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Kann der Staat sein System wählen?

10. März 2007

Wie ist das mit dem Staat, der an die jeweils ökonomisch herrschende Klasse gebunden, eigentlich nur sie selbst ist bzw. nach Engels, ihr „geschäftsführender Ausschuss“? Oder kann der Staat sein System wählen?
(Wiederaufnahme eines Punktes, der auch schon ein Thema im MDF selig gewesen ist)
Wenn man von einem Staat sprichst, der sich überlegt, welche Klassenstruktur, welches Eigentumssystem, welche Produktionsweise ihm am Besten dienen könnte, dann sträuben sich bei mir als altem Leninisten natürlich die Haare. Erstmal weil das doch (regelmäßig) so gewesen ist, daß diese „Erkenntisse/Wenden“ nicht kontemplativ, sondern durch einen handfesten Umsturz gekommen sind. Worin Leninisten dann immer den Beweis gesehen haben, daß Staaten fest an „ihre“ Klassenstruktur gebunden waren, eben der bewaffnete Haufen von Leuten war, der eine bestimmte Klassenordnung, die Herrschaft einer bestimmten Klasse gegen den Rest der jeweiligen Gesellschaft verteidigt hat. Der also weggeräumt werden muß, wenn man die Ordnung loswerden muß und dies gegen ihre reformistischen Konkurrenten hochgehalten haben, die immer gar keine Probleme damit hatten, im jeweiligen Staat hochzusteigen, oder dies wenigstens zu versuchen und für einen prinzipiell möglichen Erfolgsweg zu verkaufen. Der berühmteste Spruch ist dazu sicher, daß die Arbeiter die alte Staatsmaschinerie zerschlagen müssen, wenn sie das Lohnsystem loswerden wollen.
Ich gebe zu, daß das mit dem Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus einerseits nicht überall so schön vorbildlich wie in Frankreich abgegangen ist (und ursprünglich ja selbst in England ja eine recht vermischte und sich länger hinziehende Geschichte gewesen ist, die letztlich noch nicht einmal die Monarchie als staatliche Überwölbung abgeschafft hat)
Und daß andererseits die VR China eine besonders harte Nuß ist, wenn man den „reformistischen Film nicht rückwärts“(Trotzki) ablaufen lassen will. Denn wenn man in der Sowjetunion/Rußland immerhin ansatzweise noch so was wie eine Konterrevolution im klassischen politischen Sinn ausmachen kann (einige Leninisten/Trotzkisten „schafften“ das auch erst mit hinreichendem zeitlichen Abstand), so sehe zumindest ich nicht, wie man den Cut bei China hinkriegen will. Auf jeden Fall kann ich mir nicht wirklich vorstellen, daß der Charakter von Staaten, klassischen Klassenstaaten wie Arbeiterstaaten so rein „idealistisch“ bei Regierungs- oder Polibürorunden entscheiden werden kann. Der „Ausweg“, den staatskapitalistische Gruppen machen, indem sie sagen, dann war das eben grundlegend nie was anderes als Kapitalismus, dann brauchte es eben auch keine handfeste politische Konterevolution und eine soziale eh nicht, das überzeugt aber auch nicht so recht, denn was „Anderes“ war es doch für sonst alle anderen Strömungen sowohl in der Sowjetunion nach der Oktoberrevolution als auch strukturell ähnlich in Osteuropa, der VR China und Kuba. Bei Kuba ist der Klassenhaß aus den USA auf Castro allein eigentlich schon ein Argument gegen solche Erklärungen.
Dazu folgende Erwägungen als Gegenrede/Antwort:
Politische Herrschaft als solche steht über den Standpunkten und Interessen in der Gesellschaft, die sie beherrscht – das gilt für die Könige der frühmodernen Zeit wie für die bürgerlichen und realsozialistischen Souveräne. Als Hoheit hat sie auch ein eigenes Interesse, das nicht von vornherein identisch ist mit dem der Grundherren, Handwerksmeister oder Kapitalisten. Am ehesten noch ist die feudale Herrschaft unmittelbar identisch mit dem Interesse der Lehens- und Grundherren, die ihr die Waffenträger stellen. Aber sogar da hat das Interesse an Macht, ihrer Selbsterhaltung und Erweiterung, also auch ihrer Ressourcen, beim höchsten aller feudalen Herren, dem König oder Kaiser, ein Interesse entstehen lassen, das ihn gegen seine feudalen Klassenbrüder (wenn man so unzeitgemäß reden will), gegen den Adel aller Ebenen – eingenommen hat. Das Mittelalter ist ein einziger Kampf um wahre Hoheit, souveräne Macht; die Spitze der feudalen