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SAZ zum Bildungsstreik

18. Juni 2009

Straßen aus Zucker (zu denen unter anderem auch TOP Berlin gehört, die wiederum Teil des ums-Ganze-Bündnis sind) haben mir folgenden Artikel als Kommentar geschickt, den ich der besseren Lesbarkeit hier hingepackt habe:

Nie wieder (Schul-)Klassen!
Warum müssen wir uns eigentlich fünf Tage die Woche mit Dingen beschäftigen, die uns weder großartig interessieren, noch außerhalb von Schule und späterem Beruf jemals gebraucht werden? Sinnlose, für mich und dich sowohl uninteressante als auch unwichtige Fakten auswendig lernen, nur um diese dann in der Klausur hinzuschreiben und anschließend wieder vergessen zu können. Selbst Themen, die einen sonst interessieren, werden, wenn sie in der Schule behandelt werden, aufgrund des Zwanges sich mit ihnen zu beschäftigen zur Hölle. Erst recht unter ständigem Notendruck und zu absurden Uhrzeiten wie 8 Uhr in der Früh. Wenn du Montagmorgen in der Klasse hockst und bereits über die Freitagabendgestaltung nachdenkst, denkst du dir da nicht auch gelegentlich: Irgendwas stimmt mit diesem Leben doch nicht?!

Wer? Wie? Was?
Aber warum existiert eine Institution wie Schule überhaupt in unserer Gesellschaft? Man könnte meinen, um den Menschen ein Allgemein- und Fachwissen zu vermitteln, damit man im Alltag möglichst gut zurechtkommt. Für grundlegende Dinge (Grundrechenarten, Lesen/Schreiben, zentrale historische Zusammenhänge usw.) erscheint dies auch logisch. Jedoch stellt sich die Frage, inwiefern z.B. die Fähigkeit, Algorithmen auszurechnen und Kenntnis über die verschiedenen Monosacharidketten zu besitzen, mir bei meiner Alltagsbewältigung helfen soll. Außerdem: Angenommen, das oft gepredigte, zynische Motto „Fürs Leben lernen wir“ wäre tatsächlich Grundlage des staatlichen Schulbetriebs, wäre es dann nicht sinnvoller, viel mehr alltagstaugliches Wissen wie Kochen oder Sozialverhalten zu vermitteln? Die Annahme, dass Schule existiert, damit jede_r Einzelne in der persönlichen Entwicklung und im Alltag unterstützt wird, scheint somit vollkommen naiv und absurd.
Andere, die sich vielleicht politisch in der linken Ecke verorten würden, meinen, Schule sei deshalb so langweilig und „ineffektiv“, weil „die Politiker und die Reichen“ „das Volk“ dumm halten wollen, damit diese nicht auf revolutionäre Gedanken kommen. Ergo werden dann Forderungen wie etwa nach einem höheren Bildungsetat und besserem deutschen Abschneiden bei den PISA-Tests laut, oder, wie zuletzt bei den bundesweiten Schulstreiks, es wird sich darüber beschwert, dass so viele Schulstunden ausfallen. Komisch, dass wäre tatsächlich das Letzte, was ich an der Schule zu kritisieren hätte, im Gegenteil: Ich freue mich über jede Schulstunde, die ausfällt und in der ich mich statt mit den Funktionen der verschiedenen Organe des Luchses mit anderen, sinnvolleren Sachen beschäftigen oder einfach ausschlafen kann. Mal ganz abgesehen davon, dass es absurd ist, davon auszugehen, dass ein höherer Bildungsgrad einen Menschen zwangsläufig dazu bringt, über die Gesellschaft nachzudenken, bewusster zu leben und so vielleicht auch irgendwann auf wie auch immer geartete „revolutionäre Gedanken“ zu kommen, ist diese Annahme schlicht selbstüberschätzend; hier wird der Einfluss der politischen Linken auf die Gesellschaft und die Bevölkerung der BRD leider maßlos übertrieben.

