Die Krise als Ende eines Schneeballsystems?
Exploring the Logic of Capital
David Harvey interviewed by Joseph Choonara, Socialist Review, April 2009Some commentators view the current crisis as arising from problems in finance that then impinged on the wider economy; others see it as a result of issues that arose in production and then led to financial problems. How do you view it?
It’s a false dichotomy that’s being posed. There is a more dialectical relationship between what you might call the “real” and “financial” sides of the economy. There is no question that there has been an underlying problem of what I would call “over-accumulation” for a considerable time now. And in part the movement into investing in asset values rather than production is a consequence of that. But as the search for new forms of asset value developed you also saw financial innovation that created the possibility of investment in hedge funds and those sorts of things.
There was a long-term process in which the rich looked for reasonably high rates of return and began to invest in a whole series of Ponzi schemes – but without Bernard Madoff at the top. In the property market, stock market, art market and derivatives markets, the more people that invest, the more prices go up, which leads to even more people investing. All of those markets have a Ponzi character to them. So there is a financial aspect to the crisis but unless you ask why the most affluent were taking that path you miss out on the real problem.
Der Rest des Interviews imSocialist Review
Wen’s interessiert, noch ein abweichendes Urteil zum Kettenbriefsystem:
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Aufschwung ohne Ende oder Game over?
06. Juli 2009, 20:01 Uhr
Während meines Studiums standen Lehrbuchklassiker wie „Economics“ von Samuelson/Nordhaus auf der Tagesordnung und Gott weiß, was ich in meinem Leben alles hätte werden können, wenn ich der lehrplanmäßigen Lektüre die gebotene Demut entgegengebracht hätte. Habe ich aber nicht, denn viel spannender waren die Texte von Marx und Minsky, Kalecki und Robinson, und vor allem die eines deutschen Sachbuchautors namens Paul C. Martin. Der schrieb obendrein frech wie Oskar und goss den Spott in Kübeln über die Weisheiten der reinen Lehre. So unterhaltsam seine Bücher waren, für das Literaturverzeichnis der Diplomarbeit eigneten sie sich definitiv nicht. „Cash – Strategie gegen den Crash“ oder „Der Kapitalismus – ein System das funktioniert“ – nur zwei der zahlreichen Titel des ehemaligen Friedman-Schülers Martin, mit denen er seine gänzlich „andere“ Sicht der Wirtschaft vehement in die Öffentlichkeit trug. Immer wiederkehrende Motive bei Martin sind der Staatsbankrott und das finale „Game over“ des kapitalistischen Systems – Topoi also, die im Zuge der Krise wieder verstärkt ins Blickfeld geraten sind. Ich habe mich mit Paul C. Martin kürzlich unterhalten:
Herr Dr. Martin, ist der Kapitalismus ein System, das funktioniert?
Die Essenz des Kapitalismus ist der Kredit. Finden sich genügend Kreditgeber und in entsprechender Höhe Schuldner, funktioniert das System auf der ersten Stufe. Da die Kreditnehmer Zinsen schuldig sind und überdies Gewinne realisieren wollen, bedarf es ab der zweiten Stufe zusätzlicher Kreditgeber bzw. – nehmer, da die von den Unternehmen ausgezahlten Faktorkosten nicht ausreichen, um die Märkte zu räumen. Diese zeitlich späteren „Nachschuldner“ müssen die zu zahlenden Zinsen bzw. zu realisierenden Gewinne finanzieren – und so immer weiter. Damit ist der Kapitalismus ein Kettenbrief. Fallen die erforderlichen Nachschuldner aus, kommt es auf den zeitlich vorgelagerten Stufen zu Krisen und Kollaps.
Klingt stark danach, als würden sie „Gleichgewichtsmodelle“ ablehnen und mit ihnen die Sichtweise der etablierten Ökonomie?
Ja. Die Wirtschaft kann niemals im Gleichgewicht sein. Die entsprechenden Modelle sind schlicht primitiv, weil sie – wie auch Prof. Binswanger ausführt – auf dem Tauschparadigma basieren. Sog. „Tauschwirtschaften“ hat es nie gegeben (vgl. Dalton, Polanyi, u.a.), sieht man von Geschenken oder dem Protztausch zwischen antiken Herrschern ab.
