Wie ist das mit dem Staat, der an die jeweils ökonomisch herrschende Klasse gebunden, eigentlich nur sie selbst ist bzw. nach Engels, ihr „geschäftsführender Ausschuss“? Oder kann der Staat sein System wählen?
(Wiederaufnahme eines Punktes, der auch schon ein Thema im MDF selig gewesen ist)
Wenn man von einem Staat sprichst, der sich überlegt, welche Klassenstruktur, welches Eigentumssystem, welche Produktionsweise ihm am Besten dienen könnte, dann sträuben sich bei mir als altem Leninisten natürlich die Haare. Erstmal weil das doch (regelmäßig) so gewesen ist, daß diese „Erkenntisse/Wenden“ nicht kontemplativ, sondern durch einen handfesten Umsturz gekommen sind. Worin Leninisten dann immer den Beweis gesehen haben, daß Staaten fest an „ihre“ Klassenstruktur gebunden waren, eben der bewaffnete Haufen von Leuten war, der eine bestimmte Klassenordnung, die Herrschaft einer bestimmten Klasse gegen den Rest der jeweiligen Gesellschaft verteidigt hat. Der also weggeräumt werden muß, wenn man die Ordnung loswerden muß und dies gegen ihre reformistischen Konkurrenten hochgehalten haben, die immer gar keine Probleme damit hatten, im jeweiligen Staat hochzusteigen, oder dies wenigstens zu versuchen und für einen prinzipiell möglichen Erfolgsweg zu verkaufen. Der berühmteste Spruch ist dazu sicher, daß die Arbeiter die alte Staatsmaschinerie zerschlagen müssen, wenn sie das Lohnsystem loswerden wollen.
Ich gebe zu, daß das mit dem Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus einerseits nicht überall so schön vorbildlich wie in Frankreich abgegangen ist (und ursprünglich ja selbst in England ja eine recht vermischte und sich länger hinziehende Geschichte gewesen ist, die letztlich noch nicht einmal die Monarchie als staatliche Überwölbung abgeschafft hat)
Und daß andererseits die VR China eine besonders harte Nuß ist, wenn man den „reformistischen Film nicht rückwärts“(Trotzki) ablaufen lassen will. Denn wenn man in der Sowjetunion/Rußland immerhin ansatzweise noch so was wie eine Konterrevolution im klassischen politischen Sinn ausmachen kann (einige Leninisten/Trotzkisten „schafften“ das auch erst mit hinreichendem zeitlichen Abstand), so sehe zumindest ich nicht, wie man den Cut bei China hinkriegen will. Auf jeden Fall kann ich mir nicht wirklich vorstellen, daß der Charakter von Staaten, klassischen Klassenstaaten wie Arbeiterstaaten so rein „idealistisch“ bei Regierungs- oder Polibürorunden entscheiden werden kann. Der „Ausweg“, den staatskapitalistische Gruppen machen, indem sie sagen, dann war das eben grundlegend nie was anderes als Kapitalismus, dann brauchte es eben auch keine handfeste politische Konterevolution und eine soziale eh nicht, das überzeugt aber auch nicht so recht, denn was „Anderes“ war es doch für sonst alle anderen Strömungen sowohl in der Sowjetunion nach der Oktoberrevolution als auch strukturell ähnlich in Osteuropa, der VR China und Kuba. Bei Kuba ist der Klassenhaß aus den USA auf Castro allein eigentlich schon ein Argument gegen solche Erklärungen.
Dazu folgende Erwägungen als Gegenrede/Antwort:
Politische Herrschaft als solche steht über den Standpunkten und Interessen in der Gesellschaft, die sie beherrscht – das gilt für die Könige der frühmodernen Zeit wie für die bürgerlichen und realsozialistischen Souveräne. Als Hoheit hat sie auch ein eigenes Interesse, das nicht von vornherein identisch ist mit dem der Grundherren, Handwerksmeister oder Kapitalisten. Am ehesten noch ist die feudale Herrschaft unmittelbar identisch mit dem Interesse der Lehens- und Grundherren, die ihr die Waffenträger stellen. Aber sogar da hat das Interesse an Macht, ihrer Selbsterhaltung und Erweiterung, also auch ihrer Ressourcen, beim höchsten aller feudalen Herren, dem König oder Kaiser, ein Interesse entstehen lassen, das ihn gegen seine feudalen Klassenbrüder (wenn man so unzeitgemäß reden will), gegen den Adel aller Ebenen – eingenommen hat. Das Mittelalter ist ein einziger Kampf um wahre Hoheit, souveräne Macht; die Spitze der feudalen Hierarchie führte ihn gegen diese Hierarchie, auf die sie sich zugleich stützte. (Dieser Kampf ging im 30-jährigen Krieg in Deutschland verloren; in anderen europäischen Staaten bes. England und Frankreich wurde er schon früher geführt und gewonnen.) Der Aufstieg der Handelsherren und Fabrikanten geht auf die Genehmigung und die Privilegierung durch den König zurück, der deren Erzeugnis – Geld – einfach viel attraktiver und für seine Hoheit nahrhafter fand als die Naturalablieferungen seiner feudalen Hintersassen. Das alles, das Niederringen des Adels, die Errichtung eines tatsächlichen Gewaltmonopols, das es im Mittelalter nicht gab, die Privilegierung der Kaufleute und die entsprechende Entrechtung anderer (ursprüngliche Akkumulation) war natürlich alles ein riesiger Kampf und Krieg; der Souverän löst sich ja auch nicht so leicht aus der Bindung an die Adelsschicht, auf der seine Macht beruhte.