Hierarchie führte ihn gegen diese Hierarchie, auf die sie sich zugleich stützte. (Dieser Kampf ging im 30-jährigen Krieg in Deutschland verloren; in anderen europäischen Staaten bes. England und Frankreich wurde er schon früher geführt und gewonnen.) Der Aufstieg der Handelsherren und Fabrikanten geht auf die Genehmigung und die Privilegierung durch den König zurück, der deren Erzeugnis – Geld – einfach viel attraktiver und für seine Hoheit nahrhafter fand als die Naturalablieferungen seiner feudalen Hintersassen. Das alles, das Niederringen des Adels, die Errichtung eines tatsächlichen Gewaltmonopols, das es im Mittelalter nicht gab, die Privilegierung der Kaufleute und die entsprechende Entrechtung anderer (ursprüngliche Akkumulation) war natürlich alles ein riesiger Kampf und Krieg; der Souverän löst sich ja auch nicht so leicht aus der Bindung an die Adelsschicht, auf der seine Macht beruhte.
Die modernen Verhältnisse kommen dadurch in die Welt, dass die Hoheit, weil sie den Dienst der Geldmacher an ihrer Schatulle haben will, sie dafür fördert und die Ausübung ihrer Macht deren Geschäftsbedürfnissen schrittweise unterwirft. Die Kaufherren sollen Erfolg haben und dem Schatzamt viel abliefern können. Das alles war im Frankreich Ludwigs IVX schon weit gediehen. Die Macht des Königs war von der bürgerlichen Produktionsweise längst abhängig geworden; sie hat die wirtschaftliche Tätigkeit der Nation schon bestimmt. Erst auf Basis des Bewusstseins, dass alles von ihnen kommt und von ihnen abhängt, fragen sich dann die Mitglieder des vierten Standes, warum sie die Privilegien des Adels, der für Wohlfahrt und Macht des Landes nichts leistet und den unfruchtbaren Luxus des königlichen Hofes noch tragen sollen. Sie machen Revolution im Namen der rechtlichen Grundbestimmungen der bürgerlichen Konkurrenzordnung: Gleichheit vor dem Recht, Freiheit des Privatinteresses, Brüderlichkeit der Staatsbürger.
Die Identität der Anliegen von Staat und Kapital erklärt sich etwas anders, als die guten alten Leninisten meinen: Nicht die Personalidentität beider Seiten, nicht – jedenfalls nicht mehr – die Herkunft oder Auswahl der Machtträger aus der besitzenden Klasse, nicht Bestechung – auch wenn es alles das geben mag – stiftet die zuverlässige Parteilichkeit der Staatsmacht für die Interessen der Kapitalisten, sondern die wechselseitige Indienstnahme. Der Staat dient den Profitinteressen und dadurch sich. Sein Ziel, die Förderung der Grundlagen seiner Macht, kommt zum Zug, wenn die Kapitalisten Erfolg bei ihren Geschäften haben; also setzt er seine Macht für ihren Erfolg ein, sorgt nicht nur für „Rahmenbedingungen“ der freien Konkurrenz, sondern glatt für den Erfolg seiner Geschäftsleute darin. Umgekehrt kommt es in jedem Staat zum Zerwürfnis zwischen der ökonomisch herrschenden Klasse und der politischen Herrschaft, wenn der Erfolg ausbleibt. Dann üben Politiker auch mal Kapitalismuskritik und Wirtschaftskapitäne werden anti-etatistisch; das Zerwürfnis kann bis zur Suche nach neuen Wegen der Indienstnahme des Kapitals durch den Staat gehen; Faschisten einerseits, Chavez etc. andererseits. Die Unzufriedenheit der Klasse, die sich im Besitz der ökonomischen Machmittel weiß und daher zur Beherrschung der Gesellschaft berechtigt sieht, mit einem „unfähigen“, falschen Interessen dienenden, unnütze Kriege vergeigenden Staat kann ihrerseits zu Versuchen von Umsturz und offener Obstruktion führen.
China und die SU, die beide einen Systemwechsel offensichtlich von oben durchgeführt haben und angesichts realsozialistisch gut erzogener Völker mit wenig Widerstand von irgend einem dadurch geschädigten Interesse fertig zu werden hatten, sind durchaus Beispiele für dieses Verhältnis von politische Hoheit und ökonomischen Rechten und Pflichten, die sie erlässt und mit denen sie ein ganzes System definiert. (A propos Genosse Fidel – der Hass seiner US-Gegner beweist nicht, dass es sich da um einen aufrechten Kommunisten handeln muss, sondern nur, dass er das, was sie von Kuba verlangen, verweigert. Dazu reicht ein unpassender, womöglich sozialer Nationalismus a la Chavez heute auch schon.)

