Ich hatte vor ein paar Tagen folgende Mail an Hermann Lueer geschickt:
Als jemand, der sich wie die allermeisten, auch allermeisten Linken, mit der Einschätzung und Erklärung der Finanzkrise schwer getan hat (und eigentlich immer noch nicht damit zu Rande gekommen bin), habe ich mich über dein neues Buchprojekt natürlich gefreut, denn das hatte ich schon deinem ersten Hunger-Buch entnommen: Du gibst dir sehr Mühe, die abstrakten Erkenntnisse über kapitalistischen Reichtum und daraufhin grassierender Armut möglichst eingängig zu formulieren. (Ich habe es deshalb auch auf auf meinem Blog beworben.) Ganz offensichtlich, nachdem du dich intensiv mit den Veröffentlichungen des GegenStandpunkt beschäftigt hast, denn dessen Anhänger lesen bei dir viele ihrer Erkenntnisse heraus und du wahrscheinlich umgekehrt wohl auch.
Während ich aus dem GSP-Umfeld zu deinem Hunger-Buch nun bisher keine Kritik gehört habe, hat mir vor ein paar Tagen ein Genosse am Büchertisch so en passant gesagt, daß er dein neues Finanzkrisen-Buch nicht anbietet, weil da „der Grund der Finanzkrise falsch erklärt“ werde. Ich habe bisher überhaupt keine schriftliche Auseinandersetzung mit dem Buch gefunden, und möchte dich deshalb fragen, ob du mit den Genossen um den GegenStandpunkt darüber schon Diskussionen gehabt hast.
Selber kann ich mir vorstellen (ich bin nun alles andere als ein bewanderter Marxist, als jemand, der in der Finanzbranche arbeitet, aber, was die reinen Fakten angeht, auch nicht völlig unbeleckt), daß es sich um die Stellung und Art des fiktiven Kapitals dreht. Du formulierst da auf S. 49 ja recht strikt: „Parallel zur Krise im Bankensektor entwickelt sich die Krise in der sogenannten Realwirtschaft“. Dem steht die von mir schon von Anfang an bezweifelte These aus dem GegenStandpunkt Heft 3-07: „Die Krise, die mit Notwendigkeit aus der Tatsache folgt, dass „die Bedingungen der unmittelbaren Exploitation und die ihrer Realisation… nicht identisch“ sind, vielmehr „nicht nur nach Zeit und Ort, sondern auch begrifflich auseinander“ fallen (Karl Marx, Das Kapital, Bd. 3, MEW 25, S. 254), ist hier nicht Thema. Was sich im Sommer dieses Jahres an den Weltfinanzmärkten abspielt, ist eine Irritation des Geldkapitals, die allein aus dessen vermögenswirksamer Beschäftigung mit sich selbst folgt, darauf allerdings nicht ganz beschränkt bleibt.“ (Ich selber hatte auf meinem Blog dazu geschrieben: „Dieses „nicht ganz beschränkt“ halte ich für eine grobe Untertreibung.„)
Ich habe aber das Gefühl, daß du Finanzbereich und „Realwirtschaft als allzu parallel darstellst wenn auf der gleichen Seite ganz allgemein sagst: „Was vor kurzem noch ein erfolgreiches Geschäft versprach, stellt sich plötzlich als Überkapazität heraus“. Da benutzt du offensichtlich einen Zentralbegriff aus der Realwirtschaft im Finanzwesen. Bei deinem Schlußsatz auf der Seite: „Der physische Reichtum der Gesellschaft hat sich also nicht in Luft aufgelöst, er wird vom Standpunkt des Geschäfts nur nicht mehr gebraucht.“ weiß ich nicht, ob du da die Finanzbranche mit angesprochen hast, oder „nur“ über warenproduzierende Firmen redest.
Sind das Punkte der Differenz zum GSP?
Hierauf hat Hermann folgendes geantwortet:
Mein Buch zur Finanzkrise fällt in der Tat im GSP Umfeld auf gemischte Resonanz. Einige finden es gut, andere meinen ich hätte die Finanzkrise falsch als klassische Überakkumulationskrise kritisiert und damit die Rolle des fiktiven Kapitals nicht richtig erfasst. Ähnlich wie das von dir angeführte Zitat aus den GS 3-07 wird – soweit ich bisher gehört habe – behauptet, das Finanzkapital hätte mit der Kreation des fiktiven Kapitals seine Akkumulation unabhängig von der mühseligen Produktion von Mehrwerts gestaltet. Die meisten dieser Geschäfte hätten die Banken mit sich selbst gemacht. Mit der Störung des Vertrauens in ihre Fähigkeit, weiterhin fiktives Kapital für zirkuläre Geschäfte im Finanzsektor zu generieren, mit der Krise des Finanzkapitals wurde so auch der Kredit an das industrielle Kapital reduziert und führte es in seine Überakkumulationskrise. Wie du meinem Buch entnommen hast, teile ich diese Auffassung nicht.