Wer ist Ihrer Meinung nach dann schuld, an der aktuellen Krise?
Erstens die fehlenden Nachschuldner: Hätte eine weitere Million mexikanischer Wanderarbeiter US-Häuser gekauft, wären die Preise weiter gestiegen und die Krise wäre noch nicht ausgebrochen. Zweitens die Refinanzierung der heute langlaufenden sogenannten „toxischen“ Papiere mit Hilfe kurzfristiger Commercial Papers. Dieses „Aus-kurz-mach-lang“ musste über kurz oder lang scheitern. Außerdem haben die Ratingagenturen völlig am Risiko vorbei bewertet. Und schließlich ist den Aufsichtsbehörden die Existenz von „Conduits“ (Schattenbanken) gänzlich entgangen.
Eine teuflische Rückkopplung, denn um Nachschuldner zu werden, hätten die mexikanischen Wanderarbeiter (oder wer auch immer) weiterer Einkommen bedurft, und justament um die zu ermöglichen, wurden seitens der Politik doch die laxe Aufsicht und die lose Geldpolitik praktiziert, oder?
Nein. Die sogenannten „Subprime“-Käufe setzten keinerlei Einkommen oder deren Nachweis voraus. Dass die Aufsicht nicht nur lax, sondern überhaupt nicht vorhanden war, kommt ebenso dazu wie die Tatsache, dass die Greenspansche Geldpolitik nach dem Platzen der dot.com-Blase eine fast kostenfreie Einladungskarte zum zusätzlichen Schuldenmachen darstellte. Dabei dachten die Käufer, ewig steigende Hauspreise würden die Immobilien quasi „von selbst“ finanzieren.
Sie vertreten eine „Machttheorie“ des Geldes und des Zinses – könnten Sie die näher beschreiben?
Der erste Zins (altdeutsch: „Zinnß“) ist die sanktionsbewehrte Abgabe in Realien an die Macht, also eine Schuld ex nihilo ohne vorangegangene Kontrakte. Um die Realien vergleichbar zu machen, wurde vom jeweiligen Machthaber Silber als Standard eingeführt: in Mesopotamien 1 Schekel = 180 Gerstenkörner.
Und wie entwickelte sich daraus dann unser modernes Geld- und Kreditsystem?
Wurden die Abgaben nicht termingerecht geleistet, kam es zu Sanktionen: Wegnahme des Subsistenzlandes (ca. 1,5 ha), Schuldknechtschaft der Familienmitglieder, allgemeine Überschuldung, wovon Zehntausende von Tontafelurkunden Zeugnis geben. Um die Gemeinschaften nicht zu zerreißen, führten die Herrscher Erlassjahre ein („clean slates“, in Rom „novae tabulae“, vgl. noch Catilina) und die nächste Runde startete. Investivkredite gab es nicht, es gab weder freie Unternehmer, sondern nur Palasthändler und keine freien Lohnarbeiter.
Die für die Abgaben verantwortlichen Verwalter beschafften sich die Differenz zwischen Soll und Ist bei ihresgleichen – Reste vorangegangener Stammessolidarität. Die entsprechenden Dokumente konnten vor Fälligkeit diskontiert werden. Aus dem Diskont entstanden die ersten „Geschäftszinsen“, die noch von Abgabenzinsen abgeleitet waren, aber keinerlei „investiven“ Zwecken dienten. Das wurde das Geschäft einiger Bankiers, die als Wucherer auftraten. Aus der schwierig zu berechnenden Abzinsung wurde der Einfachheit halber die Aufzinsung. Gleichzeitig verselbstständigten sich die Palasthändler mit Hilfe von privaten Geschäften mehr und mehr und wurden zu normalen Händlern, die im 1. Jahrtausend in Babylon schließlich sogar Produktenbörsen im modernen Stil betrieben.
Der Staat ist also demzufolge das Movens der kapitalistischen Wirtschaft?
