Warum ist der Marxismus außer Mode?
Von Gerald Braunberger (F.A.Z. vom 19.01.07)
Man könnte es sich bei diesem Thema leichtmachen: Ein Kollege schlug vor, unter der Überschrift „Warum ist der Marxismus außer Mode?“ lediglich ein großes Bild verfallender Häuser oder Fabriken aus der Endzeit der DDR abzubilden und darunter nur ein Wort zu schreiben: „Darum“. Wir wollen es etwas ausführlicher versuchen. …
Hier das ganze Schmankerl.
(Das Der FAZler bei Ernest Mandel als dem „vielleicht bekanntesten westlichen Ökonom marxistischer Prägung nach dem Zweiten Weltkrieg“ es nicht für nötig hält, zu erwähnen, daß der nicht nur marxistische Bücher geschrieben hat, sondern auch leitender Kader einer internationalen Partei war, die ihr Programm auch umsetzen wollte, ist dabei eine nicht ganz unverdiente Häme für diesen Genossen.)
Wegen SPAM-Filter hier reinkopiert:
Die Abfolge der Wirtschaftsformen als notwendig zu beweisen ist, ist m.E. in der Tat unmöglich, jedenfalls i.d.S. was gegenwärtig als Wissenschaft gilt. Dazu brauchts beinahe sowas wie Teleologie; deren quasi vorausgesetztes Resultat man freilich nicht empirisch nachweisen sondern wohl nur abwarten könnte. Damit wäre man dann aber wieder bei der Hoffnung auf ‚Erlösung‘.
Allerdings bin ich mir nicht mal sicher, ob man bspw. das Marx-Vorwort so interpretieren muss. Ich würd’s fast umgekehrt annehmen, also dann doch beinahe teleologisch: ei-nen meinetwegen ‚Verein freier Produzenten‘ vorausgesetzt, als eben nicht ‚jenseitiges‘ son-dern ‚diesseitiges‘ Ziel, wird die Aussage über den ‚historischen Beruf‘ des Kapitals verständ-lich. Allerdings gilt das nicht zeitlich unbegrenzt und ist von vornherein mit der Einschrän-kung versehen, dass die Kapitalisten selber das vermutlich aus ganz anderer Perspektive be-trachten, und folglich zu anderen Schlüssen kommen. Genau deswegen bedarf es ja der Revo-lution, hätten die Kapitalisten ein ‚Einsehen‘, würden ‚Reformen‘ genügen. Dann gäbs freilich auch kein automatisches Subjekt. Man darf m.E. an der Stelle nicht vergessen, dass bspw. ein gesellschaftlicher Gesamtprofit ebenso wie einGesamtkapital solange rein analytische Kategorien bleiben, wie Kapital nur als Konkurrenz vieler Kapitale existiert. Ohne die Konkurrenz stellt sich ohnehin die Frage, weshalb vergesellschaftete Produktionsmittel als Kapital behandelt werden sollten.
Ich kann das nicht beweisen, u.a. auch weil mir die Quellen fehlen, allerdings ist m.E. der Histomat-Ansatz einer Definition von Klassen, d.h. diese ausschließlich materialistisch zu bestimmen, historisch falsch.
Man kann ja sagen, die Religionen sind Quatsch, weil Gott empirisch nicht nachweisbar ist. Aber man kann deswegen längst nicht behaupten, dass der Glauben an Gott in der gesellschaftlichen Entwicklung der Menschen bedeutungslos gewesen wäre.
Bei Mandel wird das eben besonders deutlich, gerade wenn er als Wissenschaftler eine bloße Einführung liefert. Die Teilung der Arbeit ist bei ihm Ursache für die Spaltung der Gesellschaften in Klassen (und damit beruft er sich wie alle anderen auch mit Recht auf Marx; schließlich ist bei dem die bürgerliche Epoche Basis historischer Reflexion). Dabei kommt erst in der bürgerlichen Epoche die Arbeit als scheinbar ‚rechtmäßige‘ Begrün-dung für das Eigentum an ihrem Resultat ins Spiel.