Wieso? Weshalb? Warum?
Vielleicht ist es für die Suche nach Sinn und Zweck von Schule in unserer Gesellschaft sinnvoller, wenn man nicht von „Schule im luftleeren Raum“ ausgeht, sondern sich die Funktionsweise unserer Gesellschaft anschaut und anschließend überlegt, welche Rolle die Schule bzw. Bildung generell in dieser einnimmt. Dann kommt man nämlich schnell zu der Erkenntnis, dass ohne Menschen, die (fast) jeden Tag arbeiten gehen und um die verfügbaren Arbeitsplätze konkurrieren, hier so gut wie nichts funktioniert. Das Prinzip Lohnarbeit scheint zentral wichtig und damit auch die Eignung der Menschen für die verschiedenen Arbeiten. Um bei Siemens irgendwelche Staubsauger zu entwickeln, braucht man eine Ausbildung in Elektronik und als Architekt_in sollte man über Grundwissen in mathematischer Statik verfügen. Langsam wird es offensichtlich: Eine Hauptaufgabe des staatlichen Bildungsbetriebs im Kapitalismus ist die Ausbildung von „Menschenrohmaterial“ zu fähigen Arbeitskräften, damit diese anschließend möglichst fachkundig für die verschiedenen Unternehmen oder auch für den Staat selber schuften können. Für uns alle konkret heißt das, dass nach den vielen Jahren Schule (plus eventuell Uni oder Ausbildung) noch viele Jahrzehnte Lohnarbeit anstehen, bevor wir dann Ende 60 endlich in Rente gehen und mit dem Leben anfangen können. Irgendwas stimmt hier nicht.

Zurück zur Schule…

Neben einer derartigen ökonomischen Funktion kommt Schule in der bürgerlichen Gesellschaft auch eine ideologische zu. Warum wird in Geschichte zum Beispiel immer nur die deutsche bzw. die als „deutsch“ konstruierte, sprich die Geschichte der Gebiete der heutigen BRD behandelt? Wenn’s hoch kommt, ist auch mal die französische oder die englische Revolution Thema; durch diese hauptsächlich auf Deutschland und Europa gerichtete Fokussierung des staatlichen Geschichtsunterricht wird uns Schüler_innen vermittelt, dass die vor 2000 Jahren lebenden Germanen in irgendeiner Hinsicht mehr „zu uns gehören“ als zum Beispiel die Mongolen oder die alten Chinesen. Somit soll auch in Hinblick auf aktuelle politische Debatten die konstruierte deutsche Nation gerechtfertigt und pseudowissenschaftlich erklärt werden.
Ein anderes Beispiel für die ideologische Funktion der Schule im Kapitalismus ist neben dem Deutsch- oder dem Religions- bzw. Ethikunterricht die „Politische Wissenschaft“. Alle vier Semester der Oberstufe bauen nämlich auf dem staatsbürgerlichen Irrglauben auf, der Staat wäre als Ausdruck des „Allgemeinwillens“ der Bevölkerung in der Lage, die Gesellschaft wesentlich alleine zu gestalten. Aber kein_e PW-Lehrer_in kann leugnen, dass es in der bürgerlichen Gesellschaft sich widersprechende Interessen, etwa zwischen Arbeitnehmer_in und Chefetage, gibt und die Idee des „Allgemeinwillens“ somit komplett irrsinnig ist. Außerdem werden die unserer Gesellschaft zugrunde liegenden ökonomischen Prinzipien, die den Alltag hauptsächlich bestimmen, so gut wie gar nicht behandelt.

…und zur Gesellschaft
Jetzt da wir sowohl die ökonomische als auch die ideologische Aufgabe von Schule im Kapitalismus grob erfasst haben, wird auch klarer, was ein „erfolgreiches“ Schulsystem ist. Nämlich keineswegs, wie das weiterhin von einigen naiven Gutgläubigen behauptet wird, die Vermittlung von möglichst viel Wissen für Alle – denn dann wäre der Großteil der Arbeitskräfte nämlich überqualifiziert und wer soll dann noch bei Kaisers an der Kasse sitzen?! Aber auch kein „Dummhalten“ der Bevölkerung: Deutsche Unternehmensvertreter beschweren sich regelmäßig über die schlecht ausgebildeten Arbeiter_innen, die das deutsche Schulsystem produziert, woraufhin Politiker_innen schnell verlauten lassen, dass alles Mögliche für eine Besserung der Lage getan würde. Ein erfolgreiches Schulsystem im Kapitalismus sorgt neben der ideologischen Formung der Schüler_innen vielmehr für eine möglichst optimale Befriedigung der unternehmerischen Anforderungen an „deren“ Lohnarbeiter_innen. In Nationalökonomien, in denen wenig Facharbeiter_innen, dafür viel körperliche Arbeitskraft gebraucht wird, ist es also durchaus gewollt und auch innerhalb kapitalistischer Logik notwendig, dass ein Großteil der Bevölkerung keinen guten Bildungsgrad besitzt, weshalb das Abschneiden bei den internationalen PISA-Studien kein Indikator für ein „gutes“ oder „schlechtes“ Bildungssystem ist.
Forderungen nach „besserer Bildung für alle“, Lernmittelfreiheit oder kleineren Klassen machen die Schulzeit für die_den Einzelne_n vielleicht teilweise erträglicher, greifen aber zu kurz, da sie den dummen Zweck von Schule im Kapitalismus überhaupt nicht in Frage stellen bzw. sich diesem oft gar nicht bewusst sind. Somit wird auch beim Thema Schule/Bildung ein weiteres Mal deutlich, dass die Lösung von gesellschaftlichen Problemen und damit auch eine wesentliche Besserung unserer individuellen Situation nur erreicht werden können, wenn das große Ganze, die derzeitige nationalstaatlich-kapitalistische Organisierung der Gesellschaft überdacht und letztlich durch Alternativen ersetzt wird.