Ja. Der Kapitalismus ist ein Staatsbastard. Er besichert mit eingesetzter bzw. angedrohter Waffengewalt das Kapital als privates Eigentum und sorgt für die Erfüllung privater Kontrakte. Beides ist ohne Staatsmacht nicht definierbar.
Können dann Staaten wie die USA, Japan oder Deutschland überhaupt bankrottgehen?
Ja. Entweder durch Repudiation von Staatstiteln oder spätestens, sobald die Zinsen auf die aufgelaufenen Staatsschulden das laufende frei verfügbare Steueraufkommen übersteigen.
Die großen westlichen Industriestaaten sind zwischen 70 und 100% des BIP verschuldet, Japan mit fast 200%. Wo liegt Ihrer Meinung nach die Grenze?
Es gibt keine „objektive“ Grenze, bestenfalls eine psychologische. Die ist erreicht, sobald die Bürger merken, dass die Staatsschulden nicht mehr zurückgeführt werden können und sich von der Idee verabschieden, dass der Staat als Nachschuldner-Krisen in den „Griff“ kriegen könnte. Schulden lassen sich nicht mit noch höheren Schulden tilgen.
Was dann – Inflation à la Weimar oder Haircut à la Argentinien?
Weder noch. Denn beides waren staatsinduzierte Phänomene. Ich rechne damit, dass diesmal der Markt mit Verbrauchern und Produzenten die Dinge in die Hand nimmt. Falls wir eine Inflation erleben, muss sie vom Verbraucher ausgehen, der das gute alte Schuldenmachen via Kreditkarten wieder entdeckt. Danach sieht es derzeit (noch) nicht aus, da die US-Sparquote inzwischen von unter null auf fast 6 Prozent gestiegen ist. Einen argentinischen Haircut halte ich für ausgeschlossen, zumal dieser nur den Peso, aber nicht die dort liegenden Dollarbestände bzw. Forderungen betraf. Ein Kursverfall der Staatstitel wäre in den überschuldeten Staaten dann der marktinduzierte Haircut.
Wenn alle Industriestaaten gleichermaßen gegen die Krise ankämpfen und sich dafür maximal verschulden, wie muss man sich dann einen Staatsbankrott in der Praxis vorstellen?
In der Praxis ist er am Verfall das Staats-„Kredits“ erkennbar. An den Kapitalmärkten an rasch stürzenden Kursen.
Sie waren einer der Letzten, die Hjalmar Schacht interviewt haben. Was meinen Sie, was hätte er gegen die Krise unternommen?
Damals: Verweigerung der Zahlung der Schulden aus dem Versailler Vertrag sowie eine frühere Einführung und massive Ausdehnung der (fiktiven) Mefo-Wechsel.
Klingt fast nach Ben Bernanke anno 2008. War Schacht also doch das Finanzgenie, für das er sich selbst immer gehalten hat, oder ist Bernanke bloß ein Inflationist à la Schacht?
Natürlich ist Bernanke Inflationist. Dies hat er in diversen Vorträgen deutlich gemacht. Den Titel „Helikopter-Ben“, als jemand, der Bares aus seiner „Printing press“ über die Lande streut, verdient man sich nicht so mir nichts, dir nichts.
Wie geht die aktuelle Krise aus – Aufschwung ohne Ende? Oder Game over?
Aufschwung ohne Ende, sofern die weltweiten Uneinbringlichkeiten sämtlich auf den Staat gebucht werden, alternativ: Bankenverstaatlichung. Game over, sobald der Schwindel mit der Staatsverschuldung durchschaut ist. Immerhin hat sich die deutsche Staatsverschuldung seit 1948 verhundertsechzigfacht. Irgendwann lässt sich nicht mehr länger verheimlichen, dass da etwas nicht stimmen kann.
Wie lautete die historische Antwort auf eine solche Problematik in der Regel?
In der Geschichte sind seit dem englischen Mittelalter mindestens 200 Staats- (oder Stadt- ) Bankrotte auszumachen. Deutschland durchlebte im vorigen Jahrhundert deren zwei: 1923 und 1948.
Herr Dr. Martin, ich bedanke mich für das Gespräch.
Veröffentlicht 06. Juli 2009, 20:01 von Thomas Strobl
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