Home > (1) MG + GSP > Verfall und freier Wille

Verfall und freier Wille

31. Oktober 2009

Der Blogger Kohleofen hat auf seinem Blog „ofenschlot“ einige Diskussionsbeiträge im hiesigen Thread „„Mußten“ die auch, oder wollten die nur? (Zum Charakter der Sowjetunion)“ mit dem Hinweis auf „einige [seiner] kritischen Beiträge zum Gegenstandpunkt“ überarbeitet nochmals dokumentiert.

Kategorien(1) MG + GSP Tags:
  1. Nestor
    1. November 2009, 01:30 | #1

    Also gut, ich versuch es noch einmal.

    Mag sein, aber warum sollten sie denn gestellt werden? Wenn du einen historischen Abriß über Klassenkämpfe einforderst – der, wenn er deinen hohen Vollständigkeitsansprüchen genügen müßte, notwendig unendlich wäre –, was wäre jetzt der Erkenntnisgewinn in Bezug auf das, was das Proletariat hier und heute (Mitteleuropa) darstellt? Denn um das geht es in dem Proletzariat-Buch.

    Also, sachfremd oder Wunschkonstruktion, ich kann mich da nicht ganz entscheiden. Ich verstehe einfach nicht, was das eine mit dem anderen zu tun hat. Und übrigens, Bücher der Art, wie du beim GSP vermißt, gibt es doch woanders, bei anderen linken Organisationen zuhauf. Warum doppelt moppeln?

    Hier liegt ein grundliegendes Mißverständnis vor: Den freien Willen gibt es nicht NEBEN der Domestizierung, sondern diese letztere war und ist nur dank ihm möglich. Ansonsten brauchte es ja jede Menge Aufseher und Gefängniswächter, um die arbeitende Klasse dazu zu zwingen, sich für den Dienst am Kapital zur Verfügung zu stellen. Also: gerade bekannt ist, daß Unterordnung unter die Maßstäbe des Kapitals auf Freiwilligkeit beruht, haben sich bürgerliche und sozialdemokratische Politiker immer sehr bemüht, den Willen der Mitglieder des p.t. Proletariats in ihrem Sinne zu beeinflussen. Deswegen gibt es Medien im Kapitalismus, staatliche wie private, die dem lieben Volk immer genau erklären, welche geistige Stellung es in dieser oder jener Frage einzunehmen hat.
    Wille und Bewußtsein sind also keineswegs ein Spleen des GSP, sondern die ganze Praxis des bürgerlichen Staates – Unterrichtswesen und Rechtspflege – sind der Beweis dafür, daß seine Parteigänger und Macher die Sache genauso sehen und eben in ihrem Sinne darauf Einfluß nehmen.

    Schließlich, worauf bezieht sich das „gerechte Ende“ und die „Karriere“ des Proletariats? Diese beiden Begriffe dienen dir ja gerne als Beweis dafür, daß der GSP letztlich und im stillen Kämmerchen doch an glaubt.
    Diese beiden Begriffe wenden sich nicht gegen die tatsächlichen Veränderungen in der Arbeiterklasse, dem Verhältnis von Kapital und Arbeit, der Verwandlung des von den politischen Vorgängen ausgeschlossenen Proletarier zum selbstbewußten citoyen. Nein, mit diesen beiden Begriffen wenden sich die Autoren gegen die des Proletariats durch die marxistische Theorie, ob sozialdemokratisch, bolschewistisch, trotzkistisch: Da wurde der Arbeiterklasse eine Mission zugeschrieben (der Fehler beginnt im Manifest), nämlich die Menschheit zu befreien, und seither hat diese Klasse ein Glorienschein umgeben. Und daß sie heute ideologisch völlig integriert ist, ist in dieser Logik eben das „gerechte Ende“: Wer Geschichtstelelogie betreibt, auf selbständig ablaufende Prozesse aufspringen will und Klassen oder Völkern Missionen zuschreibt, der beugt dann auch sein Haupt in jede historische Notwendigkeit und gibt alle Kritik auf, wenn sich seine Hirngespinste in Luft auflösen.

  2. star wars
    1. November 2009, 13:22 | #2

    Ersteinmal auch von mir beste Genesungswünsche.

    Also ich sehe das genau umgekehrt. Wenn die Proleten von der bürgerlichen Herrschaft dazu gezwungen werden sich einzufügen, was sie, dem eigentlichen Bedürfnissen und Wünschen der Proleten entsprechend nicht wollen können, müsste ein Aufstand gegen die hiesigen, von einer Herrschaft ihnen aufgezwungenen Verhältnisse, auf dem Fuße folgen. Wenn nicht seit Lykurg, dann doch spätestens in nächster oder übernächsten Generation. Dass die hiesige Klassenpraxis diese Erwartungshaltung von Revolutionären nicht bestätigt, dass nicht nur seit gestern, sondern schon durch die ganze Klassengeschichte in Europa die hiesige Affirmationsleistungen, eines angeblich von der Staatsgewalt aufgezwungenen Knechtsbewusstseins, der Klassenfreunde, fortdauert, muss als Widerlegung der vorausgesetzten Revolutionshoffnungen, durch die ansonsten von GSP-Freunden immerzu gepriesene Realität, aufgefasst werden. Die theoretische Interpretation der vielbeschworenen Affirmationsleistungen der Klassenfreunde, als freies Knechtsbewusstsein, dient ansonsten doch nur als Verlängerungskabel eigener Revolutionsbestrebungen, in die bürgerliche Wirklichkeit der Proleten, hinein.

