2013, 14:22 | #1

    An der Debatte hat mir auf jeden Fall gut gefallen, dass es keine Wiederholung der Debatte zwischen Gysi und Held wurde. Es sind andere Themen zur Sprache gekommen und es wurde auch auf beiden Seiten anders argumentiert. Insofern sehe ich diese Diskussion durchaus als Bereicherung.
    Was mich echt stört ist die unnötige Länge. Köper bringt die Dinge ja schon ganz gut bündig und trotzdem verständlich auf den Punkt, aber Spehr geht mir da mit seinem redundanten Gelaber auf Sozialpädagogenniveau wirklich tierisch auf den Geist. Viel Inhalt kommt da auch echt gar nicht rüber. Immerhin weiß ich jetzt, dass ich Links wählen soll, weil die eine klare Stellung zur Sowjetunion haben. Was aber auch nichts anderes heißt, dass die Linke mitsamt ehemaligen SED-Leuten inzwischen halt einfach die übliche Westmeinung über den Realsozialismus teilt und sich damit bei den Leuten anbiedert. Die Nummer kauft denen aber doch eh keiner ab. Also was soll das? Da sollen die lieber mal mit Inhalten daherkommen.
    Jedenfalls stand Spehr am Ende ziemlich schlecht da und dass er sich den heftigsten Vorwurf ganz zum Schluss reinziehen musste, so dass er keine Zeit mehr hatte, um darauf auch noch groß einzugehen, geschieht ihm ja auch ganz recht, wenn er sich (und vor allem dem Publikum) einiges an Redundanz erspart hätte, dann hätte er die Gelegenheit zeitlich ja noch bekommen. Der hatte aber eh schon ganz schön damit zu knabbern, dass das Publikum nicht gerade auf seiner Seite war, was ihn offensichtlich auch sehr überrascht hat.
    Ich habe mal das Schlussplädoyer von Jonas Köper rausgeschrieben, da ich es doch ganz brauchbar finde.

    Jonas Köper: Noch mal schnell zu dem Mindestlohn. Man kann über eine Frage nicht streiten: 10 € sind mehr als 5 €, das ist einfach … da kann man nicht drüber reden und wenn das jemand kriegt, auf welchem Weg auch immer, soll’s mir recht sein. Das war nicht das umstrittene Thema, aber ich halte etwas in dem Zusammenhang für einen Fehler. Das ist die Sache mit der Kampfbedingung, die der Mindestlohn darstellen soll. Das ist eine fatale Logik, die da gedacht wird, mit der Kampfbedingung: Man braucht einen Mindestlohn, um sich für Lohn einsetzen zu können. Das heißt ja glattweg, nur wenn man schon genug Lohn hat, kann man sich für die Steigerung von Lohn einsetzen. Wer sich auf das einlässt, der ist in Teufels Küche. Wenn der Lohn nicht reicht, dann ist das der Grund dafür, sich dafür einzusetzen, einen hinreichenden Lohn zu bekommen. Punkt. Aus. Und sich das klarzumachen und sich dafür zusammen zu tun, ist die einzige Bedingung um die es um die Frage da geht.
    Zwischenruf aus dem Publikum: „Ein Mindestlohn führt davon weg.“
    Jonas Köper: Ja, […] das wollte ich an der Stelle gar nicht unbedingt noch mal sagen, ich will bloß auf folgendes weiter: Kaum ist ein Mindestlohn in der Debatte – in der politischen Debatte –, wird die Frage aufgeworfen – da komm ich jetzt auf Dich –, ob der Mindestlohn eigentlich verträglich mit allem Sonstigen im Lande ist. Ob der allgemeinwohlverträglich ist. Das ist ein wüster Übergang. Jetzt wird sogar dieses Elendsgeld daraufhin hinterfragt, ob damit eigentlich die Unternehmer in ihrer Rentabilität das Wachstum für Deutschland und überhaupt Deutschland sich verträglich machen können. Daraus soll übrigens keiner entnehmen – obwohl man das leicht entnehmen könnte –, was dieses scheiß Allgemeinwohl hierzulande ist. Das wird einem nämlich mitgeteilt: Dass Allgemeinwohl in nichts anderem besteht, als dass die Rechnungen der Unternehmen aufgehen, darauf ein nationales Wachstum zustande kommt, von dem der Staat sich und seine Vorhaben finanzieren kann. Das wird einem dann mitgeteilt und das IST das Allgemeinwohl, das ist keine Theorie. Das ist das Allgemeinwohl im Kapitalismus tatsächlich, weil die politische Macht dafür sorgt, dass das Lebenseinkommen für die Leute tatsächlich vom Gewinn dieses Kapitalwachstums abhängig gemacht wird.
    Das spricht allerdings, wenn man sich das klar macht, gegen dieses Allgemeinwohl. Man kann sich aber auch drauf einlassen, auf dieses Allgemeinwohl. Und das tun alle politischen Parteien, die zur Zeit zur Wahl antreten, alle deklinieren Dir die Abhängigkeit von diesem Allgemeinwohl vor: Wenn Du willst, dass bei Dir was geht, musst Du für Wachstum, musst Du für das Gelingen der Geschäfte, musst Du für das sich Durchsetzen von Deutschland sein. Auch die Linkspartei? Ja.
    Die Linkspartei hat in ihrem Wahlprogramm das Kapitel „Die Krise überwinden“. Das ist eine klare Ansage. Die will politisch sich dafür engagieren, dass die Kapitalisten aus ihrer sinkenden Profitrate wieder rauskommen. Ist das böse gesagt von mir? Nein. Das machen die wirklich zur Bedingung ihrer guten sozialen Wohltaten. Ich lese vor: „Mit Steuern umsteuern. Reichtum ist teilbar.“ Lasst euch das mal eine Sekunde durch den Kopf gehen. Das ist die Behauptung, nur wenn die Reichen sich reich verdienen können, können wir überhaupt von denen ein bisschen was abzweigen um den Armen vielleicht was zu geben. Das ist die ganz ganz plumpe Aussage, nur wenn die herrschenden Interessen bei ihrem Einkommen zu was kommen, dann kann der Staat sich bei denen was holen und auch mal was Gutes tun. Das ist ein Bekenntnis dazu, dass auch diese Partei ihre sozialen Wohltaten vom Gewinn der Geschäfte der herrschenden Interessen abhängig macht.
    Zwischenruf Christoph Spehr: Also kannst Du eigentlich ein gewisses Niveau noch halten, das wir in weiten Teilen dieses Abends nicht unterschritten haben und jetzt nicht völlig [unverständlich wegen Zwischenruf aus dem Publikum: „Stimmt genau, was er sagt“]? Nein, weil wir natürlich nicht das Entstehen privaten Reichtums rechtfertigen und bestimmt nicht für eine Bedingung, nicht mal für das funktionieren des Kapitalismus darstellen.
    Jonas Köper: Mein dritter Punkt. Ich will noch auf einen Punkt eingehen, weil der mich, weil der mich wirklich ein bisschen ärgert. Das ist diese Debatte, die es gegeben hat: Es ist doch gut, wenn man was hinkriegt, wo die Leute Erfahrungen machen und wo sie Bewusstsein bilden können. Wenn irgendwas überflüssig ist, dafür zu sorgen, dann das. Es bleibt den Leuten – das machen die wirklich schon von selbst –, es bleibt denen gar nichts anderes übrig – jeder, der mit ’ner halbwegs funktionierenden Birne in der Welt rumläuft, macht ununterbrochen Erfahrungen und bildet sich sein Bewusstsein.
    Zwischenruf aus dem Publikum: Er meint jetzt aber ein bestimmtes Bewusstsein, eine bestimmte Erfahrung.
    Jonas Köper: Ja, und da, da würde ich jetzt aber wirklich mal streng darauf bestehen, wenn man auf ein bestimmtes Bewusstsein besteht, dann soll man auch mit offenem Visier an die Leute rantreten und mit ihnen über ihr Bewusstsein streiten und sich nicht aufbauen – und das finde ich das Ekelhafte an der Debatte, die hier so gelaufen ist [Zwischenruf Christoph Spehr: „Das ist pädagogisch.“] – man soll sich nicht aufbauen wie ein Biologe in einer Versuchsanordnung und sagen: „Ich führe diese kleinen Menschlein, diese Bewegungstierchen, die führe ich über parlamentarische Auseinandersetzungen, Demonstrationen in Situationen rein, wo ich sozusagen die Erfahrungen manipulier um sie dann in die Richtung zu murksen, in die ich möchte.“ Das ist was sehr ekelhaftes. Es ist vorhin mal irgendwie das böse Wort von Dir gefallen mit dem Elitären.
    Zwischenruf Christoph Spehr: Ja, das ist auch wirklich ein Unding …
    Jonas Köper: DAS ist elitär.
    Christoph Spehr: Und ich finde es wirklich mies, dass … also dann müssen wir noch mal eine Runde machen.
    Jonas Köper (gleichzeitig): Das ist elitär, Leute in eine Versuchsanordnung einführen zu wollen, damit sie ein Bewusstsein im eigenen Sinne bilden, anstatt mit denen offen über ihr Bewusstsein zu streiten.