Kategorien(3) Fundstellen Tags:
  1. 18. Juni 2009, 13:31 | #1

    Vieles aus dem Text unterschreibe ich so, umso mehr bin ich über den Einführungssatz gestolpert:

    „Warum müssen wir uns eigentlich fünf Tage die Woche mit Dingen beschäftigen, die uns weder großartig interessieren, noch außerhalb von Schule und späterem Beruf jemals gebraucht werden?“

    Da lese zumindest ich ein hoffentlich nicht gewolltes weitgehendes Einverständnis mit der Standardschülerauffassung heraus, daß Unterricht, der offensichtlich einen Inhalt hat, den man in einem „späteren Beruf“ „brauchen“ kann, schon ok. wäre bzw. ist. Was ja nur stimmen würde, wenn die Berufe vernünftig wären, was sie ja überhaupt nicht sind. Sodaß sich Schüler nur dann an Schule reiben, wenn sie das Gefühl haben, nicht „ordentlich“ auf die Arbeitsmarktkonnkurrenz vorbereitet zu werden.

  2. bernd
    18. Juni 2009, 17:00 | #2

    „Sodaß sich Schüler nur dann an Schule reiben, wenn sie das Gefühl haben, nicht „ordentlich“ auf die Arbeitsmarktkonnkurrenz vorbereitet zu werden.“

    diese lesart des ersten satzes läßt sich aber wirklich nicht aufrecht erhalten, wenn man den ganzen text gelesen hat. da gehts ja fast die ganze zeit drum…

  3. 18. Juni 2009, 17:27 | #3

    War offensichtlich mißverständlich: Ich wollte nicht SaZ unterstellen, daß die für eine ordentliche Vorbereitung aufs spätere Berufsleben seien. Sondern darauf hinweisen, daß unheimlich viele der jetzt empörten Kritiker vom aktuellen Schulwesen so drauf sind. Und dem Staat vorwerfen, nicht alle „gleich“ auf die Konkurrenz vorzubereiten, z.B. dadurch, daß an der eigenen Schule die Lehrer fehlen, die einem beibringen sollten, was man fürs Zentralabi unbedingt braucht. Sowas sollte nicht die Kritik an der kapitalistisch-demokratischen Schule sein.

  4. egal
    9. Juni 2012, 09:49 | #4

    du hast einfach den satz nicht richtig gelesen und verkehrst seine aussage ins gegenteil. da steht doch eindeutig, das man sich mit sachen beschäftigen muß die einen nicht interessieren und die AUßERHALB von schule und späterem beruf nirgends gebraucht werden. es geht also nicht um ne schuloptimierung für berufswege, sondern genau ums gegenteil…

  5. 9. Juni 2012, 09:53 | #5

    egal: Stimmt, den Satz hatte ich, wegen der vielen anderen, die sowas gut finden, nicht als Kritik daran identifiziert.

  6. Mattis
    9. Juni 2012, 12:31 | #6

    Testfrage wäre: wie versteht ein Schüler üblicherweise diesen Satz?
    Die Formulierung „nur um diese dann in der Klausur hinzuschreiben und anschließend wieder vergessen zu können“ ist dann schon eine verkehrte Kritik, weil hier die Nützlichkeit angemahnt wird, statt mit einer zu beginnen. Außerdem ist es sachlich einfach falsch, dass die Schulzeit („fünf Tage die Woche“) nur Dinge gelehrt werden, die nach Ablieferung der Klausur nicht mehr gebraucht werden. Und auch was nicht direkt sichtbar spätere Verwendung findet, dient dennoch der Vorbereitung auf bürgerliche Nützlichkeit, und sei es in rein ideologischer Hinsicht.
    Da die Analyse aber gleich nachfolgt, wird deutlich, dass diese Anfangsfehler in Summe nicht wirklich den Standpunkt des Textes ausmachen; trotzdem ist da eben ein Widerspruch zwischen dem Auftakt und der Gesamtlinie des Artikels.

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