    Die GSP-Theorie lebt durch eine Zirkel ihrer Adepten, steht und fällt nur durch einen Gedanken: die Revolution lebt, sie ist in allen Zeiten und überall möglich gewesen. Wer das anders sieht, betreibt „historischen Materialismus“. Pech nur, dass die Proleten es, eigentlich überall und zu allen Zeiten, grundsätzlich anders gesehen haben müssen.

  3. soso
    1. November 2009, 13:59 | #3

    „müsste ein Aufstand gegen die hiesigen, von einer Herrschaft ihnen aufgezwungenen Verhältnisse, auf dem Fuße folgen“

    Warum denn? Offensichtlich arrangieren sich Untertanen seit Jahrhunderten mit ihnen aufgezwungenen Herrschaftsverhältnissen. Den staatlichen Zwang in Gestalt eines Gewaltmonopols zu leugnen, weil Revolutionen selten geworden sind, will ein gewaltträchtiges Abhängigkeitsverhältnis in eine Dienstleistung für Geknechtete verfabeln. Nur weil die Proleten nichts von Kritik halten, verschwinden doch die angedrohten oder tatsächlichen Repressionen nicht!

  4. star wars
    1. November 2009, 14:06 | #4

    Der Begriff „arrangieren“ ist dein Konstrukt.

  5. star wars
    1. November 2009, 14:10 | #5

    „Repressionen“, jetzt bedienst du dich auch noch über die Soziologie. Es gibt noch andere Begrifflichkeiten, „Macht“, „Herrschaft“, „Unterdrückung“, „Werte“, „Handlung“ usw.. Die können beliebig, je nach theoretischem Vorurteil, benutzt werden.

  6. soso
    1. November 2009, 14:37 | #6

    Nenn es wie du willst, den staatlichen Zweck der dauerhaften Gewaltausübung gegen seine und andere Untertanen zu leugnen, ist albern. Nur weil DU unzufrieden mit dem Opportunismus der Beherrschten bist, sind die noch lange nicht „ungezwungene“ Masochisten:

    „Staatsgewalt als wichtigstes Kriterium eines Staates ist die Fähigkeit, die Herrschaft im Staat selbst (unabhängig) zu organisieren und auszuüben. Sie ist Herrschaftsgewalt, folgt aus eigenem Recht und liegt unteilbar bei einem Träger (eine Gewaltenteilung ist nur hinsichtlich ihrer Ausübung möglich).“
    (rechtswoerterbuch.de)

  7. star wars
    1. November 2009, 15:11 | #7

    Wie ich schon sagte,

    Ich leugne nicht den Staatszwang, ich begründe ihn als Ensemble bürgerlicher Verhältnisse im Kapitalismus. Der Staatszwang Marke GSP ist dagegen das Produkt eines Agitationswillens, den sich die Proleten zulegen könnten, um auf der Grundlage, diesen beseitigen zu lassen. Du und ich diskutieren also über ganz verschiedene Erklärungsgegenstände, obwohl es auf den ersten Blick danach aussieht als ob wir das gleiche diskutieren würden.

  8. Nestor
    1. November 2009, 15:41 | #8

    @star wars
    Aber wie werden sie denn gezwungen? Doch nicht so, daß sie jeden Morgen wer abholt und in die Fabrik stellt. Sondern so, daß ständig von allen Rohren auf sie einströmt, daß es nicht anders geht, so die beste aller bestmöglichen Welten funktioniert, der Mensch sowieso von Natur eine Sau ist, usw.
    Deswegen gibts auch ein Schulwesen, damit das schon früh der noch weichen Persönlichkeit hineingedrückt wird.
    Auch die Rechtspflege unterstellt einen freien Willen, darauf beruht das Prinzip der Schuldfindung.
    Worauf ich hinaus will: Der Staat weiß genauso wie der GSP um den freien Willen, deshalb bemüht er sich in allen Abteilungen, auf ihn Einfluß zu nehmen und seine Betätigung in erwünschte Bahnen zu lenken.

  9. star wars
    1. November 2009, 16:34 | #9

    Da dumme ist nur dass diese Ideologien nur dann funktionieren wenn sie bereits beim Bürger auf fruchtbaren Boden fallen können. Der Wille kann nicht, unter der Bedingung seiner Umgehung, zu etwas bewegt werden was er nicht will. Diese, von dir angesprochene, prinzipielle Einsichtsfähigkeit in die Notwendigkeiten entsteht über viel härtere, grundsätzliche Entscheidungskriterien: Als Eigentümer will ich andere prinzipiell über die Verfügung von Reichtumsvoraussetzungen ausschließen. Jugendliche sind genau deswegen, weil sie ihr Leben (noch) nicht als Eigentümer doppelt frei, sondern noch auf die Hilfe ihrer Eltern angewiesen sind, viel umgänglicher als die immerzu vertrottelten Erwachsenenlehrgänge, zu der auch sie später oft werden.

Kommentare sind geschlossen