  2. 25. September 2013, 15:11 | #2

    An dem Streitgespräch hat mir mißfallen, daß es eigentlich noch nicht mal auf dem Level des alten Disputs geführt wurde.
    Es viel mir besonders auf, daß es wohl nicht einmal soviel Vorgespräche gegeben hat, daß sichergestellt gewesen wäre, daß nicht nur Jonas Köper auf die Zentralpunkte der Wahlkampagne der Linkspartei eingeht, sondern daß dann aber auch der Sprecher der Linkspartei ernsthaft versucht, auf die zentralen Kritikpunkte des GegenStandpunkts an ihrer Linie einzugehen. Insofern war das für mich verlogen verquaste drumherum Reden von Spehr noch nerviger als damals die Ausführungen des Erzdemokraten Gysi.
    Die eigentliche Diskussion (erstaunlicherweise für GegenStandpunktveranstaltungen mußten sich diesmal die Hauptredner auf dem Podium ja ganz ungewöhnlich kurz halten, nicht Zweistundenreferate sondern tatsächlich nur eine Viertelstunde, das war wirklich mal wieder eine Sternstunde der Agitation(!), war dann überraschend fokuslos. Es hatte offensichtlich keine sorgsame Vorbereitung für zugespitzte Redebeiträge von GSPlern gegegeben, und genausowenig hatte die Linkspartei mehr zu sagen, als das wenige, was Spehr so ausschweifend vorgetragen hat.
    Gerade, weil (Überraschung!) auch Spehr das hohe Lied der Erfahrungen gesungen hat, die irgendwie schon das Klassenbewußtsein herbeiführen würden durch die Magie des kollektiven Kämpfens, habe ich traurig an den Streit in Bielefeld gedacht, wo mit Michael Heinrich ein führender Theoretiker dieses Ansatzes auf Peter Decker getroffen ist. Aber eben nicht nur auf den, sondern es gab den ganzen Abend lang Redebeiträge von weiteren Genossen des GSP, die ihren Podiumsmann argumentativ unterstützt haben. (Ich habe ja nicht umsonst die Bielefeld-Diskussion abgeschrieben und hier reingestellt http://neoprene.blogsport.de/2012/05/10/erfahrungen-versus-unbrauchbare-unzufriedenheit/) Daß ausgerechnet in Bremen, wo es ja schon manchmal vorkommt, daß mehrere Genossen und Genossinnen bei Veranstaltungen argumentativ agitatorisch auftreten, dann die Diskussion so schlecht lief, hat mich ehrlich überrascht.

