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Der Jude als Sündenbock?

16. April 2010

DER JUDE ALS SÜNDENBOCK
„Darum schreit man: haltet den Dieb! und zeigt auf den Juden. Er ist in der Tat der Sündenbock, nicht bloß für einzelne Manöver und Machinationen, sondern in dem umfassenden Sinn, daß ihm das ökonomische Unrecht einer ganzen Klasse aufgebürdet wird.“ (Adorno/Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 183, Frankfurt 1988)

Diese Vorstellung, daß zur Vermeidung eines möglichen Aufstands der deutschen Arbeiterklasse gegen ihre Herrschaft und Ausbeuter trickreich die Juden als Sündenböcke aus der Tasche gezogen worden seien, denen man einfach das „ökonomische Unrecht“ aufbürden konnte, ist zwar beliebt, aber nicht besonders logisch.
Sicher hat Hitler die Juden zu Feinden des deutschen Volkes erklärt und entsprechend behandeln lassen. Nur – daß die Judenvernichtung in Wahrheit ein Manöver gewesen wäre, mit dem er „eine ganze Klasse“ eingeseift und von ihrem „eigentlichen“ Anliegen abgebracht hat, das kann nicht stimmen.
Die Sündenbock-Theorie beruht nämlich einerseits auf der Unterstellung, daß die Arbeiterklasse sich auf ihre ökonomische Lage besonnen hätte, sich über die Verursacher ihres immerzu kümmerlichen Lebensunterhalts im klaren und darüber hinaus auch bereit gewesen wäre, daraus eine praktische Konsequenz zu ziehen, die den Staat gefährdet hätte. Zugleich soll sie sich aber von diesem Vorhaben einfach dadurch „ablenken“ gelassen haben, daß man ihr (irgend-) einen Sündenbock gezeigt hat. Damit wiederum wird derselben Arbeiterklasse unterstellt, sie hätte genau derselben Herrschaft, die sie zuvor für ihre miese Lage verantwortlich gemacht hat, gutgläubig abgenommen, daß die am „ökonomischen Unrecht“ völlig unschuldig sei und vollstes Vertrauen verdiene. Diese Sorte nationalistischer Vertrauensseligkeit verträgt sich schlecht mit der Unterstellung der ganzen Konstruktion, die Klasse sei zum Kampf gegen ihre Ausbeuter bereit gewesen.
Darüber hinaus soll die Arbeiterklasse aus heiterem Himmel geglaubt haben, daß Leute, die ja im ökonomischen Leben Deutschlands genauso auf die gesellschaftliche Hierarchie verteilt waren wie die Deutschen ‚arischer Rasse‘ auch, ausgerechnet aufgrund eines ihnen zugeschriebenen rassischen Merkmals an der eigenen ökonomischen Lage Schuld gewesen seien. Da soll sich also das Wissen um die Gründe der eigenen ökonomischen Misere bestens vertragen mit der Bereitschaft, auf jede nationalistische Deutung des Elends einzusteigen.
Und schließlich sollen Leute, die an der Besserung ihrer materiellen Lage interessiert waren, plötzlich damit zufriedengestellt worden sein, daß ihnen irgendein Schuldiger präsentiert wurde, desse Verfolgung bekanntlich um keinen Deut reicher macht.
Fazit: Die Sündenbock-Theorie taugt überhaupt nichts. Arbeiter, denen es tatsächlich um ihren materiellen Nutzen geht, lassen sich ein nationales Programm nicht bieten, das ihnen Arbeits- und Kriegsdienst einbringt. Da hilft dann auch kein Sündenbock. Von solchen Arbeitern gab es offensichtlich 1933 viel zu wenige.
Umgekehrt fällt die Hetze gegen Juden, Ausländer und Kommunisten nur bei anständigen Deutschen auf fruchtbaren Boden. Bei Leuten also, die ihren Erfolg mit dem Erfolg der Nation gleichsetzen, bei anderen die eigene Opferbereitschaft für das Große und Ganze vermissen und deswegen staatlichem Terror gegen alle, die als Störer eines gelungenen Verhältnisses zwischen Staat und Volk dingfest gemacht werden, beipflichten. Ein Trick mit einem ‚Sündenbock‘ erübrigt sich da: Und wenn ein solcher Trick nötig wäre, würde er gar nicht funktionieren.
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Der obige Text ist 1988 in der MSZ erschienen . Jetzt hat ihn jemand wieder ausgegraben und bei rhizom als Kommentar zu dessen Artikel “Islamophobie und Antisemitismus” gepostet.

Kategorien(1) MG + GSP Tags:
  1. bla
    16. April 2010, 17:27 | #1

    Kannst du evtl. die Literaturangabe hinter dem Zitat korrigieren?
    Korrekt ist: Adorno/Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 183, Frankfurt 1988.