Kategorien(1) MG + GSP Tags:
  1. 12. März 2007, 21:18 | #1

    Der Entgegnung kann man so nicht zustimmen.

    …Nicht die Personalidentität beider Seiten, nicht – jedenfalls nicht mehr – die Herkunft oder Auswahl der Machtträger aus der besitzenden Klasse, nicht Bestechung – auch wenn es alles das geben mag – stiftet die zuverlässige Parteilichkeit der Staatsmacht für die Interessen der Kapitalisten, sondern die wechselseitige Indienstnahme…

    Die Frage, die der Aussage zugrunde liegt ist verkehrt. Das Statement folgt dem revisionistischen (oder auch bürgerlichen) Gedanken, dass der Staat eine von den Produktionsverhältnissen völlig getrennte Einrichtung wäre und versucht dann eine rationelle Antwort zu geben: Beide Seiten versuchen sich wechselseitig zu funktionalisieren.
    Streng genommen wird mit der Antwort ein falsches Bild vom Staat vermittelt, nämlich einer Einrichtung, die sich in ihrer Gewalt Selbstzweck ist und die sich auf Produktionsweisen (die unmittelbar anscheinend nichts mit ihr zu tun haben?!) als Mittel bezieht. Wenn dem so sein sollte, wo ist dann die Forschungseinrichtung des französischen Königs für neue Produktionsweisen gewesen, oder wo werden heute die kapitalistischen Verhältnisse auf ihre Tauglichkeit für die selbstzweckhafte Vermehrung von „Macht“ hinterfragt?
    Chavez, die Sowjetunion und China wären dafür gerade keine Belege, sondern alle 3 sind doch den Grundelementen kapitalistischen Wirtschaftens (Geldvermehrung als Produktionszweck, Lohnarbeit) verhaftet geblieben und haben gemeint (oder meinen) eine Reorganisation dieser Sorte Ökonomie bräuchte es, damit die in der Nation vorfindlichen Interessen (das Interesse der Nation eingeschlossen) aufgehen! Das gilt in beide Richtungen (sowohl für ihre Rechtfertigung der realsozialistischen Ökonomie, als auch für die Rechtfertigung des Abschiedes davon (Effizienz etc…)). Der Systemvergleich der Realsozialisten behauptet explizit, dass es in der realssozialistischen Ökonomie um das Gleiche geht wie im Kapitalismus. Auch wenn das nicht stimmt, ist es doch ihr Bewusstsein davon. Daraus folgt erst einmal, dass der Umstand, dass der Staat eine Gewalt ist, die eine Ökonomie, die auf Ausbeutung beruht am laufen hält nicht damit erklärt ist, dass sie irgendwas für seine Zwecke leistet. Die Wahrheit ist: Seine Zwecke bezieht er überhaupt nur aus den Verhältnissen, die er betreut, selbst den dass er sich auf fremde Gewalten negativ beziehen- und sie kontrollieren muss; darauf käme er sonst überhaupt nicht, weil ihm die Kriterien dafür abgingen, was seiner Gewalt überhaupt im Weg steht und wo er sie anwenden muss. Die wechselseitige Indienstnahme ist nichts weiter als die Verlaufsform, die Ausbeutung bekommt, wenn sie getrennt von der Herrschaft stattfindet. Die Praktizierung der Ausbeutung braucht die Gewalt und die Gewalt Mittel, also die Resultate der Ausbeutung. Deshalb ist aber die Idee noch nicht richtig, dass der Staat mit seinem Interesse irgendwie zur Ausbeutung passen müsse, was sich glücklicherweise in ihrer Eigenschaft ‚Aneignung fremder Arbeit‘, also von Reichtum, welcher Form auch immer zu sein ergibt, auf deren Resultate der Staat wert legt (wie ist er darauf gekommen?).

