Stichwort Nation (vonmarxlernen)
Die in letzter Zeit zunehmend rührigeren Genossen der NRW-GSPler vonmarxlernen.de haben einen Text zum Stichwort Nation geschrieben, den ich hier auch dokumentieren möchte, die Ausführungen des GegenStandpunkts zu diesem Thema waren ja auch hier schon häufiger Gegenstand, vor allem GegenStand der Kritik.
„Nation ist eine ebenso elementare wie wirkmächtige Ideologie vor allem bürgerlicher Staaten, mit der eine Einheit von Staat und Volk behauptet wird. Das tatsächliche Herrschaftsverhältnis – der Staat unterwirft seine Gesellschaft per Gewalt, verpflichtet sie auf die Geltung des Eigentums und richtet sie damit als Klassengesellschaft ein –, wird umgedeutet in eine vor-staatlich begründete Gemeinschaftlichkeit, der die bürgerliche Staatsgewalt dient und der sie durch Gründung des nationalen Staats Ausdruck verleiht.
In der Definition ihrer nationalen Ziele geben Staaten ihre „raison d’être“ programmatisch nach innen wie außen bekannt. Die praktizierte Zustimmung ihrer Bürger und ihr darauf basierender Erfolg in der Konkurrenz der Nationen macht das staatliche Wunschdenken wahr (oder nicht). Die Ideologie einer Identität von Herrschaft und Beherrschten wird so zur realen Gewalt.
Bürgerliche Staaten setzen Macht und Mittel dazu ein, ihre Gesellschaft der Geltung des Eigentums und seiner Vermehrung zu unterwerfen. Sie verwalten die damit ins Leben gerufenen Gegensätze produktiv und setzen sich nach außen für die Förderung der Geschäftsmöglichkeiten ihrer Unternehmer ein, um ein Wirtschaftswachstum in Gang zu bringen, an dem sie partizipieren.
Seit der französischen Revolution, also mit Durchsetzung des bürgerlichen Staats, ist der Nationalstaat die übliche Form der Staatsgründung. Der territorialen Abgrenzung nach außen entspricht im Inneren die Konstitution des Staatsvolks. Sie beruht einerseits auf der gelungenen Durchsetzung einer zentralen Staatsgewalt gegen alle partikularen (feudalen, stammesmäßigen, ethnischen, religiösen etc.) Sonderinteressen und der Verpflichtung aller Bürger auf die Geltung des Eigentums. Darin erschöpft sie sich allerdings nicht. Bürgerliche Herrschaft verlangt von ihren Untertanen mehr als pure Unterwerfung unter die Gewalt einer Obrigkeit und ihrer Gesetze: ein auf Wille und Bewusstsein basierendes, bis in die Gefühlswelt reichendes Verpflichtungs- und Zusammengehörigkeitsverhältnis. „Italien ist gemacht, jetzt müssen wir Italiener machen“ (Massimo d’Azeglio, Mitbegründer des modernen italienischen Nationalstaats). Zusätzlich zu der realen Zuständigkeitserklärung, die die Staatsgewalt gegenüber den Bürgern praktiziert, indem sie sie mittels Pass und Unterwerfung unter ihre Vorschriften (Recht) und Ansprüche (Steuern, Wehrpflicht etc.) zu „ihren“ macht, legt sie deshalb Wert auf eine fest verankerte ideologische Deutung dieses Herrschaftsverhältnisses. Das leistet der Gedanke der Nation bzw. die Stiftung einer nationalen Identität.
1. Die Staatsgewalt, die ansonsten das Recht setzt, beruft sich in dieser Konstruktion auf die Nation als ihren sie verpflichtenden Auftraggeber. Damit ist eine höhere, der Staatsgewalt selbst unverfügbare Rechtsqualität fingiert. Das von der politischen Klasse Gewollte wird so in den Rang eines Imperativs erhoben, der schon mit der Existenz des Staates (in manchen Fällen sogar schon vorher) gegeben sein soll. Rechtfertigende Umwege über Moral, nachweislichen Nutzen für die Untertanen oder sonstige „sachfremde“ Gesichtspunkte entfallen. Mit „Nation“ wird ein absoluter Rechtstitel des staatlichen Handelns eingeführt. Die tatsächlich stattfindenden politischen Aktionen werden davon gedanklich unterschieden; sie verstehen sich als Dienst an diesem unwidersprechlichen Oberzweck und werden daran gemessen.