  3. Bernhard T.
    25. September 2013, 15:20 | #3

    Wahlflugblatt der Spartakist-Arbeiterpartei (SpAD): http://www.spartacist.org/deutsch/extra/Wahlzirkus-09-13.pdf

  4. Teh Asphyx
    25. September 2013, 17:32 | #4

    Genau das hat mich auch genervt. Gysi hat ja wenigstens rhetorisch was drauf, der legt sich ja auch mit großen Kalibern der konservativen Politikriege an und kriegt das einigermaßen hin. Vor allem aber kann man Gysi zuhören, ob man das mag, was er sagt oder nicht.
    Dass das kein Zweistundenreferat vom GSP werden würde, war ja durchaus abzusehen. Das wurde ja auch bereits am Vortag in Bremen von Margaret Wirth abgehalten (gibt es davon eigentlich einen Mitschnitt?).
    Dass die Redezeit dann aber gleich so unausgeglichen war, fand ich auch seltsam.
    Dafür dass nicht die gesamte Bremer GSP-Truppe im Publikum saß, war das Publikum aber doch sehr auf der Seite von Köper. Spehr war darüber ja auch mehr als überrascht, hatte sich wohl erhofft, dass er mehr Zuspruch kriegt, wenn nicht der halbe GSP da sitzt.
    Ab ca. 2 Stunden habe ich mich nur noch gefragt, ob das jetzt noch ernst gemeint ist oder irgendeine Comedy-Veranstaltung, was Spehr da abzieht. Dass der da ernsthaft sagt, dass es ohnehin gerade nichts bringt, die Linke zu wählen, weil die gar keine brauchbare Mehrheit kriegen, andererseits ja aber doch, weil die dann vielleicht in vier Jahren. Ja, da sind meine Anliegen als ALG2-Bezieher oder Niedriglöhner doch genau richtig vertreten mit der Aussage, dass ich ohnehin die nächsten vier Jahre den Scheiß so weiter ertragen muss und dann vielleicht … aber das ist ja der absolut richtige Weg, das selbst in die Hand zu nehmen geht ja gar nicht.
    Oder ich les halt doch ein paar GSP-Bücher und fange selbst an meinen Mitmenschen mit meiner Agitation auf den Sack zu gehen. Auch wenn ich mir davon nicht viel verspreche, dann doch mehr als vom Wählen der Linken oder sonstwem.

  5. 25. September 2013, 18:35 | #5

    Bernhard, die SpAD fängt schon mal falsch an:

    „Es bestätigt sich, dass der bürgerliche Staat „nur ein Ausschuss [ist], der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet“.

    Der Staat verwaltet schließlich die Geschäfte aller Klassen unter seiner Gewalt. Die Regierung wird deshalb sachgerecht auch durch Parlamentarier aus allen Klassen (frei, gleich geheim usw.) gewählt, die wiederum auch von der Arbeiterklasse gewählt werden, also allen Staatsbürgern (nicht allen Bürgern, das nun auch wieder nicht, Immigranten haben dieses Vetrauen des Staats in dessen Augen nicht verdient).
    Und da bin ich dann auch beim zweiten grundlegenden Fehler: Der Charakterisierung der SPD (und Linkspartei) als bürgerliche Arbeiterparteien, bei denen (nur muß man als Spartakist wohl sagen) die Führung „prokapitalistisch“ sei, während dann wohl die Arbeiterklasse, jedenfalls der Teil der Lohnabhängigen, die sie unterstützen, *nicht* prokapitalistisch sein müßten (was sie offensichtlich ja doch sind, wie jeder kommunistische Agitator es ja leider mitkriegt), es heißt z.B. auch, „Es ist … strategische Aufgabe, die Arbeiterbasis von SPD und Linkspartei von ihrer pro-bürgerlichen Führung zu brechen“. Andererseits kommt dann, etwas im Gegensatz hierzu die alte leninistische Bestechungstheorie hinzu, nach der sehr wohl wichtige Teile der Arbeiterklasse prokapitalistisch seien, weil „eine ziemlich bedeutende Minderheit der Arbeiter“ (wieso eigentlich nur eine Minderheit, haben die Spartakisten da vom Projekt Klassenanalyse eine genaue Segmentierung ermitteln lassen?) von der Bourgeosie „bestochen“ werde. Dazu zitiere ich „die reaktionäre Wendung Lenins bei der Erklärung der Erfahrung, daß sich „ausgerechnet“ die Arbeiterklasse für den Dienst in monopolkapitalistischen Fabriken und Kasernen und Feldzügen hergibt, erfreut sich auch heute noch größter Beliebtheit.“
    Typisch für Leninisten a la SpAD ist es, daß auf einem immerhin vierseitigen Flugblatt zur Wahl mit keiner Silbe erklärt wird, was die bürgerliche Wahl ist, was sie für die Bourgeosie und den bürgerlichen Staat leistet, und sie deshalb auch mit dem Wählen (und Kandidieren) bei Wahlen zu bürgerlichen Parlamenten überhaupt keine grundsätzlichen Probleme haben.

