Maos Großer Sprung nach vorn
Georg Klauda, einer der Verantwortlichen von Blogsport.de, hat auf seiner Facebook-Seite einen Artikel über den Großen Sprung nach vorn und die antikommunistischen Propagandalügen darüber geschrieben
[nein, hat er nicht, wie ich mir jetzt sagen lassen mußte: Er hat nämlich nur ein Buch zum Thema zitiert: „Maoismus: China und die Linke – Bilanz und Perspektive“ aus dem Verlag theorie.org von Henning Böke]:
„Heute, im Klima eines Geschichtsrevisionismus, der die Revolutionsgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts als Ursache aller Übel der Gegenwart darzustellen bemüht ist, verbreiten die Propagandaapparate des Neoliberalismus die Mär von Mao als einem kleinkarierten Despoten, der kaltblütig Millionen von Menschenleben für abstruse Wahnideen geopfert habe. Ein primitiver Bauer soll er gewesen sein, den seine Berater nur mit Mühe dazu überreden konnten, sich vor Staatsempfängen die Haare zu waschen und die Zähne zu putzen, ein Sexmonster und Rabenvater und vor allem der mutwillige Verursacher der schlimmsten Hungersnot aller Zeiten. Das China Mao Zedongs gilt als eines der düstersten Kapitel der Menschheitsgeschichte. […]
2.3.3 Spiel mit den Zahlen
Dass es [1959 bis 1961] eine schwere Hungersnot gab, kann nicht bestritten werden. Darüber liegen Zeugnisse vor, die den Beschreibungen ähneln, die der Amerikaner Graham Peck über die Zustände unter dem Guomindang-Regime Anfang der 1940er Jahre gab. Heutzutage wird behauptet, der Große Sprung habe zur schwersten Hungersnot der Geschichte Chinas, ja sogar der Weltgeschichte geführt. In dem, was man «Forschergemeinschaft» nennt (zuzüglich der Journaille), hat es sich eingebürgert, Zahlen in der Größenordnung von 30 Millionen Toten zu kolportieren; manchmal werden auch 40 Millionen oder noch mehr angegeben. Das würde heißen, dass fünf oder mehr Prozent der Bevölkerung Chinas damals verhungert wären – und niemand hat es gemerkt.
So unstrittig wie das Faktum der Katastrophe ist, so spekulativ sind die Zahlen. Sie sind in den 1980er Jahren von Demographen in den USA in die Welt gesetzt worden, und was einer vom anderen abschreibt, gilt als «gesichertes Wissen». Die indische Agrarökonomin Utsa Patnaik hat gut begründete Zweifel angeführt; unabhängig von ihr stellt auch der niederländische Chinaforscher Wim F. Werthheim diese Zahlen in Frage. Die Zahlen sind ermittelt worden, indem den durch die Volkszählungen von 1953 und 1964 ermittelten Bevölkerungszahlen eine Interpolation der anhand des Bevölkerungswachstums der 1950er Jahre erwarteten Bevölkerungsentwicklung zwischengeschaltet wird – mit dem Ergebnis, dass 1964 etwa 30 Millionen «fehlen».
Unterstellt wird dabei, dass die 1953 angegebene Einwohnerzahl von 600 Millionen zutrifft. Das kann bezweifelt werden: Die Korrektheit der Volkszählung von 1953 ist damals von angesehenen chinesischen Wissenschaftlern bestritten worden, es besteht ein begründeter Verdacht, dass diese Zahl zu hoch angesetzt war. ln der Rechnung, die für 1964 dann einen Verlust von 30 Millionen Einwohnern ausweisen soll, werden dagegen für die 1950er Jahre Geburtenraten unterstellt, die höher angesetzt sind als die offiziellen chinesischen Angaben von damals und letztlich auf Spekulation beruhen – ebenso wie die gemutmaßte Sterblichkeitsrate in den Jahren des Großen Sprungs. China hatte zum Zeitpunkt der Gründung der Volksrepublik eine hohe Sterblichkeit und eine hohe Geburtenrate zu verzeichnen, wie es für unterentwickelte Länder typisch ist. Die Sterblichkeit nahm nach der Gründung der Volksrepublik kontinuierlich ab, schnellte aber 1959/60 rapide in die Höhe, wobei nach offiziellen Angaben ein Niveau von 25,4 Promille erreicht wurde – das liegt nur wenig oberhalb der Sterblichkeitsrate, die in Indien in jenen Jahren den Dauerzustand darstellte. Die Geburtenrate dagegen sank in den Jahren des Großen Sprungs drastisch. Zunächst einmal dürfte es infolge der extremen Arbeitsbelastung und Erschöpfung zu wenig Zeugungen gekommen sein; sicher litt ebenso die Fruchtbarkeit der Frauen wie die Widerstandskraft gegen Krankheiten unter der Mangelernährung. Es gab gewiss eine in Millionenhöhe anzusetzende Anzahl von Todesfällen durch Hunger und Krankheiten. Sowohl Patnaik als auch Werthheim nehmen allerdings an, dass die meisten der 1964 «fehlenden» Einwohner nie geboren worden sind.
