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Armut kann man nicht verhaften

11. März 2007

Freerk Huisken hat – schon im November letzten Jahres – unter dem obigen Titel den folgenden Artikel bei der GEW Hamburg geschrieben (Der Hinweis stammt von MPunkt):

Der Tod des kleinen Kevin hat Fragen aufgeworfen, leider nur Schuldfragen. Nach den Ursachen der Häufung des Kindstods bei armen Leuten wurde weniger gefragt. Es interessierte – besonders wo der Kevin bereits unter Amtsvormundschaft stand – nur: Wer hat das Recht gebrochen, wer das Amt missbraucht, wer seine Kompetenzen überschritten, wer seine Pflichten verletzt, wo sind Behördenschlendrian und -eigensinn auszumachen? Und schnell wurden die staatlichen Kontrollorgane fündig: Der Vater wurde des Totschlags angeklagt und verhaftet, ein Amtsleiter wurde geschasst, gegen Mitarbeiter des Jugendamtes sind Disziplinarverfahren anhängig, eine Senatorin trat vom Amt zurück usw. So wird mit der Ausschaltung von Personen das gebrochene Recht wieder hergestellt, die in schlechtes Licht geratene Behörde gesäubert und die Glaubwürdigkeit des politischen Amtes gesichert. Denn an den Rechtsvorschriften, an den Dienstanweisungen der Behörden oder gar an der Politik, die für das Soziale zuständig ist, kann es ja wirklich nicht liegen, wenn Kinder in Familien, die unterhalb des Existenzminimums leben müssen, verwahrlosen und so oder so zu Tode kommen. Also bekommen alte Ämter neue Chefs und die legen gleich Zeugnis davon ab, dass neue Besen gut kehren. Sie ordnen „erste Maßnahmen“ an. Zu denen gehört, dass in allen „Problemfamilien mit gefährdeten Kindern“ Hausbesuche stattfinden würden; und dass, wenn es einen „begründeten Verdacht auf Vernachlässigung gebe“, Wohnungen unter Polizeiaufsicht geöffnet würden (WK, 14.10.). Elend und Verwahrlosung finden so weiter statt, aber unter vermehrter staatlicher Aufsicht. „Frühwarnsystem“ heißt das dann, wenn Kinder, bevor sie gestorben sind, erst mal ins Heim kommen und die Eltern ein Verfahren erwartet. Das ist gut – gut für das Ansehen der Ämter, für die Ordnung, für die öffentliche Ruhe und für den Ruf der Hansestadt.
Natürlich gibt es auch Kritiker, die in aller Öffentlichkeit keine Ruhe geben. So schreibt z.B. der H.Prantl von der SZ: „Am Boden einer wachsenden Unterschicht herrscht Verwahrlosung, die leider immer erst dann beklagt wird, wenn ein Kind daran gestorben ist.“(SZ, 16.10.) Stimmt! Doch was will er nun sagen? Will er sagen, dass nicht Amtspersonen gefehlt haben, sondern hierzulande etwas prinzipiell nicht stimmt. Will er seinem lesenden Publikum erklären, dass Kapitalismus – den man besser Marktwirtschaft nennen soll, obwohl er dadurch auch nicht besser wird – und staatliche Politik regelmäßig eine ganze „Schicht“ an armen Leuten hervorbringen, die sogar noch wächst; dass diese Leute ihr eigenes Leben und das ihrer Kinder nicht in den Griff kriegen, weil es ihnen am Nötigsten für den Lebensunterhalt fehlt; dass dies schließlich ein Zustand ist, den viele von ihnen überhaupt nur im Suff und unter Drogen und den ihre Kinder dann nicht mehr aushalten. Recht hat bzw. hätte der Zeitungsschreiber, wenn er es denn so gemeint hätte. Hat er aber nicht. Denn ausgerechnet die Verursacher dieses gesellschaftlichen Massenelends hält er für zuständig, sich seiner Abschaffung zu widmen: „Das ist eine Aufgabe für eine große Koalition; gut dass sie das Problem Unterschicht wenigstens sieht.“ So schreiben nur Zeitungsmenschen, die alle Übel dieser Gesellschaft immer wieder auf eine Politik zurückführen, die ihrem nationalen Auftrag nicht gerecht wird. Als überzeugte Vaterlandsfreunde wollen sie sich nicht vorstellen, dass Produktion und Verwaltung von Massenarmut zum Dienst an der Marktwirtschaft dazu gehört, ein Dienst, den alle großen und kleinen Koalitionen geleistet haben
Nicht dass die regierende Koalition dabei keine „Probleme“ sehen würde. Nicht dass sie sich für Armutsfragen nicht zuständig erklären würde. Doch worin besteht das Problem, das die Regierungen mit Massenverelendung nebst geistiger, physischer und sozialer Verwahrlosung von Eltern und Kinder haben? Wenn doch erstens seit geraumer Zeit das Primat der Politik in der Aufmöbelung des nationalen Standorts zum Weltmarktsieger besteht; wenn zweitens besonders das Arbeitsvolk dafür seinen Beitrag in Form von Lohnsenkungen und Leistungssteigerungen zu leisten hat; wenn das drittens einschließt, dass immer mehr auf Geldeinkommen angewiesene Leute überflüssig gemacht werden; wenn der Sozialstaat diese Menschen dann viertens zu „Langzeitarbeitslosen“ und „Unvermittelbaren“ erklärt und sie zusammen mit Sozialhilfeempfängern zu Hartz IV abschiebt; wenn diese Leute – inzwischen sind es so etliche Millionen – fünftens nicht wissen, wie sie mit einem Geld, oft unterhalb selbst des offiziellen Existenzminimums, überleben sollen; wenn der Sozialstaat sie schließlich sechsten noch zusätzlich mit weiteren Abzügen drangsaliert, sofern sie nicht die erstbeste Arbeit annehmen; wenn ihnen damit siebstens jedes Kind zwangsläufig zur Last wird; wenn achtens von der Politik an Verrohung und Verwahrlosung von ganzen Volksteilen als „Problem“ nur die Gefahr für den „inneren Frieden“, die „Hinwendung zum Extremismus“ und neuerdings auch eine zur „Apathie“ neigende Volksmoral (Beck) gesehen wird – , dann, ja dann kommt man um den Schluss einfach nicht herum, dass diese Politik das Leben unter der Armutsgrenze, zerstörte Familien und tote Kindern als das weder zufällige noch umkehrbare Resultat in Kauf nimmt, es nur noch kontrolliert – z.B. „Problemfamilien mit gefährdeten Kindern“ statt einmal ab sofort zweimal die Woche – , den Heimen zur Aufbewahrung und den zuständigen Ordnungsbehörden zur Observation überantwortet, damit solche Pannen (!) wie die mit dem toten Kevin möglichst nicht mehr passieren.
Dumm, dass man Armut weder verhaften noch aus dem Amt jagen oder in Pension schicken kann. Kritisieren kann man sie aber schon. Allerdings ganz und gar nicht konstruktiv.

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