  6. Teh Asphyx
    25. September 2013, 22:09 | #6

    So, jetzt habe ich mir auch mal das Gespräch zwischen Heinrich und Decker reingezogen.
    Die beiden sind sich ja zumindest von ihren Positionen weitaus näher als es der GSP mit der Linkspartei ist.
    Heinrich bringt da ein paar Dinge durcheinander scheint mir. Er spricht manchmal von Erfahrung, wo ich eher von einem Ereignis sprechen würde und wenn es ihm nur darum ginge, hätte er sogar einen Punkt, den ich teilen könnte. Dazu gleich noch mehr.
    Wo er einfach falsch liegt, ist der Punkt, dass das Bewusstsein allein nicht ausreicht, sondern es auch noch der Erfahrung bedarf. Woher will er das denn wissen, wenn die wenigsten Leute überhaupt das nötige Bewusstsein haben? Damit wäre seine Unterstellung ja die, dass die Leute ja eigentlich schon bestens bescheid wüssten, aber es ihnen jetzt einfach an der Erfahrung fehlen würde. Das stimmt ja gar nicht. Fast jeder hat schon die Erfahrung mit einer Gesetzesübertretung gemacht, ob allein oder in kleinen bis größeren Kollektiven. Dass das geht und dass das gemeinsam auch weitaus besser geht, das leuchtet den meisten schon ein.
    Was weitaus schlimmer ist, ist doch die Tatsache, dass bei den meisten Leute entweder kein Interesse oder keine Zeit für Bewusstseinsbildung da ist – und da kann man natürlich auch Gruppen wie den GSP dahingehend kritisieren, ob sie ihre Schulungen auch attraktiv genug präsentieren. Wenn es da Möglichkeiten gibt, ohne Abstriche im Inhaltlichen machen zu müssen, dann wäre das gut, die auch umzusetzen. Aber da bin ich auch noch etwas ratlos. Jemand wie Slavoj Žižek versucht es über Massenmedien, aber er macht dabei definitiv Abstriche im Inhalt und viele finden ihn zwar faszinierend, kapieren aber überhaupt nicht, worauf er hinaus will.
    Ich merke halt selbst, wie unglaublich viel Zeit es in Anspruch nimmt, mich bei der ganzen Theorie durchzuarbeiten. Wobei ich vieles auch so schon erkannt habe, ich aber Schwierigkeiten hatte, es zu formulieren. Ich kann da schon verstehen, dass da jemand, der schon den ganzen Tag geackert hat und dann die Auswahl zwischen Vortrag zur politischen und ökonomischen Bildung oder Diskobesuch halt lieber für letzteres entscheidet. Da ist dann schon so viel Erfahrung da, dass man sich nicht mal mehr theoretisch noch mehr von dieser Erfahrung zumuten will.
    Dass allerdings ein bestimmtes Ereignis, an dem jemand teilhat – und das kann auch mal ein Streik sein – dazu führen kann, dass dieser jemand dadurch einen anderen Blick auf die Dinge bekommt also eben zu einem Schlüsselerlebnis führt, das ist schon möglich. Aber es ist halt auch nur eine Möglichkeit.
    Noch was zu Erfahrung allgemein, da es ja auch diese tollen Sprüche gibt wie das Erfahrung klug macht oder man aus Erfahrung reift etc. ist ziemlicher Quatsch. Zum einen sind einige Leute auch einfach so was von Erfahrungsresistent, die bringen es dann fertig auch das tausendste Mal gegen eine Mauer zu laufen, anstatt sie zu umgehen, um es mal bildlich auszudrücken. Der wird sich dann auch sein Urteil gebildet haben, dass das so sein muss. Zum anderen gibt es auch die Möglichkeit einer Reihe von schlechten Erfahrungen, an denen man kaputt geht und erst recht die Kraft für einen Umsturz verliert und noch mehr dazu tendiert, zu resignieren.
    Dem einen taugt seine Erfahrung halt was, dem anderen nicht, allgemeingültig ist darüber halt nichts zu sagen, weil es eben drauf ankommt, welche Erfahrung gemacht und welches Urteil darüber anschließend gebildet wird. Und wenn es gleich auf zwei inhaltliche Dinge gleichzeitig ankommt, dann ist das gleich doppelt abstrakt.
    Mir war der Schluss von Jonas Köper aber sehr wichtig, nämlich dass er das mit dem Elitärem angesprochen hat. Das ist etwas, was mich bisher immer in Abstand zu den meisten linken Gruppierungen gehalten hat, weil ich dieses elitäre absolut abstoßend fand. Und gerade wenn dann so ein Parteifunktionär ankommt und meint, er wüsste ja genau, was den Armen so hilft und welche Erfahrungen und welches Bewusstsein die mal brauchen und wie er sie dahin führen kann und dabei noch einen auf guten Kumpel aller ausgebeuteten macht, dann ist dieser Denkzettel einfach gerechtfertigt und nötig. Das kann er dann noch so pubertär finden.
    Zumal ja in der Pubertät auch so ein Wahrheitsmoment steckt, wenn dann Jugendlich anfangen zu rebellieren – zumindest merken sie da, dass was nicht stimmt, bis sich von den Erziehungsinstitutionen wieder auf den rechten Weg geführt werden. Deswegen wird es auch nicht gerade weniger Verlogen, wenn dann ein Linker auch noch die bürgerliche Ablehnung jeglicher pubertärer Auflehnung teilt.

  7. Mattis
    25. September 2013, 22:36 | #7

    @Teh Asphyx:

    „Dem einen taugt seine Erfahrung halt was, dem anderen nicht, allgemeingültig ist darüber halt nichts zu sagen, weil es eben drauf ankommt, welche Erfahrung gemacht und welches Urteil darüber anschließend gebildet wird.“

    Genau das ist der zentrale Punkt. Die Arbeiter machen täglich, seit Jahrzehnten, die Erfahrung des Kapitalismus. Auch mit Lohnkämpfen, mit Streiks, alles kommt ja bereits vor.
    Wie sie all das deuten, was da passiert, darum geht es. Und das ist und bleibt eben Kopfsache.

  8. Teh Asphyx
    26. September 2013, 11:10 | #8

    Auf einen Punkt wollte ich auch noch eingehen, hab das jetzt aber schon zwei Mal vergessen.
    Da kam ja irgendwann die Frage auf, ob man denn behaupten wolle, in Ländern mit Mindestlohn gäbe es so was wie einen Arbeitskampf nicht mehr. Den gibt es schon, aber um was da gekämpft wird ist dann auch mal interessant zu betrachten. In Luxemburg gibt es einen extrem hohen Mindestlohn (und aus dem Land bekomme ich einiges mit wegen Kontakten zu einer Gewerkschaft dort). Da kämpfen sie jetzt aktuell darum, dass das Indexsystem beibehalten wird, also der Mindestlohn regelmäßig an die Inflation angepasst wird. Das finden die Herrschenden da nämlich gerade nicht mehr so toll, weil sich das nicht so richtig für sie rechnet. Von revolutionärem Bewusstsein bei den Arbeitern oder Gewerkschaften ist da jedenfalls keine Spur. Der größte Witz offenbart sich aber, wenn man sich dann die Wohnungskosten in Luxemburg ansieht. Die sind so unglaublich hoch, da bleibt zum Leben gar nicht viel mehr übrig als anderswo bei niedrigeren Gehältern. Der Mindestlohn nützt also den Hauseigentümern weitaus mehr als den Arbeitern.
    Es ist also durch einen Mindestlohn weder ein besseres Leben noch weniger Drangsale geboten, die Probleme werden einfach nur verschoben.
    Deswegen ist dieses typische Argument, es würde in anderen Ländern ja auch funktionieren einfach armselig, solange nicht gesagt wird, was da eigentlich wie funktioniert.