Utsa Patnaik gelangt zu dem Schluss: Würde man die Methoden, mit denen «bewiesen» werden soll, dass Maos Politik zum Hungertod von 30 Millionen Chinesen geführt hat, auf Statistiken über die Entwicklung Russlands in den 1990er Jahren anwenden – als Russland ein Sinken seiner Industrie- und Agrarproduktion auf nahezu die Hälfte, einen Rückgang der Geburtenraten und der Lebenserwartung zu verzeichnen hatte –, so käme heraus, dass in Russland eine Hungersnot herrschte. Da Russland aber in jenen Jahren mit der Restauration des Kapitalismus beschäftigt war, die im Westen als gut und richtig gilt, kommt niemand auf die Idee, in Boris Jelzin den Verursacher einer Hungersnot sehen zu wollen. Die gleiche Willkür im interessegeleiteten Umgang mit statistischem Material ist auch bei den Eliten Indiens festzustellen, die dort beharrlich die Existenz von Hunger bestreiten.
2.3.4 Vom Größenwahn zur kleinen Struktur
Trotz der humanitären Katastrophe und trotz mancher fehlgeschlagener Industrieprojekte hat der Große Sprung doch die Infrastruktur Chinas nachhaltig verbessert. Die Einrichtung der Volkskommunen führte «zu einer Industrialisierung der ländlichen Räume, die weltweit beispiellos ist».
Die Gigantomanie wurde nach 1960 widerrufen. «Produktionsgruppen» aus rund einem Dutzend Familien wurden zu den eigentlichen Wirtschaftssubjekten der Agrarproduktion. Über den Produktionsgruppen stand die «Brigade», die in der Regel das ganze Dorf umfasste. Die aus mehreren Brigaden bestehende Volkskommune blieb als Verwaltungseinheit bestehen. Die Bauernfamilien erhielten auch wieder etwas Land zur privaten Bewirtschaftung für den Eigenbedarf. Dieses abgestufte System erlaubte ein Wirtschaften in überschaubaren Einheiten und gleichzeitig die Nutzung der von der Kommune oder der Brigade betriebenen industriellen und gewerblichen Produktion. Die ländliche Industrialisierung, verbunden mit dem Augenmaß der dezentralisierten kleinen Struktur, hat Erfolge ermöglicht, die den chinesischen Entwicklungsweg auszeichnen. Noch heute sind die wirtschaftlich erfolgreichsten Dörfer in China meist solche, die zu Maos Zeiten solide kollektive Infrastrukturen aufgebaut haben und im Zuge der Reformen nach Maos Tod ihre Kollektivwirtschaften nicht einfach aufgelöst, sondern sie in moderne genossenschaftliche Formen transformiert haben.
Jahr Lebenserwartung
1949 35
1975 63
1981 67,8
1985 69,2
1989 68,5
1995 68,8 (67,9 Männer, 69,1 Frauen)
2000 71,3 (69,6 Männer, 73,3 Frauen)“
____________
Ich habe daraufhin folgenden Kommentar geschrieben:
„Angesichts der schrecklichen Entwicklung, die die VR China ganz offensichtlich seit den Zeiten Dengs gemacht hat (jedenfalls für manche Linke), angesichts der Konsolidierung kapitalistischer Klassenverhältnisse im ganzen Land, gibt es bei einigen Linken hier wie dort ein gewisses Revival des Maoismus. Und da spielt die Bewertung des Großen Sprungs nach vorn eine zentrale Rolle. Denn dieser recht bald gescheiterte Versuch, dem geerbten Elend durch puren Voluntarismus sozusagen auf einen Schlag zu entfliehen, war in China leider das einzige Gegenmodell zu Dengs den kapitalistischen Weg gehen.