Wenn die ‚Geistlichkeit‘ in früheren Epochen zugleich als ‚weltliche‘ Herr-schaft fungierte, also beides noch wirklich ‚in eins‘ fiel, dann ist das m.E. wenigstens ein Indiz dafür, dass das ‚Anrufen‘ der Götter vielleicht schon in ‚prähistorischen‘ Zeiten gesellschaftliche Notwendigkeit, d.h. Arbeit im bürgerlichen Sinne gewesen ist. Ist der Segen des Jagdgottes anerkanntermaßen die Voraussetzung für das Jagdglück, dann gewinnt eine nahezu ’natürliche‘ Autorität innerhalb der Gesellschaft, wer imstande ist, die ‚Gebetsformeln‘ auszusprechen, um den Segen zu ‚erflehen‘. Folglich ist bereits das Verrichten des Gebets Teil der gesellschaftlich notwendigen Arbeit, deren Reultat die Jagdbeute darstellt.
Womöglich ist das heute nicht viel anders; wenn der Rürup den Leuten die Grundsätze der ‚modernen‘ VWL eintrichtert, dann hört dem Decker mit seiner Kritik daran außer einer Handvoll ohnehin ‚ketzerischer‘ Studenten keiner zu. Und das keineswegs, weil die Argumen-te vom Decker richtig und die vom Rürup falsch wären, sondern ausschließlich deshalb, weil’s wie beim Jagdglück um Erfolg geht. Allerdings, und das markiert vielleicht einen qua-litativen Unterschied, ist nicht gewiss, ob die Menschen in ‚prähistorischen‘ Zeiten stets in Konkurrenz zu ‚anderen‘ Gruppen, Familien, Stämmen etc. lebten und es daher quasi immer auch eine Konkurrenz der Götter gab, oder ob die nicht das Resultat historischer Ent-wicklung gewesen ist.
Aus heutiger Perspektive, d.h. meinetwegen empirisch müsste man m.E. dem Mehring sogar entschieden widersprechen. Ob die Überwindung der Klassengesellschaft in frühren Epochen möglich gewesen wäre, vielleicht sogar schon vor Müntzer, lässt sich wo-möglich nicht mal spekualtiv erweisen. Aber wahrscheinlich weniger die Reformation selber als vielmehr der vorausgegangene Streit zwischen Luther und Rom scheint mir als ideologische Voraussetzung fürs Entstehen der bürgerlichen als ausdrücklich kapitalistischer Gesellschaftsformation so unabdingbar wie die sog. ursprüngliche Akkumulation als materielle.
Es ging ja Luther nicht darum, ob Gott existiert und quasi die ‚Geschicke‘ der Menschen ‚lenkt‘. Von entscheidender Bedeutung war vielmehr, ob die Bibel als ‚Gottes geschriebenes Gesetz‘ für alle gleichermaßen gilt oder irgendeine ‚diesseitige‘ Macht sich davon ausnehmen kann. Der Ablasshandel war doch lediglich die ‚Spitze des Eisbergs‘. Die so zu sagen ‚weltliche‘ Variante der Bibel als ‚geschriebenes Gesetz‘ war später das bürgerliche Gesetzbuch resp. Verfassungen etc. Normativ ist darin lediglich das Eigentum fixiert, während ansonsten eher die Regel gilt, dass alles erlaubt ist, was nicht ausdrücklich, d.h. per geschriebenem Gesetz verboten ist. Deswegen konnte sich Luther im Bauernkrieg auch problemlos (d.h. ohne ‚Gewissensbisse‘) auf die Seite der Fürsten schlagen und Müntzer ‚verketzern‘. Und nicht ganz von ungefähr verfiel die VWL später auf das Konstrukt der ‚freien Güter‘.