Das ist der Inhalt der „nationalen Sache“, mit der jedes politische Tagesgeschäft seine prinzipielle Weihe erfährt.
2. Als ideeller Auftraggeber des Souveräns ist „das Volk“ gedacht. In dieser Logik werden die sozialen Charaktere der bürgerlichen Gesellschaft – Arbeiter, Bauern, Groß- und Kleinhändler, Fabrikanten Bankiers, Rentiers und Rentner – die sich realiter durch eine Reihe von Unterschieden und Gegensätzen auszeichnen, ideell zu einer Einheit zusammengefasst. Dabei wird nicht geleugnet, dass die diversen „Volksgenossen“ ihre Mitgliedschaft in der Nation sehr unterschiedlich genießen bzw. bezahlen; dies wird nur anders gedeutet: als unterschiedlicher Dienst, den die gesellschaftlichen Stände der gemeinsamen „Sache“ bringen.
Als „nationales Kollektiv“ wird die Manövriermasse der Staatsgewalt zweitens zum Subjekt all dessen ernannt, was ihre Herrschaft mit ihr anstellt. Alles, was mit ihm geschieht, wird dem Volk als seine „Geschichte“ zugeschrieben. Die Ergebnisse politischer Herrschaft, die sich einen ganzen Menschenschlag zum Mittel macht, werden so umgekehrt in den gemeinschaftlichen Lebensprozess eines fiktiven kollektiven Subjekts.
3. Diese ideologischen Umdeutungen der Klassengesellschaft und ihrer staatlichen Betreuung erfahren keine Zurückweisung. Sie sind geglaubtes Allgemeingut und fester Bestandteil bürgerlichen Selbstverständnisses.
Die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft verfolgen ihre Interessen als die sich wechselseitig ausschließenden von Privateigentümern; ihr individueller Nutzen kommt nur als Schädigung der anderen zustande. In der Konkurrenz um Geld neigen sie dazu, die Freiheit des Eigentums ihres Gegenübers zu missachten, was ihnen umgekehrt als Gefährdung ihres Eigentums, ihres Lebens und ihrer Freiheit durch die Mitbürger erscheint. Statt „nationaler Zusammengehörigkeit“ und „Gemeinschaft“ nehmen sie von diesem Standpunkt aus die Gesellschaft, auf die sie angewiesen sind, als Hauen und Stechen wahr („bellum omnium contra omnes“). Um ihre Interessen als Privateigentümer zu wahren, wollen sie die Unterwerfung der Gesellschaft unter eine Staatsgewalt, die zwar auch ihre persönlichen Interessen rechtlich und ökonomisch beschränkt (Gesetze und Steuern), dadurch aber die allgemeine Anerkennung und Aufrechterhaltung von Person, Eigentum und Gesellschaft, die sie zu ihrem Vorteil ausnutzen wollen, garantiert.
So ordnen sie sich der Gewalt, die sie auf die eigen-tümliche Art und Weise ihrer Interessenverfolgung festgelegt hat, berechnend unter. Sie denken egoistisch an sich – und begründen damit ein Verhältnis prinzipieller Loyalität gegenüber der Instanz, die ihr „Leben“ in der kapitalistischen Ökonomie tatsächlich erst möglich macht. Und zwar klassenübergreifend: auch wenn nur eine Minderheit der bürgerlichen Gesellschaft materiell auf ihre Kosten kommt, brauchen tatsächlich alle ihre Mitglieder die politische Gewalt und ihre Aktivitäten. Der moderne „soziale“ Kapitalismus hat es dabei soweit gebracht, dass gerade die materiell Geschädigten auf nichts so sehr angewiesen sind wie auf die sozialstaatliche Betreuung ihrer Armut.
Das vom Staat durch seine Eigentumsordnung erzwungene Bedürfnis seiner Bürger nach einer gewaltsamen Betreuung ihrer Konkurrenz, begründet also „Einsichtigkeit“ und Wirkmächtigkeit des ideologischen Deutungsangebots. Ihre praktische Abhängigkeit von seiner Gewalt übersetzen die Bürger in die Vorstellung einer Einheit von Volk und Staat in der Nation, damit in das Bild einer dienstbaren, fürsorglichen Staatsgewalt. Das antagonistische Verhältnis der konkurrierenden Privateigentümer ergänzen sie um das Ideal einer unverbrüchlichen nationalen Gemeinschaft: Brüderlichkeit.