  2. Nestor
    17. April 2010, 01:24 | #2

    Die Sündenbock-Theorie enthält eine Wahrheit und einen Irrtum.
    Der Irrtum ist der, und darauf weist der oben zitierte Artikel hin, daß man den an und für sich auf Klassenkampf eingestellten Arbeiter auf die Schuldsuche umgepolt hat. Daß Leute, die eigentlich mit Staat und Kapital hätten aufräumen wollen, mit einem „Sündenbock“ sozusagen abgespeist worden sind, und die wären dann darauf eingestiegen. Das kann gar nicht gehen. Wenn irgendwer gemeint hätte, der Feind seien das kapitalistische System und seine Repräsentanten, dann hätten die sich nie und nimmer darauf verpflichten lassen, den Juden als den „wirklichen“ Feind zu betrachten.
    Die Sündenbock-Theorie enthält aber leider auch eine Wahrheit über das Denken des modernen Untertanen, des demokratischen Staatsbürgers. Systemkritik ist ihm insofern fremd, als er sich in seinen eigenen – wie auch immer dürftigen und zum Scheitern verurteilten – Kalkulationen nicht beirren lassen will und am System der Konkurrenz festhält. Den Tüchtigen gehört die Welt! usw. Und da paßt es ihm ausgezeichnet in den Kram, sich sein eigenes Scheitern dadurch zu erklären, daß er auf Schuldsuche geht. Das Dingfest-Machen von Schuldigen, heute sind es die Bankiers und/oder korrupte Politiker, ist ein ausgezeichnetes Mittel dafür, die Marktwirtschaft für eine feine Sache zu erklären, die nur deshalb nicht ihre segensreiche Wirkungen für alle Beteiligten entfaltet, weil irgendwelche Mistkäfer, die sich nicht an die Spielregeln halten, die Errungenschaften der Konkurrenz zunichte machen. Also: Das System ist fein, nur bei der Ausführung hapert es, und die Verhinderer haben Namen und Gesichter.
    Insofern sind wir nicht weit entfernt von 1931, und das heißt nicht, daß der Faschismus wieder vor der Tür steht, sondern daß das politische Denken heute genauso verkommen ist wie damals.
    Schlechte Aussichten für Kapitalismuskritik.

  3. Korrektleser
    17. April 2010, 21:21 | #3

    Vielleicht hätten sich die MSZ-Autoren die ganze Textpassage ansehen sollen. Dann wäre nämlich klargeworden, daß Adorno und Horkheimer hier die Ideologie der nationalistischen KAPITALISTENKLASSE beschrieben haben, und dann auch erklären, wie und warum von ihr an den Materialismus der Arbeiter appelliert wurde, die angeblich von den Juden betrogen wurden. Die staatliche Herrschaft setzte dann diese ideologische Offensive mit dem Beifall ihrer Geldgeber und einem Grossteil derer, die sich zu kurz gekommen wähnten, praktisch um. Nirgendwo wurde behauptet, es hätte ein klassenbewusstes Proletariat gegeben, das man umpolen musste…

  4. Antidenunziant
    17. April 2010, 22:38 | #4

    Nirgendwo wurde behauptet, es hätte ein klassenbewusstes Proletariat gegeben, das man umpolen musste…

    Wäre auch komisch, oder weshalb wurde schon die Fromm-Studie durchgeführt? – Mangelndes Klassenbewusstsein.

  5. gescheit
    18. April 2010, 14:03 | #5

    Das ärgerliche bei euch ist immer, dass ihr so tut, als habe es keine Sozialdemokratie und keine kommunistische Arbeiterbewegung gegeben. Wen haben die Nazis da eigentlich in die KZs gesperrt und zu tausenden zu Tode geprügelt?
    Das ist auch einer der großen Irrtümer der MG und der resultiert aus einer Endtäuschung, dass da die Malocher mal so gar nicht auf deren Agitation anspringen wollten.
    Nur weil man verloren hat und die Truppe halt autoritätshörig in ihren eigenen Untergang gerannt ist, kann man daraus wohl kaum schließen, die hätten sich den Judenhass der Nazis einleuchten lassen. So ein ausgemachter Blödsinn. Aber den Scheiß muss man sich ständig anhören von Leuten, die, wenn der VS „Buh“ macht, gleich wie ein aufgeschreckter Hühnerhaufen auseinander rennen. Pffffffffff

  6. Nestor
    20. April 2010, 09:53 | #6

    @Antidenunziant

    Mangelndes Klassenbewusstsein.

    Aus der Abwesenheit von etwas läßt sich gar nix erklären.
    Was ist das eigentlich, „Klassenbewußtsein“? Wählt man sozialdemokratisch, kommunistisch, macht man auf Revo, oder läßt man am Stammtisch den selbstbewußten Proleten heraushängen? Lauter Dinge, die einander widersprechen.
    @gescheit
    Daß die Nazis mit ihren Gegnern verfahren sind, wie das eben geschehen ist, kann einen ja nicht weiter verwundern.
    Tatsache ist, daß sie weder nach innen noch nach außen so hätten verfahren können, wenn sich nicht die Mehrheit der Bevölkerung ihr Programm, Deutschland wieder groß zu machen, einleuchten hätte lassen.

  7. Antidenunziant
    28. April 2010, 23:30 | #7

    @Nestor: Die Gründung des Frankfurter Institut ist Ergebnis dessen, dass der Histomat keine Erfüllung erfand. Viele waren davon ausgegangen, dass die Geschichte zum Sozialismus treibe, dementsprechend, dass ein Prolet automatisch zum Kommunisten werden müsse (es gab abenteuerliche Berechnungen von Sozialisten, zum Beispiel wenn Deutschlands Industrialisierung so fortschreite, dann sei Anfang der 1930er der Sozialismus quasi erreicht) – Mitte der 1920er war diese Hoffnung spätestens enttäuscht, zumindest für Adorno und Co. Sie versuchten dann zu ergründen, wieso dem nicht so war. Das mögen sie sich falsch erklärt haben.
    Was hat Henry Ford eigentlich gemacht?

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