  2. bilbo
    14. März 2007, 20:54 | #2

    Ebenso wie Libelle finde ich es verkehrt, wenn man sich den Staat im Ausgangspunkt als leeres Gewaltmonopol vorstellt und sich dann hinterher fragt, wie er zu seinen Interessen kommt bzw. wie er zu seiner Parteilichkeit kommt. Auf die Frage nach der Parteilichkeit kommt man nur, wenn man sich den Staat als leere Gewalt vorstellt, der dann nachträglich seine Zwecke aus der Gesellschaft erhält, sei es durch Bestechung oder durch die Frage nach der Beschaffung seiner Gewaltmittel. Deshalb ist auch das Folgende verkehrt:
    „Politische Herrschaft als solche steht über den Standpunkten und Interessen in der Gesellschaft, die sie beherrscht – das gilt für die Könige der frühmodernen Zeit wie für die bürgerlichen und realsozialistischen Souveräne.“ Was heißt schon „steht über“? Rationell heißt das bloß, dass sie eben politische Gewalt ist, da steht sie naturgmäß über ökonomischen Interessen. Sie wäre ja keine Herrschaft, wenn die Gesellschaft ihr nicht unterworfen wäre. Wenn es also in diesem offensichtlichen Sinn gemeint war, wäre die Aussage tautologisch. Wenn es aber so gemeint ist, dass es einen abstrakten Gewaltstandpunkt gibt, den kapitalistische Staaten und feudale Reiche gemeinsam haben und dann dazu führt, dass sie sich über den Bezug auf ihre Machtmittel die Zwecke aus der Gesellschaft im Nachhinein abholen, so wäre das auch verkehrt. Bei dir kommt das daher, wie wenn Staat und Ökonomie nachträglich zusammengebracht werden müssten.
    „Die Macht des Königs war von der bürgerlichen Produktionsweise längst abhängig geworden; sie hat die wirtschaftliche Tätigkeit der Nation schon bestimmt. Erst auf Basis des Bewusstseins, dass alles von ihnen kommt und von ihnen abhängt, fragen sich dann die Mitglieder des vierten Standes, warum sie die Privilegien des Adels, der für Wohlfahrt und Macht des Landes nichts leistet und den unfruchtbaren Luxus des königlichen Hofes noch tragen sollen.“ Der Luxus des Hofes ist doch nicht wirklich der Grund für den Umsturz, sondern er ist die Folge eines Perspektivenwechsels. Der Perspektivenwechsel heißt: Sind die Ausgaben der Staatsgewalt auch wirklich funktionell für den Dienst am Eigentum. Da hat sich sozusagen unter der Hand ein anderer Staatszweck durchgesetzt und die alte Ordnung wird daran gemessen und für unsachgemäß empfunden. Wär der Staat bloß ein leeres Gewaltmonopol, das sich über die Mittelfrage seine Zwecke in der Gesellschaft abholt, dann bräuchte es keine Revolution und dann hätte es sie nicht gegeben. Es ist ein Unterschied, ob eine absolutistische Herrschaft das Geldverdienen fördert, um ihre Belange vorwärts zu bringen oder ob eine bürgerliche Klasse die Herrschaft ergreift, um das Geldverdienen vorwärts zu bringen. Insofern ist in diesen Revolutionen ein neuer bürgerlicher Staatszweck definiert worden.
    „Wenn dem so sein sollte, wo ist dann die Forschungseinrichtung des französischen Königs für neue Produktionsweisen gewesen, oder wo werden heute die kapitalistischen Verhältnisse auf ihre Tauglichkeit für die selbstzweckhafte Vermehrung von „Macht“ hinterfragt?“ Ich halte das für kein gutes Gegenargument, weil sowohl der ganze aufgeklärte Absolutismus am in einem fort bürgerliche Projekte gefördert hat, um das Geldvermehren anzukurbeln als auch der moderne Staat ständig das ganze Innenleben seiner Gesellschaft daraufhin durchforstet, ob es auch genug das Geldvermehren befördert (was die Grundlage seiner Macht ist). Forschungseinrichtungen braucht es dafür nicht unbedingt. Das wird gleich praktisch gemacht, weil das sowieso der Markt und nicht eine Gelehrtenkommission entscheidet. Forschungseinrichtungen gibt es aber auch.
    http://anonymouse.org/cgi-bin/anon-www_de.cgi/http://fkk.communityhost.de/
    Hier kann man das z.B. weiterdiskutieren. „Staat und Weltordnung“ und die „Kramecke“ erfordern erstmal keine Anmeldung – also kann man Anonymous oder ähnliches benutzen. Auf Wunsch kann ich auch den Rest freigeben. Von mir aus, kann man aber auch hier weitermachen.

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