  9. earendil
    26. September 2013, 14:06 | #9

    Köper sagt (oben von Teh Asphyx zitiert):

    Die Linkspartei hat in ihrem Wahlprogramm das Kapitel „Die Krise überwinden“. Das ist eine klare Ansage. Die will politisch sich dafür engagieren, dass die Kapitalisten aus ihrer sinkenden Profitrate wieder rauskommen. Ist das böse gesagt von mir? Nein. Das machen die wirklich zur Bedingung ihrer guten sozialen Wohltaten. Ich lese vor: „Mit Steuern umsteuern. Reichtum ist teilbar.“ Lasst euch das mal eine Sekunde durch den Kopf gehen. Das ist die Behauptung, nur wenn die Reichen sich reich verdienen können, können wir überhaupt von denen ein bisschen was abzweigen um den Armen vielleicht was zu geben. Das ist die ganz ganz plumpe Aussage, nur wenn die herrschenden Interessen bei ihrem Einkommen zu was kommen, dann kann der Staat sich bei denen was holen und auch mal was Gutes tun. Das ist ein Bekenntnis dazu, dass auch diese Partei ihre sozialen Wohltaten vom Gewinn der Geschäfte der herrschenden Interessen abhängig macht.

    Damit projiziert er aber seine eigenen Gedanken (bzw. die des GSP), die in dem Punkt ja durchaus richtig sind, auf die Linkspartei, und das ist falsch. Die wollen das, wie alle unreflektierten Reformisten, ja eben nicht wahrhaben, dass für ihre „soziale Gerechtigkeit“ eine funktionierende kapitalistische Reichtumsvermehrung Voraussetzung ist! Die kriegen dann von rechts vorgehalten, dass das, was sie da verteilen wollen, doch erstmal erarbeitet werden muss. Und statt etwa da anzusetzen und nachzuhaken, wer denn da für wen etwas erarbeitet, erklären sie alle Hinweise auf kapitalistische Sachzwänge vollständig zu ideologischen, interessegeleiteten Lügen. Da ist ja auch was wahres dran, aber der objektiv richtige Anteil dieser Ideologie wird einfach ausgeblendet. Was natürlich nur solange funktioniert, bis die Linkspartei selber „in Regierungsverantwortung steht“, wie es so schön heißt. Dann melden sich die Sachzwänge des Kapitalismus ungebeten zurück und werden dann halt von Linksparteilern exekutiert.
    Es ist also ziemlich unsinnig, denen irgendwelche „klaren Ansagen“ und „Bekenntnisse“ zu unterstellen, die sie gar nicht tätigen, und die sie folglich auch bestreiten, wie das der Spehr ja auch sofort tut: „Nein, weil wir natürlich nicht das Entstehen privaten Reichtums rechtfertigen und bestimmt nicht für eine Bedingung, nicht mal für das funktionieren des Kapitalismus darstellen.“
    Stattdessen sollte man darauf hinweisen, dass das alles dort eben nicht steht, obwohl es logisch dazugehört.
    @Teh Asphyx: In der Pubertät rebellieren Menschen aber nicht (nur), weil irgendwas nicht stimmt, sondern um die eigene Persönlichkeit zu entwickeln und von anderen abzugrenzen. Und zumindest bei Erwachsenen kann man Rebellion um der Rebellion Willen durchaus kritisieren – sofern das denn tatsächlich der Fall ist und nicht bloß eine Denunziationsmasche, weil einem die Gründe der Rebellion nicht gefallen.
    @Mattis: In der Sache seh ich das ähnlich. Ich würde nur, wie Teh Asphyx, besser zwischen Ereignissen und Erfahrungen trennen als zwischen Erfahrung und Deutung. Erfahrungen sind ja bereits Deutungen von Ereignissen. Wenn zwei Menschen das gleiche passiert, müssen sie noch längst nicht dieselbe Erfahrung machen. Die Crux ist ja, dass Erfahrungen immer als quasi objektiv gewertet werden, obwohl sie das nicht sind.
    Wenn Arbeiter_innen von einem deutschtürkischen Unternehmer mit kärglichem Lohn abgespeist werden und dazu noch massig Überstunden hinlegen müssen, dann macht der Kommunist unter ihnen eine Erfahrung mit kapitalistischer Lohnarbeit, die Sozialdemokratin mit „Ausbeutung“, die Moralistin mit einem gierigen Menschen, der Rassist macht eine Erfahrung mit Türken, und die Liberale damit, sich für den falschen Arbeitgeber entschieden und unter Wert verkauft zu haben. Wenn der Kommunist nun meint, alle, die mit kargen Löhnen und langen Arbeitszeiten konfrontiert sind, würden die gleiche Erfahrung machen wie er selbst, ist er auf dem Holzweg. Vielmehr ist es ja so, dass sich Erfahrungen und Urteile gegenseitig beeinflussen, und er vielleicht eine andere Erfahrung gemacht hätte, wäre er nicht bereits Kommunist gewesen.
    (Andererseits sollte man auch nicht in Idealismus verfallen und Erfahrungen als völlig unabhängig von den objektiven Ereignissen ansehen.)

  10. 26. September 2013, 14:44 | #10

    earendil, du bist zu großzügig in deinen linken Unterstellungen, was die Linkspartei ist bzw. sagt. Natürlich gibt es immer wieder linke Unterstützer ja sogar einige Mitglieder der Partei, die die geradezu für das Gelbe vom (revolutionären) Ei halten. Vor allem dann, wenn diese Partei mal, was ja selten genug vorkommt, weil sie in der Kritik von links steht und nicht wie sonst immer, sich mit antikommunistischen Bürgerlichen rumschlagen muß, sich ein linkeres Mäntelchen umhängt (ob Spehr auch dazu gehört, darüber könnte man sich streiten).
    Wenn du meinst, „Die wollen das, wie alle unreflektierten Reformisten, ja eben nicht wahrhaben, dass für ihre „soziale Gerechtigkeit“ eine funktionierende kapitalistische Reichtumsvermehrung Voraussetzung ist!“ möchte ich entgegenhalten, daß die erstens total reflektiert sind, die machen das ja schon lange genug und zweitens auch so ehrlich sind, daß sie das sogar zugeben, daß eine „funktionierende kapitalistische Reichtumsvermehrung Voraussetzung ist“, für die paar Reformen, die sie im Parlament wenn schon nicht durchsetzen so dann doch wenigstens mal gefordert haben wollen.
    Wie ich an anderer Stelle geschrieben habe, schadet es in diesem Zusammenhang nicht, sondern ist recht erhellend (für manche sicherlich sogar ernüchternd) dort Schwarz auf Weiß zu lesen, was sie wollen, wie sie die Welt sehen, was sie wirklich nicht wollen und deshalb erst gar nicht in unnütze Sprüche modeln.
    Es ist also ziemlich *sinnig*, denen genau die „klaren Ansagen“ und „Bekenntnisse“ zu unterstellen, die sie so jetzt wieder in diesem Wahlkampf, z.B. in ihrem Programm den Menschen vortragen.