Der Ausgangspunkt war gerade nicht das Platzen zirkulärer Wertpapiergeschäfte, sondern der Zusammenbruch eines für die US-Wirtschaft nicht gerade unbedeutenden Wirtschaftssektors. Allein die akkumulierten Eigenheimhypothekenschulden in den USA betrugen in 2007 mit 11 Billionen US$ 85% des US Sozialprodukts. Wenn Du Kreditkarten- und sonstige Konsumentenkredite sowie Firmenkredite bzw. -anleihen (bei durchschnittlich 20% Eigenkapitalquote sind 80% der Bilanzsumme fremdfinanziert) hinzurechnest, ist für zirkuläre Finanzgeschäfte nicht mehr viel Platz. Zumindest nicht in dem Sinne, dass hier eine völlig neue Erklärung der kapitalistischen Krise fällig wäre.
Wenn allein von 11 Billionen US$ Hypothekenkrediten nur 10% ausfallen, bringen die 1 Billionen Abschreibungsbedarf diverse Banken ins Wanken, von den Wechselwirkungen über die gegenseitigen Abhängigkeiten ganz abgesehen. Auch in Spanien hat der Immobiliensektor über Jahre bis zu 30% des BSP getragen. Dass mit dem Ausbruch der Krise zunächst die Banken unmittelbar im Vertrauen auf ihre gesamten Geldgeschäfte betroffen sind, sollte hier nicht täuschen. Das war übrigens in jeder Krise so (Japan, Weltwirtschaftskrise) und liegt in der Natur der im Bankensektor zusammengefassten Geldgeschäfte der Wirtschaft.
Ich habe noch nirgendwo gelesen, dass 70% oder 80% der Bilanzsumme der Banken allein aus bankeninternen Geschäften besteht. Wenn von toxischen Papieren die Rede ist (z.B. bei der HRE, Bear Stearns, AIG, Merril Lynch, Freddie Mac etc) geht es immer um die Verbriefung von Forderungen gegenüber der „Realwirtschaft“. Die Verbriefungstechniken haben den weltweiten Kapitalmarkt für die Vergabe von Hypothekenkrediten, Kreditkartenkrediten, Autoleasingkrediten sowie industriellen Forderungsverbriefungen und Anleihefinanzierungen erschlossen. Ohne diese Verbriefungstechniken wäre die Spekulation auf zukünftige Verwertung im Rahmen des Immobilienbooms in den USA, Spanien, England, Irland etc. der Exporterfolg der Chinesen, die Kapazitäten der Autoproduzenten usw. gar nicht zustande gekommen. Der Streit mit den Europäern (zuerst Forderung nach mehr Regulierung der Investmentbanken, dann eigene Deregulierung) zielte doch auf die Power des über die Kapitalmärkte ermöglichten eigenen kapitalistischen Wachstums.
Deinem Kommentar – „Dieses „nicht ganz beschränkt“ halte ich für eine grobe Untertreibung“ – kann ich in diesem Sinne nur zustimmen.
Wenn man das fiktive Kapital als Erklärung der Besonderheit der „Finanzkrise“ heranziehen will, liegt man zweifach daneben: Erstens inhaltlich. Fiktives Kapital hat es schon immer gegeben (Aktiengesellschaften, Anleihen etc.). Das Argument kann also gar nicht das Neue sein, sondern höchsten der Umfang des fiktiven Kapitals (wie viel fiktives Kapital ist denn zu viel?) und damit liegt man zweitens agitatorisch sehr dicht an dem was in bürgerlichen und linken Kreisen auch als Grund der Finanzkrise gehandelt wird.
Die Kritik anlässlich der „Finanzkrise“ kann doch nur über die Kritik am Maßstab des kapitalistischen Reichtums geführt werden. Alle vorhandenen Produktionsmittel und technologischen Möglichkeiten kommen nur bezogen auf zahlungsfähige Bedürfnisse zwecks Vermehrung des eingesetzten Kapitals zum Einsatz. In diesem Geschäftszweck gehen dann Finanz- und Realwirtschaft Hand in Hand. Mit der Expansion des Kredits als Geschäftsmittel für Bank und Produzent (egal ob über Leihkapital oder fiktives Kapital) werden Produktionskapazitäten genutzt und Bedürfnisse als zahlungsfähige anerkannt und mit der Kontraktion des Kredits lösen sich die vorhanden Produktionskapazitäten und Bedürfnisse der Menschen zwar nicht in Luft auf, werden aber vom Geschäftsstandpunkt der Finanz- und Realwirtschaft als wertlos eingestuft.
Mit dem blöden Begriff der „Finanzkrise“ können Merkel und Köhler mit der vereinten Unterstützung der „Linken“ ungestört für einen anständigen Kapitalismus werben.
Dagegen sollte mein Buch ein Beitrag sein.