Die modernen Verhältnisse kommen dadurch in die Welt, dass die Hoheit, weil sie den Dienst der Geldmacher an ihrer Schatulle haben will, sie dafür fördert und die Ausübung ihrer Macht deren Geschäftsbedürfnissen schrittweise unterwirft. Die Kaufherren sollen Erfolg haben und dem Schatzamt viel abliefern können. Das alles war im Frankreich Ludwigs IVX schon weit gediehen. Die Macht des Königs war von der bürgerlichen Produktionsweise längst abhängig geworden; sie hat die wirtschaftliche Tätigkeit der Nation schon bestimmt. Erst auf Basis des Bewusstseins, dass alles von ihnen kommt und von ihnen abhängt, fragen sich dann die Mitglieder des vierten Standes, warum sie die Privilegien des Adels, der für Wohlfahrt und Macht des Landes nichts leistet und den unfruchtbaren Luxus des königlichen Hofes noch tragen sollen. Sie machen Revolution im Namen der rechtlichen Grundbestimmungen der bürgerlichen Konkurrenzordnung: Gleichheit vor dem Recht, Freiheit des Privatinteresses, Brüderlichkeit der Staatsbürger.
Die Identität der Anliegen von Staat und Kapital erklärt sich etwas anders, als die guten alten Leninisten meinen: Nicht die Personalidentität beider Seiten, nicht – jedenfalls nicht mehr – die Herkunft oder Auswahl der Machtträger aus der besitzenden Klasse, nicht Bestechung – auch wenn es alles das geben mag – stiftet die zuverlässige Parteilichkeit der Staatsmacht für die Interessen der Kapitalisten, sondern die wechselseitige Indienstnahme. Der Staat dient den Profitinteressen und dadurch sich. Sein Ziel, die Förderung der Grundlagen seiner Macht, kommt zum Zug, wenn die Kapitalisten Erfolg bei ihren Geschäften haben; also setzt er seine Macht für ihren Erfolg ein, sorgt nicht nur für „Rahmenbedingungen“ der freien Konkurrenz, sondern glatt für den Erfolg seiner Geschäftsleute darin. Umgekehrt kommt es in jedem Staat zum Zerwürfnis zwischen der ökonomisch herrschenden Klasse und der politischen Herrschaft, wenn der Erfolg ausbleibt. Dann üben Politiker auch mal Kapitalismuskritik und Wirtschaftskapitäne werden anti-etatistisch; das Zerwürfnis kann bis zur Suche nach neuen Wegen der Indienstnahme des Kapitals durch den Staat gehen; Faschisten einerseits, Chavez etc. andererseits. Die Unzufriedenheit der Klasse, die sich im Besitz der ökonomischen Machmittel weiß und daher zur Beherrschung der Gesellschaft berechtigt sieht, mit einem „unfähigen“, falschen Interessen dienenden, unnütze Kriege vergeigenden Staat kann ihrerseits zu Versuchen von Umsturz und offener Obstruktion führen.
China und die SU, die beide einen Systemwechsel offensichtlich von oben durchgeführt haben und angesichts realsozialistisch gut erzogener Völker mit wenig Widerstand von irgend einem dadurch geschädigten Interesse fertig zu werden hatten, sind durchaus Beispiele für dieses Verhältnis von politische Hoheit und ökonomischen Rechten und Pflichten, die sie erlässt und mit denen sie ein ganzes System definiert. (A propos Genosse Fidel – der Hass seiner US-Gegner beweist nicht, dass es sich da um einen aufrechten Kommunisten handeln muss, sondern nur, dass er das, was sie von Kuba verlangen, verweigert. Dazu reicht ein unpassender, womöglich sozialer Nationalismus a la Chavez heute auch schon.)