  11. 26. September 2013, 20:21 | #11

    Die Auffassung, daß jede Forderung, die in diesem System nicht umsetzbar ist, oder deren ausnahmsweise temporäre Erfüllung schnell wieder zunichte gemacht werden würde, weil sie nicht zur Profitmacherei paßt, damit auch schon per definitionem irgenwie revolutionär wäre oder wenigstens einer Revolution förderlich wäre, ist falsch, wenn auch schrecklich verbreitet:
    Von dieser Sorte Forderungen gibt es ja reihenweise welche: Besonders zugespitzt in dieser Logik war die provokante APPD mit ihrer ja nicht unsympathischen Wahlforderung vor einigen Jahren nach 1 Mio Dispo für jeden. Da klang aber schon durch, daß ein Millionärsleben für die Massen dieser Gesellschaft offensichtlich weder vorgesehen ist noch umsetzbar ist.
    Und wenn man wohlmeinend ist, kann man dann unterstellen, daß ein System, daß offensichtlich ein sorgenfreies Leben nicht zuläßt, daß die Bedürfnisse der Menschen nicht befriedigt, (und das will man ja als normaler Mensch haben, wenn man Millionär sein will) durch eines ersetzt gehört, daß dies ermöglicht. Und daß dafür dann dieser Staat, der das System des Privateigentums verteidigt, abgeschafft gehört. Und daß man dafür die Leute gewinnen muß, daß auch so zu sehen und dann umzusetzen. Das alles muß man dann den Leuten aber auch sagen.
    Es ist nur offensichtlich überhaupt keine Eigenschaft z.B. der Forderung der Linkspartei nach Mindestlohn, daß dieses Bewußtsein dadurch per se gefördert würde, vor allem nicht, wenn das, was die Leute an politschem Bewußtsein ihrer Lage entwickeln müßten, von den Propagandisten gar nicht angesprochen wird. Die meisten Menschen, die das fordern, sind doch entweder Betroffene, die den Mindestlohn „einfach nur haben wollen“ von diesem Staat und sich nicht im Geringsten deshalb schon zu Gegnern dieses Systems aufgestellt haben, zumeist alles andere als das, sehr häufig eben in der Haltung, die ich Bettelei genannt habe. Und dann gibt es die falschen Fuffziger unter den Linken, die angesichts der traurigen Ausgangslage, daß man prokapitalistischen Menschen nicht damit kommen darf (weil kann), denen das ausreden zu wollen, weil sie einem dann eine prompte Abfuhr erteilen, eine Forderung unterjubelt, die an ihrem beschränkten aktuellen Bewußtsein „anknüpft“, obwohl man weiß, daß sie das dann Geforderte eh nicht kriegen werden respektive können. Das ist zynisch wie nutzlos, jedenfalls wenn man Leute wirklich zu einer Revolution mobilisieren wollte.
    Weil Revolution jetzt nicht „geht“, bäckt man als Reformist, der fest auf dem Boden der „Realitäten“ steht, kleine bis kleinste Brötchen. Kommunisten hingegen „fordern“, propagieren ein Leben, eine Gesellschaft in der es sowas blödes wie ein Mindestlohn gar nicht mehr bräuchte, weil sowieso Prinzip der neuen Gesellschaft wäre, daß alle Menschen das bekommen, was sie brauchen, und ganz ohne Geld und Ausschluß von den notwendigen Sachen, wenn man wie jetzt keins hat. Also verkürzt: Nicht ein gesetzlicher Mindestlohn muß her, sondern für alle Abschaffung des Geldes (und der Umstellung der Produktion vom Prinzip der Kapitalakkumulation auf die Bedürfnisbedriedigung durch konkrete Planung der Sachen und Dienstleistungen, die dafür her müssen.)
    Es ist im übrigen eine interessierte Verdrehung, wenn alle reformistischen Billigheimer von der Caritas bis zur Partei Die Linke daher schwadronieren, daß eine Kritik an den Jämmerlichkeiten, für die sie eintreten, nur einer Verteidigung des Status Quo geschuldet sein kann. Damit haben z.B. schon seit Jahrzehnten DGBler immer alle linken Kritiker pauschal als fünfte Kolonne des Klassenfeinds denunziert.

  12. Mattis
    26. September 2013, 22:25 | #12

    @earendil:

    „Ich würde nur, wie Teh Asphyx, besser zwischen Ereignissen und Erfahrungen trennen als zwischen Erfahrung und Deutung. Erfahrungen sind ja bereits Deutungen von Ereignissen.“

    Der Begriff „Erfahrung“ ist doppeldeutig, er wird mal in der einen Weise, also inklusive der subjektiven „Verarbeitung“, mal in der anderen Weise, als erlebtes Ereignis, dem eine Beurteilung als eigenes Moment nachfolgt, verstanden.
    Wenn man Dinge sagt wie: welche Einsichten und Konsequenzen folgen für dich aus dieser Erfahrung, dann meint man m.E. die zweite Form. Erfahrung drückt in diesem Falle aus, dass der Betreffende in ein bestimmtes Ereignis involviert war; dieser Aspekt fehlt mir beim reinen Ereignis-Begriff.