Zwischenfazit: „Nation“ stiftet gegenüber dem schäbigen Alltag der konkurrierenden Interessen in der Klassengesellschaft und ihrer Verwaltung durch die politische Gewalt den nötigen und passenden Sinn. Bei alledem soll es sich um einen Dienst am Gemeinsamen und Höheren handeln – so sollen vor allem die materiell Geschädigten das, was sie schädigt, auffassen und sich zu weiteren Opfern animieren lassen. In diesem Sinne funktioniert „Nation“ wie eine säkularisierte Religion.
Staat und Volk entwickeln dabei das Bedürfnis, der Lüge von der Einheit, dem nationalen Kollektiv, praktischen Ausdruck zu verleihen. Ein Bundespräsident, nationale Gedenktage, Museen deutscher Geschichte, Feiertage deutscher Kultur bieten und verlangen die Identifikation des einzelnen mit „seiner“ Nation ebenso wie die Spiele der deutschen Fußballnationalmannschaft. Der einzelne kann und soll sich als Teil eines viel bedeutenderen Ganzen erleben und durch dessen Erfolge, Niederlagen sowie Symbole seiner Selbstdarstellung (Flagge, Hymne) zu tief empfundenen Gefühlen gerührt werden.
Im Staatsbürgerschaftsrecht erhebt der bürgerliche Staat die Ideologie einer an „seinen“ Menschen auffindbaren nationalen Identität zur praktischen Leitlinie seiner Gesetzgebung. Er definiert über biologische (ius sanguinis) oder territoriale (ius soli) Kriterien, welche Individuen zu ihm gehören. Von diesen scheidet er alle anderen als Untertanen fremder Herrschaft. Soweit sie sich in seinem Territorium aufhalten wollen, unterzieht er sie seinem Asyl- oder Ausländerrecht, stellt sie damit unter einen generellen Vorbehalt und stattet sie mit minderen Rechten aus. Seine Staatsbürger können sie nicht aus eigenem Willen und Beschluss heraus werden – einem Staat kann man nicht „beitreten“ wie einem Sportverein. Wie auch immer Staaten das im Einzelfall regeln – stets liegt einem solchen Akt der Zulassung der staatliche Anspruch zugrunde, dass die neuen Bürger ihm ab sofort ihre unbedingte und vor allem ungeteilte Loyalität schulden.
Nach außen, im Verhältnis der Staaten untereinander, stellt die Berufung auf die Nation im Katalog diplomatischer Instrumente einen hohen und entsprechend unwidersprechlichen Rechtstitel dar. Moderne Staaten gehen untereinander ein Verhältnis berechnender Anerkennung ein, um ökonomisch gegeneinander zu konkurrieren. Daraus entspringen eine ganze Reihe von Gegensätzen (im Handel, Geld- und Kapitalverkehr etc.), die die Staaten zu ihrem Vorteil zu „regeln“ versuchen; dafür setzen sie die ökonomischen ebenso wie die politischen (und als „ultima ratio“ militärischen) (Erpressungs-)Mittel ein, die ihnen zu Gebote stehen. Entsprechend viel haben moderne Staaten diplomatisch zu verhandeln. In diesen Verhandlungen ist neben konkreten Gegenständen immer auch sehr prinzipiell der Respekt Thema, den sich die Staaten als Nationen „überhaupt“ entgegenbringen – oder verweigern. An der Behandlung des Botschafters, der die Nation vertritt, an der Häufigkeit von Staatsbesuchen, am Kultur- und Jugendaustausch, an den Texten von Schulbüchern – an allem lässt sich vorführen oder ablesen, wie die eigene die fremde Nation schätzt oder missachtet (und vice versa). Nationale Symbole sind ein ebenso ernstes Thema wie Kriegsschuldfragen, die noch nach Jahrzehnten aufgetischt werden; und nationale Rechtstitel wie die Berufung auf eine deutsche Minderheit, die es irgendwann im Mittelalter mal irgendwohin verschlagen hat, werden je nach Bedarf aus der Tasche gezogen – was lächerlich klingt, es aber nicht ist. Die materielle Substanz liegt darin, dass sich in solchen Kindereien der Stand der imperialistischen Konkurrenz von Staaten um Über- und Unterordnung ausdrückt. Wenn Nationen „vitale Interessen“ tangiert sehen oder nationale Rechtsansprüche auf Gebiete und Menschen ins Spiel gebracht werden, ist allen beteiligten Parteien die Unbedingtheit des vorgetragenen Anspruchs klar, der keine Kompromisse erlaubt und den Übergang zur gewaltsamen Auseinandersetzung in sicht trägt bzw. naherückt.
