Zartfühlend wie eine Ratte
In der Financial Times Deutschland vom 13.03.2008 steht ein hübscher Artikel von Denis Dilba (Hamburg) zu Robotik und Bionik:
Mit ihren empfindlichen Barthaaren können sich Ratten sogar in der Dunkelheit orientieren. Forscher wollen das hochsensible Sinnesorgan der Nager für Roboter nachbauen.
Nicht nur im chinesischen Kalender ist 2008 das Jahr der Ratte. Auch in der Wissenschaft macht der Nager Karriere: Im vor Kurzem gestarteten EU-Großprojekt „Biotact“ bauen Neurobiologen, Informatiker und Robotikexperten gemeinsam eine überdimensionierte Roboterratte. Sie soll sich genau wie das Original bewegen, den Kopf recken und vor allem: mit ihren Tasthaaren genauestens ihre Umgebung erkunden.
Das Vorhaben des Biotact-Teams ist ambitioniert. Bisher verfügt kaum ein Roboter über einen künstlichen Tastsinn; das Gros der Maschinen nimmt seine Umwelt über Kameras und Infrarotsensoren wahr. Und die Tasthaare der Ratte sind außerordentlich empfindliche Sinnesorgane, mit deren Hilfe sich die Tiere selbst im Dunkeln sicher bewegen können. Jedes der langen Haare kann einzeln bewegt und innerhalb von Sekundenbruchteilen auf wenige Mikrometer genau ausgerichtet werden. Treffen sie auf einen Gegenstand, registrieren Nervenzellen in den Haarwurzeln, wie sich jedes einzelne Haar biegt, im Gehirn entsteht so ein Eindruck von der Größe, Lage und Beschaffenheit des Objekts.
„Das Projekt ist hochspannend“, sagt Rudolf Bannasch, Geschäftsführer der auf bionische Systeme spezialisierten Firma Evologics. Eine solche Tasttechnologie berge ein enormes Potenzial: Maschinen könnten vergleichsweise einfach verschiedenste Oberflächen und Objekte unterscheiden. Bewegliche Roboter könnten auch dort sicher navigieren, wo kamerabasierte Systemen an schlechten Sichtverhältnissen scheitern, etwa in dichtem Nebel oder in trübem Wasser.
Sensible Vorbilder
Ratten ertasten Objekte und Oberflächen mit ihren Barthaaren. Die langen Fasern selbst sind empfindungslos; Sinneszellen in den Wurzeln registrieren, wie sich die Haare bewegen und wie stark sie bei einer Berührung gebogen werden. Im Forschungsprojekt Biotact soll dieses empfindliche Sensorensystem kopiert werden.
Robben orten Beutetiere anhand von Wirbeln, die sie im Wasser erzeugen. Anders als Ratten bewegen Robben ihre Barthaare dabei nicht, sondern halten sie starr und messen die Kraft, die sie dafür aufwenden müssen. Nach diesem Vorbild hat die russische Marine einen Sensor konstruiert, der an Bord von U-Booten eingesetzt wird.
Delfine stoßen unter Wasser Klicklaute aus – nicht nur zur Verständigung untereinander, sondern auch um anhand des Echos Beutetiere zu orten. Das System funktioniert selbst in Umgebungen mit erheblichen Störgeräuschen. Wissenschaftler erproben derzeit ein neues Sonarsystem, das nach diesem Prinzip arbeitet.
Feuerkäfer lassen sich auf abgebrannten Waldflächen nieder, die sie am Brandgeruch und an der Restwärme erkennen. Letztere messen sie mit hochsensiblen Infrarotrezeptoren, die durch die Lichtwellen in Schwingungen versetzt werden. Solche mechanischen Sensoren sollen in neuen, leistungsfähigeren Infrarotkameras zum Einsatz kommen.
Fische können mit den Sinneszellen entlang ihrer Seitenlinie feinste Druckveränderungen wahrnehmen – unter Wasser ein hervorragendes Sinnesorgan, da sich Schwingungen hier viel schneller ausbreiten als in der Luft. Künstliche Seitenliniensysteme befinden sich noch im Forschungsstadium.
Bannasch hatte das Biotact-Vorgängerprojekt „Artificial Mouse“ angeregt. Die Idee war dem ehemaligen Polarforscher gekommen, als er beobachtete, dass auch blinde Robben gute Jäger sind. Michael Brecht, Neurobiologe am Bernstein-Zentrum für Computational Neuroscience Berlin, sieht bei Ratten ein ähnliches Phänomen: „Wir müssen unsere blinden Versuchstiere mit weißen Punkten auf dem Rücken markieren, sonst könnten wir sie nicht von ihren sehenden Artgenossen unterscheiden.“ Ohne Tasthaare aber seien die Ratten völlig hilflos. Brecht untersucht im Biotact-Projekt auch den Tastsinn der etruskischen Spitzmaus: „Das Hirn dieser kleinen Art wiegt gerade mal 60 Milligramm, ist also so winzig, dass wir fast die gesamten Hirnaktivitäten während des Tastvorgangs unter dem Mikroskop verfolgen können.“
In einem Jahr soll ein Prototyp fertig sein. Um den Aufwand für Mechanik und Elektronik im bezahlbaren Rahmen zu halten, wird „Roborat“ rund viermal so groß wie eine normale Ratte, sagt Projektleiter Tony Prescott von der Universität Sheffield. Schwierig werde bei diesen Dimensionen die Auswahl des Materials für die künstlichen Barthaare. Stabil müssen die Fasern sein, gleichzeitig aber leicht und biegsam – und leicht zu bearbeiten. „Die Tasthaare müssen sich zum Ende hin verjüngen und vorgekrümmt werden“, sagt Prescott. Momentan experimentiert er mit Fiberglas, Nylon und verschiedenen Kompositmaterialien. Wie beim Vorbild wollen die Forscher die einzelnen Haare so genau steuern können, dass sich genau bestimmen lässt, welcher Teil eines Haars ein Objekt berührt, wie schnell es sich bewegen soll und wie viele Haare beteiligt sind.
Ein aktives, hochauflösendes System wäre ein entscheidender Fortschritt. Bei früheren Projekten wie Artificial Mouse hatten Forscher nur mit wenigen, passiven Barthaaren gearbeitet, die nicht gesteuert werden konnten. „Die große Herausforderung ist es, ein solches Sensorsystem zu entwickeln, das auch robust genug für den Alltagseinsatz ist“, sagt Prescott. Er sieht viele Anwendungsgebiete: So könnten in der Medizin Endoskope mit winzigen Tasthärchen ausgestattet werden, die dem Chirurgen vermitteln, welches Organ oder Gewebe er vor sich hat. Auch in der Raumfahrttechnik sei das System vorstellbar.
Für solche anspruchsvollen Aufgaben wird es frühestens in fünf Jahren reif sein, schätzen die Biotact-Forscher. Schneller könnte ein Roboterstaubsauger fertig werden, der mithilfe von Tasthaaren Objekte umfährt und erkennt, ob er auf Fliesen, Teppich oder Dielen fährt – und sein Reinigungsprogramm anpasst. „Das wird eine saubere Sache“, sagt Prescott.