  13. earendil
    27. September 2013, 11:26 | #13

    @Neoprene: Tut mir leid, aber ich sehe einfach nicht, dass die Linksparteiler_innen irgendwas ehrlich zugeben oder „total reflektiert“ wären. Dass sie schon lange im politischen Geschäft sind, ist dafür ja kein Argument – „Realpolitik“ lässt sich theoretisch unreflektiert (meist als „pragmatisch“ beschönigt) viel besser betreiben. Ich hab jetzt keine Lust, mir das ganze Wahlprogramm anzugucken, aber aus dem, was der Köper da zitiert, kann ich nicht „schwarz auf weiß“ rauslesen, was er (und du) rauszulesen meint, sondern das sind eher seine eigenen Schlussfolgerungen.
    In der Sache hab ich übrigens gar nichts gegen linke „Realpolitik“, also Verbesserungen innerhalb der Grenzen des Systems. Wie das ähnlich auch Köper sagte: Wenn wegen eines staatliche verordneten Mindestlohns Leute 10 € statt 5 € die Stunde kriegen, dann ist das gut und nicht schlecht. Nur sollte man sich dabei der Bedingungen und Grenzen, innerhalb der man da agiert, bewusst sein (natürlich ohne sie zu affirmieren), und vor allem nicht sich und anderen vorlügen, dass man damit sonstwas revolutionäres veranstaltet und dass etwa ein Mindestlohn für irgendwas anderes taugen kann als dafür, dass ein paar mies entlohnte Arbeiter_innen ein bisschen weniger mies entlohnt werden.
    @Mattis: Ok, ja. Diese Ambivalenz des Begriffs „Erfahrung“ macht es ja Leuten so leicht, diese beiden Ebenen zu vermischen.

  14. 27. September 2013, 12:30 | #14

    @earendil:
    Natürlich ist die Zuschreibung von „Ehrlichkeit“ zur Linkspartei einerseits schon ein weitreichendes Entgegenkommen um mit deren Anhängern überhaupt ins Gespräch kommen zu können. Andererseits poche ich aber darauf, daß man das schon für bare Münze nehmen sollte, was sie z.B. in ihrem Wahlprogramm sagen. Denn da sind sie, das mag eine Differenz zu einigen ihrer Unterstützer sein, ja in der Tat so „ehrlich“, wenn auch verquast, aber wie ich meine letztlich doch eindeutig, reihenweise Erklärungen für ihre Staats-, Demokratie- und Kapitalismustreue abzugeben. Daß dann hintendrangepappt kommt, daß irgendwann, irgendwie ein unbestimmter „Sozialismus“ her soll, das kann man dann wieder schon unter Geklingel abhaken.
    Die Leute, die der Linkspartei das Wahlprogramm geschrieben haben, sind so „reflektiert“ wie du und ich, eher mehr, zugespitzt in „total“. Mit Sicherheit jedenfalls haben sie sich genau überlegt, was sie überhaupt reinschreiben, wie sie es formulieren und was partout draußen bleiben muß. Ähnliches gilt auch für Auftritte wie den von Christian Spehr in Bremen. Das hat sich doch die Partei, und wenn es nur die Linkspartei in Bremen war, gut überlegt, warum sie überhaupt sich mit so einem wie Jonas Köper an einen Tisch setzten soll, was sie dort sagen lassen soll, worauf der Sprecher der Partei nichts sagen „darf“ usw. Das besondere der Veranstaltung war doch allen Beteiligten klar, das gibt es ja nun wirklich nicht regelmäßig. Ich kann mich z.B. nicht erinnern, in den letzten Jahren bei GSP-Veranstaltungen Interventionen von Leuten gehört zu haben, die explizit als Linksparteiler aufgetreten wären, ein paar Sympis werden sich schon hier und da mal zu Wort gemeldet haben, diefallen mir jetzt aber nicht ein. Wichtige Podiumsgespräche mit einer größeren politischen Bandbreite hat es in den letzten Jahren im linksradikalen Umfeld ja nicht allzuviele gegeben. (Zwei gab es erstaunlicherweise in Bielefeld!)

  15. Felix
    27. September 2013, 13:55 | #15

    Eine Veranstaltung mit einer ähnlichen politischen Bandbreite wird’s übrigens wiederum in Bielefeld geben. Und dann ist da ja auch noch die „Konferenz gegen Staat, Nation & Kapital“ Anfang Oktober in Stuttgart. Die ist von Seiten der Referenten dermaßen „pluralistisch“, dass man’s kaum glauben mag. Das reicht vom GegenStandpunkt über TOP Berlin, dem Linkspartei-Entristen Sandleben, dem unvermeidlichen Ebermann bis zu Antideutschen wie Galow-Bergemann und Joachim Bruhn. Keine Ahnung was das soll …

  16. 27. September 2013, 17:04 | #16

    Was ich mich frage, was so unterschiedliche Organisationen wie die Bielefelder Gruppe, die ja eher zu ums Ganze gehört und ein traditionslinker Verein wie die MASCH Hamburg beide Renate Dillmann und dazu Rüdiger Mats haben wollten.

  17. Heinrich
    27. September 2013, 20:17 | #17

    „Eine Veranstaltung mit einer ähnlichen politischen Bandbreite wird’s übrigens wiederum in Bielefeld geben.“

    Nein, das glaube ich nicht. Nach dem, was ich von Mats, Renate Dillmann und Ewgeny Kasakow kenne, würde ich sagen, die liegen nicht sehr weit auseinander.

  18. Felix
    27. September 2013, 21:25 | #18

    Das mag schon sein. Bei den beiden Bielefelder Diskussionen mit Renate Dillmann und Ilka Schröder bzw. Peter Decker und Michael Heinrich konnte aber doch von unüberbrückbaren Differenzen nun wirklich überhaupt keine Rede sein. Klar, es gab bei der zweiten Debatte den Streit über den Stellenwert von „Erfahrungen“. Ansonsten war’s aber doch beide Male erstaunlich, wie wenig kontrovers das ablief. In Stuttgart wird das angesichts der angekündigten Referenten voraussichtlich etwas anders sein.

  19. Mattis
    27. September 2013, 22:02 | #19

    Die Frage ist, auf was kommt es den Referenten an … wenn die vielleicht gar nicht bezwecken, ihre Unterschiede groß rauszustreichen; könnte ja sein; ich weiß es nicht.
    Ich bin mir über den Sinn solcher „breiten“ Veranstaltungen nicht so im Klaren, es sei denn, für jeden ist genügend Zeit und das Publikum ist ausdauernd genug. Dann sollten aber auch die Unterschiede deutlich werden, was soll das sonst.