Es waren in der Folge ja nicht katholisch geprägte Zentralstaaten, in denen der Kapitalismus sich herausbildete, sondern solche Gegenden, die sich auf geschriebene Gesetze berie-fen, an denen auch eine ‚Obrigkeit‘ nicht so ohne weiteres was ändern konnte. Anders wäre m.E. das Entstehen von sog. konstitutionellen Monarchien, wie im nach-cromwellschen England oder den Niederlanden kaum denkbar gewesen. Und man muss m.E., wenn man denn den gewesenen ‚Ostblock‘ historisch irgendwo ‚einordnen‘ will, die Frage stellen, ob nicht der Protestantismus zusammen mit dem später entwickelten Nationa-lismus verhindert haben, dass die Proletarier sich ihrer Klassenlage bewusst wurden. Selbst die Bismarcksche ‚Sozialgesetzgebung‘ entsprang im protestantischen Preußen-Deutschland m.E. eher dem katholisch geprägten ‚Obrigkeitsdenken‘, Aufwiegler gegen die Ordnung zwar als Ketzer entschieden zu bekämpfen, andererseits aber für ‚treue Landeskinder‘ eben um der Aufrechterhaltung der Ordnung selber, sowas wie eine ‚Grundvorsorge‘ zu organisieren. Es war sowas wie die ‚weltliche Gnade‘, auf die der protestantische ‚Arbeitsethos‘ ganz gut ver-zichten konnte, weil es ja andererseits die Fabrikgesetze gab.
Auffällig ist doch schon, dass Revolten und Revolutionen fast ausschließlich Gegenden statt-fanden und bis heute eine Option zu sein scheinen, in denen die ‚Konfession‘ auf eine ‚Kir-chen-Obrigkeit‘ ausgerichtet ist. Das mag daher rühren, dass man Menschen für ‚Fehler‘ quasi ‚haftbar‘ machen kann, während Gesetze apriori als ‚ehern‘, ‚unantastbar‘, ‚ewig‘ etc gelten. Das trifft gerade auf die Wissenschaft zu, selbst die Einschränkung durch spätere Falsifikation hilft an der Stelle wenig. Warum wohl sind die sog. ‚Befreiungstheologen‘ Katholiken? D.h., einen König, Regierungschef, Diktator etc. davonjagen erscheint nicht bloß
‚machbar‘, sondern ggf. ‚gerechtfertigt‘. Gesetze zu ändern erweist dagegen als ungleich schwieriger. Noch komplizierter ist es u.U. mit dem ‚gesetzestreuen‘ Verhalten der Betroffe-nen. Warum wurde man die ganze Zeit über den Eindruck nicht los, es gebe gewissermaßen eine Analogie zwischen Moskau und Rom resp Zentralkommitee und Glaubenskongregation? Worin unterscheiden sich eigentlich ‚Weltanschauung‘ und ‚Konfession‘?
Man könnte sogar soweit gehen und sagen, Nationalismus ist die ‚weltliche‘ Variante obrig-keitshöriger ‚Konfessionen‘ während der Patriotismus auf geschriebene Gesetze fixiert ist. Anders wäre bspw der Patriotismus der Amerikaner kaum zu erklären, mittels dessen in Krisenzeiten sogar die sonst alltäglichen Rassengegensätze scheinbar mühelos nivelliert wer-den können. Andererseits war es u.U. der im Nachhinein zweifelhaft erscheinende Verdienst der ‚Moskauer Zentrale‘, dass unter der Fuchtel des ZK die nichtrussischen Völker wenigstens aufgehört hatten, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Und für die Rolle Stalins, wie immer man ihn historische einordnen möge, spielt m.E. eine erhebliche Rolle, dass er seine politischen Anfänge unter ‚aufrührerischen‘, jedoch orthodoxen, d.h. ‚obrigkeitsfixierten‘ Prie-stern hatte. Andererseits ist vielleicht von nicht unerheblicher Bedeutung, dass die sog. DDR-‚Dissidenten‘ ausgerechnet von den protestantischen Kirchen in Ost und West gefeatured wurden, während die katholischen sich gewissermaßen ’staatstreu‘ verhielten.
