„Russland will den Dritten Weltkrieg anzetteln.“
Wer angesichts der Schlagzeile der FAZ vom 26. April 2014 wissen will, was gegenwärtig in der Ukraine geschieht, muss sich nur folgende Frage beantworten: Warum wurde eigentlich die NATO – das Kriegsbündnis des „Freien Westens“ – nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht aufgelöst? Warum benötigt die globale kapitalistische Weltordnung, der sich alle maßgeblichen Nationen angeschlossen haben, einer Weltordnungsmacht einschließlich eines Militärbündnisses, das ständig der Erweiterung bedarf?
Dass der „Kalte Krieg“ zwischen dem „Freien Westen“ und dem „Realsozialismus“ nicht im Dritten Weltkrieg seine Entscheidungsschlacht gefunden hat, hatte seinen Grund nicht im Widerstand der Bevölkerung, sondern zunächst im atomaren Patt zwischen den Großmächten und letztlich in der freiwilligen Auflösung des Ostblocks, die der »Freie Westen« als Erfolg seiner konsequenten Aufrüstung verbuchen konnte. Mit der Auflösung des Warschauer Pakts, dem Zerfall des Ostblocks und der Sowjetunion sowie der marktwirtschaftlichen Öffnung Chinas stand der Globalisierung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung nun nichts mehr im Wege. Auch Russland hat sich als Nachfolgestaat der Sowjetunion mit der Öffnung seiner Märkte kooperativ gezeigt und sich in die Weltordnung der freien Marktwirtschaft integriert. Aber dies hebt natürlich nicht das gegensätzliche Verhältnis zwischen den Nationen auf, sondern verändert lediglich seinen Inhalt. Russland hat die Systemgegnerschaft in Konkurrenz zur Weltordnung des »Freien Westens« aufgegeben und sich damit als Nation in die marktwirtschaftliche Konkurrenz um die Reichtümer der Welt eingeordnet. Seine Atomstreitmacht will Russland aus nationalen Gründen beibehalten. Schließlich handelt es sich bei der Konkurrenz auf dem Weltmarkt nicht im naiven Sinne des Wortes um eine Partnerschaft im friedlichen Warenhandel, sondern um gegensätzliche Interessen, die ständig von allen Seiten gesichert und ins Recht gesetzt werden müssen. Wo jede Seite im Rahmen der marktwirtschaftlichen Konkurrenz der Nationen versucht, ihren Nutzen zu maximieren und den Schaden – der sich aus der überlegenen Produktivität anderer Nationen zwangsläufig ergibt – so klein wie möglich zu halten, wird die Phrase vom wechselseitigen Nutzen des Freihandels regelmäßig durch harte protektionistische Maßnahmen widerlegt. Der Übergang von Freihandel zum Handelskrieg ist bekanntlich fließend. Die Sicherung der vitalen Interessen der Nation beschränkt sich aber nicht nur auf die diversen Erpressungsmanöver im Rahmen ihrer Außenhandelspolitik. »Unsere« Rohstoffe, »unsere« Absatzmärkte, die Sicherung »unserer« weltweiten Schifffahrts- und Handelswege gilt es darüber hinaus zu schützen. In ihrer Konkurrenz um die Reichtümer der Welt und die notwendige Sicherung ihrer Konkurrenzerfolge akkumulieren die Weltmächte somit in Friedenszeiten permanent Kriegsgründe gegeneinander und bereiten sich entsprechend militärisch auf den Ernstfall vor.
Dass Russland aufgrund der Wucht seiner Militärmacht nicht einfach durch die Gewaltmittel anderer Nationen in die Schranken gewiesen werden kann, sondern über politische Unterstützung einschließlich Waffenlieferungen gegenüber anderen Nationen selbst »sicherheitspolitisch« aktiv werden kann, ist unmittelbar eine Bedrohung der »Sicherheitsinteressen« konkurrierender Nationen und insbesondere der Weltordnungsmacht und ihrer im Militärbündnis der NATO zusammengeschlossenen Vasallen. Die Osterweiterung der NATO ist aus Sicht des »Freien Westens« daher zur „Sicherung von Frieden und Stabilität“ unerlässlich. Ebenso die Stationierung von Raketenabwehrsystemen in europäischen Partnerländern, um fremde Atomraketen zu entschärfen und damit zielstrebig die eigenen richtig scharf zu schalten. Nachdem mit Tschechien, Ungarn, Polen, Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, der Slowakei und Slowenien bereits zahlreiche frühere Verbündete ins Militärbündnis gegen Russland aufgenommen wurden, wird jeder weitere Versuch der militärstrategischen Einkreisung zu einem immer brisanteren Testfall auf die Strapazierfähigkeit der „vitalen Interessen“ Russlands. Ein Testfall, der irgendwann zur Entscheidung ansteht und der mit der Ukraine in seine entscheidende Phase getreten ist. Während bisher lediglich Verbündete Russlands ausgeschaltet bzw. vereinnahmt wurden und damit der störende Weltmachtanspruch Russlands bekämpft wurde, ist nun mit Sanktionen seitens des „Freien Westens“ gegen Russland der Übergang zur direkten Bekämpfung der gegnerischen Macht vollzogen worden. Ob es das Wunder der Selbstauflösung, das der »Reale Sozialismus« zustande gebracht hat, ein zweites Mal geben wird, ist äußerst fraglich. Eines ist dagegen sicher: Mit jedem weiteren Versuch, Russland in die Knie zu zwingen, wird der Testfall, ob „Russland den dritten Weltkrieg anzetteln will“ weiter aktiv vorangetrieben.
Dass letztlich zur Verteidigung von „Frieden und Freiheit“ zurückgeschossen“ werden muss, darin sind sich nicht nur die Politiker des Freien Westens einig. Die weltweite Kriegsbereitschaft fängt schließlich nicht erst an, wenn auf beiden Seiten von den Politikern der Verteidigungsfall ausgerufen wird. Kriege werden im Frieden vorbereitet. Es ist nicht erst der Kriegsdienst, sondern bereits das ganz normale bürgerliche Leben, über das mit Arbeit, Steuern und demokratischen Wahlen die Kriegsfähigkeit der Nation hergestellt wird. Krieg gibt es nicht, weil er schlicht ausgebrochen ist und man nun vor der blöden Alternative steht, mitzumachen oder von denen, die sich zum Mitmachen entschlossen haben, an die Wand gestellt zu werden, sondern weil die Mehrheit der Bevölkerung gar nichts am Inhalt des Friedens – der die Kriegsgründe liefert – auszusetzen hat. Krieg gibt es, weil die Bevölkerung die nationalen Kriegsgründe teilt, für die sie von ihren Politikern in den Krieg geschickt wird.
Wer gegen diese Kriegsbereitschaft mobilisieren will, muss verhindern, dass die Mehrheit der Bevölkerung bereit ist, für ihre Nation das eigene wie das Leben anderer zu opfern. Wer gegen Krieg ist, braucht Argumente gegen die Liebe zur Nation.
[von der Facebook-Seite von Hermann Lueer]