  20. Felix
    27. September 2013, 23:15 | #20

    @ Neoprene
    Das wird wohl ganz einfach daran liegen, dass beide mittlerweile einen Ruf als Experten in Sachen Realsozialismus bzw. China haben, die ihre Kritik formulieren, ohne Antikommunisten geworden zu sein.
    Es hat übrigens den Anschein, als ob sich im „traditionslinken“ Spektrum in Hamburg so einiges tut. Neben der MASCH-Tagung wird nämlich gerade die „2. Hamburger Veranstaltungsreihe Oktober bis Dezember 2013: Bürgerliche Herrschaft in der Krise“ angekündigt.
    Am Donnerstag, 14. November 2013, 19 Uhr an der Universität Hamburg, Von-Melle-Park 9 (Ex-HWP), Raum 29 (EG) gibt’s z.B. eine Veranstaltung mit Freerk Huisken zum Thema „Was verbindet die demokratischen Anhänger des bürgerlichen Staates mit den Faschisten?

  21. 28. September 2013, 08:11 | #21

    @ Felix
    „Das wird wohl ganz einfach daran liegen, dass beide mittlerweile einen Ruf als Experten in Sachen Realsozialismus bzw. China haben, die ihre Kritik formulieren, ohne Antikommunisten geworden zu sein. “
    Das ist jetzt recht freundlich formuliert. Rüdiger Mats hat z. B. auf meinem Blog dieses Lob nicht allzuhäufig gekriegt, jedenfalls von Kommentatoren und Renate Dillmann ist z.B. von Alt-SEDlern bei der jungen Welt auch nicht so behandelt worden. Deshalb wunderte mich ja, daß nun die Hamburger DKPler defakto davon abrücken.

  22. Felix
    28. September 2013, 12:03 | #22

    Es ist ja richtig, dass in den Diskussionen Renate Dillmanns mit Helmut Peters und Ingo Nentwig 2009/2010 offenkundig geworden ist, dass in der Beurteilung Chinas (und des Realsozialismus überhaupt) ein sehr grundsätzlicher Dissenz besteht. Wenn ein „traditionslinker“ Verein wie die MASCH Renate Dillmann und Rüdiger Mats dennoch zu ihrer Tagung einlädt, dann m.E. aus dem oben genannten Grund: Die kommen offenbar ihrer eigenen Einschätzung nach nicht mehr darum herum, auch solche „abweichenden Meinungen“ zur Kenntnis zu nehmen und nicht mehr wie die Jahre zuvor einfach zu ignorieren.
    Die Einladung von Freerk Huisken im Rahmen der Veranstaltungsreihe würde ich mir übrigens ebenfalls so erklären. Deshalb auch meine Bemerkung, dass in dieser Szene offenbar was in Bewegung geraten ist.

  23. 28. September 2013, 18:24 | #23

    Daß mit der Begründung

    „Die kommen offenbar ihrer eigenen Einschätzung nach nicht mehr darum herum, auch solche „abweichenden Meinungen“ zur Kenntnis zu nehmen“

    scheint mir zu optimistisch zu sein: Vielleicht haben sie es gemacht, weil sie sowas befürchtet haben, aber ich habe jedenfalls nicht mitgekriegt, daß nach den Streitereien mit Peters (bei der jungen Welt) unf Nentwig (in Köln) ersichtlich geworden wäre, wer das gewesen sein sollte, der in deren Umfeld GSP-Positionen wenigsten soweit erwägenswert gefunden hätte, daß man seine Sympis dagegen hätte immunisieren müssen durch eine offensive kritische Auseinandersetzung, die es ja bei Lichte besehen noch nicht mal gegeben hat.
    Auch das Podiumsgespräch mit Spehr in Bremen scheint mir nicht aufgrund des Drängens irgend einer merklichen linkeren Tendenz in dessen Reihen geschuldet gewesen zu sein. Jedenfalls hat Spehr sich ja null Mühe gegeben, auf den GegenStandpunkt argumentativ einzugehen sondern hat die älteren Linken seit Jahrzehnten bekannten Vorwürfe abgelassen, arrogante Seminarmarxisten, die die redlichen „Kommunisten“ in ihren schwierigen Kämpfen, vor allem Wahlkämpfen, im Regen stehen lassen usw.
    Es ist zumindest bei den von mir angeführten Veranstaltungen auch nicht aus irgendwelchen Publikumsbeiträgen zu schließen gewesen, daß sich die Linken-Führung zu recht Sorgen machen müßte um ihren linken Rand.
    Und nicht zuletzt hat in letzter Zeit auch niemand auf irgendwelche Veröffentlichungen, also ernstere Statements von Linken aus diesem Milieu, hinweisen können, was zu solcher Hoffnung hätte Anlaß geben können.
    Mit einem Wort, ich weiß nicht, was die Linkspartei(ler) dazu bewegt hat, sich wenigstens mit GSPlern auf ein öffentliches Podium zu setzen, aber daß das ein Beleg dafür wäre,

    „dass in dieser Szene offenbar was in Bewegung geraten ist,“

    halte ich zumindest für verfrüht, um es mal optimistisch zu bezeichnen.

  24. Felix
    4. Oktober 2013, 22:45 | #24

    Eine weitere Veranstaltungsreihe, diesmal in Berlin: Let’s talk about class!
    Organisiert wird das Ganze von der Onlinezeitung TREND und der North East Antifascist [NEA]

  25. Felix
    10. Oktober 2013, 14:56 | #25

    Und wieder Berlin, im Oktober/November 2013 : Wissenschaftliche Veranstaltungsreihe des AStA FU Sozialreferats zum Thema Gentrifizierung
    „Diese Fragen will der Workshop klären und damit ein Stück Wahrheit darüber behaupten, dass diese Gesellschaft ohne systematische Erzeugung und Aufrechterhaltung von Armut nicht existieren kann, den Betroffenen Armut also als deren dauerhaftes Lebensbewältigungsprogramm aufgenötigt wird.“

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