Das Auftreten einer Nation in der Welt liefert ihren Bürgern Material, sich als gute Patrioten zu erweisen. Erstens werden sie für die Konkurrenzinteressen ihrer Nation praktisch in die Pflicht genommen – in „friedlichen Zeiten“ hauptsächlich ökonomisch, in den daraus resultierenden gewalttägigen Auseinandersetzungen um die Weltordnungskompetenz ihres Staates als dessen Personal. Die wirkliche Konkurrenz der Staaten übersetzen sich ihre Bürger zweitens in ein Bild von dieser; je nach Lage, Weltbild und Geschmack vergleichen sie Zahlungsbilanzen oder sportliche Leistungen, harte Währungen, Lebensstile oder Kulturen. Im Normalfall sind die Bürger selbstbewusst-stolze Angehörige ihrer Nation – und treten im Ausland oder gegenüber Ausländern entsprechend unangenehm auf; kritisch gestimmte Gemüter sind enttäuscht oder schämen sich (etwa für Untaten der Vergangenheit) und unterstreichen damit nur, für wie hervorragend sie ihre Nation eigentlich halten.
Die bürgerliche Erklärung von Nation behauptet eine vorstaatliche Gemeinschaftlichkeit einer Gruppe von Menschen, die sich in der Nation die ihr gemäße Wirklichkeit schafft.
Als Kriterien, die diese Menschen verbinden bzw. von anderen unterscheiden, werden Sprache, Geschichte und Kultur genannt – was logisch nicht haltbar ist. Weder ergeben sich aus diesen Momenten zwingend Nationalstaaten (siehe die diversen deutschsprachigen Staatengebilde), noch sind Nationalstaaten notwendig auf ihr Vorhandensein angewiesen (siehe die Schweiz als dreisprachigen Staat). Bei näherer Betrachtung erweisen sich Sprache, Geschichte und Kultur vielmehr als vom nationalen Staat hergestellte Momente, mit denen (unter anderen) er eine Summe von Menschen zu seinen Bürgern macht. Eine einheitliche Sprache beispielsweise setzt er im Normalfall als gemeinsame Hochsprache gegen alle überkommenen Mundarten durch. Werke von Dichtern und Denkern werden zu Bestandteilen einer nationalen Kultur erklärt, gleichgültig dagegen, ob sie diese Qualität als Gedicht, Musikstück oder Gedanke an sich haben oder nicht. Und zu „ihrer“ gemeinsamen Geschichte kommen Menschen normalerweise dadurch, dass ein Staat sie als Mittel seiner Erfolge und Niederlagen in Anspruch nimmt.
Sprache, Geschichte und Kultur haben insofern den Stellenwert von Bildern, die veranschaulichen, dass der nationale Zusammenhang zwischen Menschen seinen Grund nicht im banalen Umstand ihrer Unterwerfung unter eine staatliche Gewalt hat, die sie per Pass zu ihren Untertanen macht.
Moderne Betrachtungen des Themas Nation argumentieren funktionalistisch. Sie bemerken, dass es sich beim „Mythos Nation“ um eine „Konstruktion“ handelt, die ein Staat in die Welt setzt, um den nötigen sozialen Zusammenhalt seiner Gesellschaft zu stiften. Im Normalfall ist das allerdings weder als Kritik an der „nationalen Identität“ gemeint noch ist es Auftakt zu der Frage, warum Staat und Gesellschaft einen verlogenen „Mythos“ als sozialen „Kitt“ benötigen.“
Die Kursivierungen des Originals sind mir wie zumeist leider verloren gegangen. Wem es um deren Extrabetonungen geht, der möge bei vonmarxlernen nachlesen.
Wenn vonmarxlernen schreiben:
dann ist die Frage naheliegend, wer denn die hier als Willensinhaber vorstellig gemachte „politische Klasse“ sein soll. Denn eine ökonomische Kategorie soll das ja wohl ganz bewußt nicht sein. Und wer zur anderen Klasse der dann wohl Unpolitischen zählt.