Dem möchte ich zwei grundsätzliche Kritiken entgegenhalten: Eine trotzkististische Kritik „Maos „Sozialismus“: Weder Elektrifizierung noch Sowjets“ (Spartacist, deutsche Ausgabe [Theorieorgan der IKL], Nr 5 – Mai 1977) http://neoprene.blogsport.de/…/maos-%E2%80…/
und die Kritik aus dem Umfeld des GegenStandpunkts: Renate Dillmanns Buch über China, dort das Kapitel über den Großen Sprung nach vorn, Seite 111. (liegt leider nicht online vor)“
G.K.: Es geht mir nicht um eine Verteidigung des Maoismus, mit dem ich noch nie etwas am Hut hatte, weil ich nunmal nicht zur Generation der K-Grüppler gehöre wie viele prominente Grüne. Mir geht es darum, dass der Große Sprung nach vorn, also der radikale Umbau der ökonomischen Strukturen auf dem Land, der aufgrund seines voluntaristischen Charakters in eine Hungersnot führte, so wie wenige Jahrzehnte zuvor die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in der SU, welche allerdings unter ungleich gewaltsameren Bedingungen ablief, von manchen mittlerweile mit den Gaskammern der Nazis verglichen wird, indem man Mao, Hitler und Stalin in eine Reihe stellt. Und genau dieser Eindruck wird erreicht, indem man mit möglichst großen, aber leider völlig imaginären Zahlen um sich wirft, die man dann neben die 6 Millionen ermordeten Juden stellen kann. Bei Klett-Cotta ist man so mittlerweile bei 45 Millionen im Rahmen des „Großen Sprungs“ verhungerten Menschen angelangt. Eine humanitäre Katastrophe, deren Ausmaß von Jahr zu Jahr inflationiert wird, um ihren singulären Charakter herauszustreichen, scheint so den rassistischen Massenmord der Nazis ein für alle Mal in den Schatten zu stellen und das geschichtsrevisionistische Urteil nahezulegen: Schlimmer als Hitler war Mao doch allemal! http://www.klett-cotta.de/…/Maos_Grosser_Hunger/42877
Daß du das nicht aus maoistischen Perspektive geschrieben hast, daß ist schon offensichtlich. Bei aller Zurückweisung der klassischen antikommunistischen Vorwürfe, alle Kommunisten sind Massenmörder, wollte ich aber mit meinen Verweisen darauf hinweisen, daß dann – jedenfalls für Linke, die überhaupt an der Frage interessiert sind, was Revolutionäre in solch einer beschissenen Situation, wie sie nach dem Krieg in China bestand, hätten vernünftigerweise/kommunisitscher Weise machen können – immer noch die Frage übrig bleibt, was die denn konkret für einen Unfug betreiben haben, was für blöde Ziele sie sich gesetzt haben, was sie dafür angeleiert haben und nicht ganz unwichtig, was sie alles nicht gemacht haben oder anders hätten machen können/müssen. Das ist zwar einerseits eine historische Frage, hat sich also, jedenfalls für China, erledigt, ist aber angesichts des Massenelends weltweit keine abgehakte Sache. Sie interesiert nur heute hier ungefähr so viele Menschen wie damals in der VR China.
