Immer wieder Auschwitz?
Franz Schandl fragt im wertkritischen Magazin streifzüge
Immer wieder Auschwitz?
Wider die liberale Instrumentalisierung der Shoah
Wir leben in Zeiten einer doppelten Verharmlosung. Eine ist bekannt, die zweite wird hier angesprochen. Nicht nur, dass Auschwitz an anderem relativiert wird, ist ärgerlich, ebenso unerträglich ist, dass Auschwitz alles andere relativiert. Kein Konflikt wird mehr als solcher (an dem dann eben seine besonderen Bezüglichkeiten zu analysieren sind) wahrgenommen, sondern er wird irgendwie auf die Shoah projiziert und somit kleingemacht. Auschwitz selbst wird gar nicht mehr aus der historischen Entwicklung erklärt, dafür wird umgekehrt jedes aktuelle Ereignis mit Auschwitz in unmittelbaren Zusammenhang gebracht.
Vor lauter halluzinierten Faschisten sieht man dann die wirklichen nicht mehr, vor lauter herbeiphantasierten Antisemiten, kann man die realen gar nicht mehr erkennen. Egal. Wenn sonst kein Argument mehr einfällt, Auschwitz muss auf jeden Fall verhindert werden, egal wo, egal wann, egal wie, egal, worum es geht. Der Verweis auf die Nazis ist fast überall zugegen, wird zu einer gleichgültigen, aber beliebigen Allzweckwaffe, jederzeit einsetzbar und auch eingesetzt. Die gestrige Untat dient nicht als Mahnung, sondern als Begründung der heutigen. Auschwitz wird zum Alibi.
Der Holocaust fungiert in dieser bestechenden Logik als Entschuldigung für diverse Verbrechen, Bombardierungen, Einmärsche, Überfälle und Folterungen. Nach 1945 war es vor allem die Methode der Ideologen des Kalten Kriegs, die maßlosen Nazivergleiche (unterstützt durch die unselige Totalitarismustheorie) immer wieder zu strapazieren. Heute scheinen sie global durchgesetzt. Gerade in Auschwitz wird der vornehmste Grund gefunden, jeden Krieg zu führen, den die Zentren des Kapitals zu führen wünschen: „Wehret den Anfängen!“ wird zur liberalen Farce. Der tragische historische Treppenwitz ist der, dass die bislang irrste Konsequenz bürgerlicher Herrschaft, als Rechtfertigung ebendieser auftritt. Aktuell läuft diese Sichtweise auf die blanke Affirmation der amerikanischen Außenpolitik hinaus. Was wohl Ziel sein dürfte.
Das bisher größte Menschheitsverbrechen muss also herhalten, viele andere zu erlauben, ja einzufordern. Auschwitz wird zum Vorwand diverser Ungeheuerlichkeiten, ja zum Ansporn, das Schlimmste zu verhindern. Und dieses wird sogleich behauptet, um es prophylaktisch zu bekämpfen. Heute im Irak. Morgen im Iran. Übermorgen in Russland, China oder Venezuela. Wer weiß, Abschusskandidaten gibt es genug. Das offizielle Deutschland demonstrierte am ehemaligen Jugoslawien, wie es funktioniert. Das einst Zugeordnete wird mittels neuer Zuweisung zum Argument, die eigenen Interessen rücksichtslos wahrzunehmen. Prima Leistung. Auschwitz ist zu einem politischen Exportschlager geworden, über den sich das Abendland im Allgemeinen, aber insbesondere Deutschland im Besonderen freuen kann.
Alles gedeiht vorzüglich auf der Bezichtigung der anderen als Nazis. Ganz locker denkt man sogar darüber nach, wem man nicht etwa die Atombombe auf den Kopf schmeißen könnte. Die flächendeckende Propaganda der Kulturindustrie ist Teil dieser marktwirtschaftlichen Mission für freedom and democracy. Zweifellos, die ideologischen Streubomben der westlichen Werte verfehlen ihre Wirkung nicht. Im Namen der Aufklärung festigen sie einen proimperialistischen Konsens bis weit in die Linke hinein. Das zivilisatorische Mysterienspiel verdunkelt allerdings völlig den Ablauf der aktuellen marktwirtschaftsdemokratischen Barbarisierung. Dafür wurde jenes in die Welt gesetzt und inszeniert sich immerfort…