Klassenkampf passé? Ein Streit über »Heuschrecken« und Antikapitalismus, über Nationalismus und internationale Solidarität
Jürgen Elsässers provokante Sichtweisen in seinem kürzlich erschienenen Buch »Angriff der Heuschrecken. Zerstörung der Nationen und globaler Krieg« haben jW-Autor Gerhard Hanloser animiert, in einen Briefwechsel mit dem Buchautor zu treten. Beide setzen sich mit wichtigen strategischen Problemen der Linken – im wahrsten Sinne des Wortes – auseinander und geben daher eine Momentaufnahme von der Linken ab: hin- und hergerissen zwischen Ankommen im Parlamentarismus und radikaler Kapitalismuskritik.
Hier Auszüge:
Lieber Jürgen,
Einige politische Wandlungen hast Du bereits durchgemacht. War es in Deiner antideutschen Phase verpönt, die Leute dort abzuholen, wo sie stehen – weil da angeblich nur der Nationa-lismus, Antisemitismus und Stumpfsinn grassierte–, willst Du heutzutage mächtig Gas geben, um da anzukommen, wo Du die Leute wähnst, um mit ihnen genau in diesem Zustand zu verweilen. Mittlerweile bist Du ein Fürsprecher eines neuen Populismus, propagierst Volks-fronten gegen »Heuschrecken« genannte Private Equity Fonds.
Lieber Gerhard,
Der Vergleich mit den »Heuschrecken« ist deswegen so zugkräftig, weil er in der Sache stimmt: Bestimmte Investmentfonds fallen doch tatsächlich wie eine biblische Plage rund um den Globus über stabile Volkswirtschaften und gesunde Betriebe her, saugen sie aus, spucken die darin enthaltene menschliche Arbeitskraft in die Gosse und lassen dann die industriellen Kadaver für irgendeinen Abdecker liegen.
Nun schreibst Du weiter, indem man den Protest auf diese Hedgefonds verenge, dränge man »die Eigentumsfrage und die Frage des Wohnens und allgemeiner des Lebens« in den Hinter-grund. Na und? Wo ist das Problem? Wenn die Linke immer alles mit allem vermengt und dann großartig die »Systemfrage« stellt, kann sie nicht gewinnen – die große Mehrheit in die-sem Land ist auf absehbare Zeit nicht für einen Systemwechsel hin zum Sozialismus. Aber wofür es Mehrheiten gibt, ist die Verteidigung des beziehungsweise die Rückkehr zum Sozial-staat, also für einen »rheinischen Kapitalismus« anstelle der Einführung des »angelsächsi-schen« Modells. Wenn die Linke hier der Bevölkerung hilft, ihren Willen gegen die Wirt-schaftseliten durchzusetzen, dann kann sie im zweiten Schritt mit den Leuten auch weiterfüh-rende Fragen – sagen wir: Verstaatlichung der Schlüsselindustrien – besprechen. Aber immer hübsch eines nach dem anderen, und immer in Kontakt mit den Menschen bleiben.
Lieber Jürgen,
Eine »Verteidigung des Sozialstaates« versuchst Du nicht nur mit Kumpel »Münte«, sondern auch mit waschechtem Nationalismus zu erreichen. … Kommt nach der Antiheuschrecken-kampagne zusammen mit Münteferings Vergleich nun eine Prorazziakampagne zusammen mit den Bullen der Sozis?
Lieber Gerhard,
offensichtlich hast Du den Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Eigentum nicht ganz kapiert. Auch in städtischen Wohnungen steigen die Mieten, das ist schon richtig. Aber die Bevölkerung kann das ändern, indem sie für andere Mehrheitsverhältnisse im Stadtrat sorgt– denn letzten Endes wird dort beschlossen, welche Mietpolitik gemacht wird, wie viele Sozialwohnungen zur Verfügung gestellt werden etc. … Wie will man denn hierzulande mini-male Lohnstandards verteidigen, wenn man nicht auf Baustellen und anderswo Razzien gegen diejenigen macht, die diese Standards unterlaufen? Die »Bullen der Sozis«, gegen die Du hetzt, verteidigen mit diesen Kontrollen die Tarifpolitik der Gewerkschaften, in der übrigens die Arbeitsmigranten einen wichtigen Teil ausmachen.
Lieber Jürgen,
Die Linke ist gespalten: Die einen folgen Deiner Sicht, wollen eine Politik der Absicherung sozialer Mindeststandards durch den Nationalstaat und verfolgen dabei eine Politik der Aus-grenzung. Die anderen sehen migrantische Arbeiter nur als Opfer und verlieren sich in parti-kularer Flüchtlingsunterstützung. Ist es so schwer, den Kampf für ein Aufenthaltsrecht, gegen Abschiebeknäste und gegen das Gesamtpaket der kapitalistischen Deregulierung zusammen zu führen – und zwar von unten?
Du gehst von vorneherein in die Defensive: auf den Staat hoffen, zur Polizei rennen, brav auf die repräsentative Demokratie setzen, minimale Lohnstandards mit Razzien verteidigen, das Kapital mit Protektionismus und Nationalismus abwehren. Inhalt und Wesen des reaktionären Populismus ist es, das lautstark und in kondensierter Form zu Gehör zu bringen, was der Al-lerweltsverstand so den lieben langen Tag in seiner ganzen Trübseligkeit ausbrütet.