Dagegen sind die Hungerkatastrophen, die die Einführung des kapitalistischen Freihandels in den europäischen Kolonien während des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts verursachte und deren Gesamtopferzahl auf 50 bis 60 Millionen beziffert wird – 30 Mio. allein für Indien, 10 Millionen für den Kongo, dessen Bevölkerungszahl sich in dieser Zeit sogar halbiert haben soll – ein absolutes Randthema der europäischen Geschichtswissenschaft, das in der Öffentlichkeit kaum erinnert wird, übrigens nicht einmal in den betroffenen Ländern selbst. Eine seltene Ausnahme stellt hier das Buch von Mike Davis dar: http://www.amazon.de/Geburt-Dritten…/dp/3935936435/
Aber natürlich ist es genauso unverantwortlich, wenn Mike Davis in der englischen Originalausgabe mit dem Titel „Late Victorian Holocausts“ die humanitären Katastrophen des imperialistischen Zeitalters begrifflich mit dem rassistischen Massenmord der Nazis in Zusammenhang bringt. Da gibt es einfach kein vernünftiges tertium comparationis: Die Briten haben in den Kolonien keine Gaskammern betrieben!
Das ganze Jonglieren mit Zahlen rund um China ist u.a. deswegen so populär, als sich die chinesische Führung seit jeher auf den Standpunkt gestellt hat: „Laßt die Toten ihre Toten begraben!“ und von Vergangenheitsbewältigung gar nichts hält. Deswegen gibt es überhaupt keine Angaben von chinesischer Seite, weder zum Großen Sprung, noch zu den Verlusten im 2. Weltkrieg oder dem Massaker von Nanjing.
Das beflügelt dann westliche Antikommunisten, sich luftige Zahlen aus dem Ärmel zu schütteln und sich gegenseitig mit Schätzungen zu überbieten.
Hungersnöte, denen Zehntausende und Hunderttausende zum Opfer gefallen sind, waren übrigens im kaiserlichen China höchst üblich, und erst Rotchina hat damit aufgeräumt. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Absicht, Mao persönlich ausgerechnet eine Hungersnot ankreiden zu wollen, sehr verräterisch bezüglich ihres Beweiszweckes.
Das Thema ist allerdings in China selbst deshalb heikel, weil der Große Sprung das Land in seiner industriellen Entwicklung zurückgeworfen anstatt vorangebracht hat, und daher nicht zu den Glanzstücken in der Politik des Großen Steuermannes zählt.
Auf die frühimperialistischen Hungerkatastrophen hast du ja immer wieder hingeweisen, das macht in diesen Zusammenhängen ja kaum jemand. Und es ist in der Tat ein Unterschied, ob bei irgendeinem Staatsprogramm Leute verheizt werden, deren Tod also juristisch gesprochen billigend in Kauf genommen wird, das galt für den Kolonialismus, das Massenmorden im ersten Weltkrieg, die Opfer der Kollektivierung oder des Großen Sprungs, oder ob man wie die Nazis Menschen einfach nur umbringt, weil man sie ausrotten will. Wobei das natürlich nah beieinander liegt. In Leningrad sind bei „rein“ kriegerischen Belagerung ungefähr soviele Menschen umgekommen/umgebracht worden wie In Ausschwitz.
Kurioserweise ist aber die erste, die über den Begriff „Verwaltungsmassenmord“ die britische Kolonialpolitik in Ägypten unter Lord Cromer, dem Autor von „Über die Regierung unterworfener Rassen“, mit dem Nationalsozialismus in Verbindung bringt, niemand geringes als Hannah Arendt gewesen, deren Buch aber gleichzeitig selbst einige der übelsten Rassismen gegenüber Afrikanern bedient. (Jutta Ditfurth hat darüber kürzlich was gepostest; ich hab mir das aber bislang nicht genauer angeschaut.)
Den ganz „normalen“ Welthunger als Ergebnis des aktuellen Imperialismus sollte man auch nicht ganz vergessen.
http://de.wikipedia.org/wiki/Welthunger
Als wäre die Toten durch die angeführten Krankheiten nicht auf die selbe Ursache zurückzuführen, nämlich Geldmangel (um Medikamente zu kaufen).
Großes Missverständnis. Das ist kein Artikel von mir, sondern war ein Zitat aus dem von mir auf Facebook verlinkten Buch „Maoismus: China und die Linke“ von Henning Böke: http://www.amazon.de/Maoismus-China-Linke-Bilanz-Perspektive/dp/3896575961/
Neues Jourfixe-Protokoll
zum chinesischen Geld
(Fortsetzung)
http://www.gegenstandpunkt.de/jourfixe/prt/2014/jf140602.html