Weltverbesserer, 22. Januar 2007 @ 12:56
Daß Mandel Trotzkist war, ist hinlänglich bekannt. Aber eben zu einem guten Teil trotz und nicht wegen Ernest Mandels Aktivitäten. Nachdem er als junger Mann als buchstäblicher Parteigänger angefangen hatte, ist er auf seine alten Tagen doch eher der „Professor“, der „Wissenschaftler“ geworden, nachdem er und die seinen lange Zeit lang fast nichts ausgelassen haben, um dem Nachzulaufen, es zu legitimieren und hochzustilisieren, was sich nur irgendwie bewegt hat. Das waren früher mal die Roten Garden von Mao und das war später dann sogar Soldarnosc. Und einer seiner Top-Mitkämpfer hat sich sogar zu einem „Allah akbar!“ hinreißen lassen.
Ich teile wahrlich nicht den Triumphalismus der „Der Kommunismus ist tod!“-(vermeintlichen) Sieger der Geschichte. Gegen den Anschluß der DDR an die BRD habe ich – anders als manche Genossen von Mandel – anzukämpfen versucht. Aber daß er eine solche „Würdigung“ in der FAZ erfährt, daß hat er sich zu einem gerüttelten Maß selber zuzuschreiben. Also nichts mit de mortuis nihil nisi bene!
Deinen Witz „Marxens Kritik der politischen Ökonomie ist ohne diese Geschichtsphilosophie nicht zu haben“ teile ich übrigens nicht. Deinen „Beweis“ auch für neben der Sache liegend. Die Trennung der Klassen z.B. hat herzlich wenig mit Religion aber fürchterlich viel mit dem Zwecken und Zielen der herrschenden Klasse und des bürgerlichen Staates zu tun, der im Wohl und Wehe dieser seiner nun wirklich staatstragenden Klasse auch sein Wohl begründet sieht.
Deiner These „Die herrschende Klasse umstandslos mit dem bürgerlichen Staat gleichzusetzen, ist halt auch ziemlich billig, d.h ahistorisch“ möchte ich gleich mehrfach widersprechen. Erstens setze ich ganz bewußt die herschende Klasse nicht mit dem Staat, den sie braucht und der ihr nützt, gleich. Insofern ist schon der Begriff erklärungsbedürftig. Zweitens und viel grundlegender widerspreche ich deinem Begriff des „historischem“ bzw. „ahistorischem“. Wenn etwas in der Gegenwart existierendes nicht mit seinem Grund und seinem Zweck erklärt wird, sondern darauf verweisen wird, das es traditionell oder schon immmer so war, oder das andersrum „nicht in die Zeit paßt“, dann ist damit gerade nichts wirklich geklärt. Es kann z.B. sein, daß irgendeine Institution früher einen ganz anderen Zweck für ganz andere Klassen erfüllt hat, als heute, dann ist aus der „uralten Geschichte“ erstmal gar nichts abzuleiten. Deshalb weise ich deine Behauptung „Der ‘Histomat’ liefert wenigstens den, wenngleich womöglich falschen, Ansatz einer historischen Erklärung“ auch entschieden zurück: eine „historische Erklärung“ ist keine Erklärung, möchte ich da entgegenhalten. Gerade zu diesen grundlegenden Sachen empfehle ich immer wieder gerne Peter Deckers Vortrag „Marxismus — Anpassungslehre oder Kritik?“, der bei mir im Download-Bereich als Abschrift zur Verfügung steht und der bei argudiss als MP3 zu haben ist.
Zu deiner Unzufriedenheit mit Mandels Erklärung der Religion kann ich nicht allzu viel sagen, es ist ewig her, daß sein Buch gelesen habe. Auch zu diesem Thema fallen mir als nützliche Argumente zuallererst alte Vorträge von MGlern ein, die auch bei argudiss zu haben sind.
Auch deine Kategorie von der historischen „Notwendigkeit“ möchte ich zurückweisen. Das irgendwas passiert ist, ist erstmal nur ein Fakt. Das die Sieger (und eben auch manche Kritiker, wie viele Marxisten) aus diesem Fakt eine Notwendigkeit herausgelesen haben, ist auch ein Fakt. Gerade die berühmt/berüchtigte These vom Widerspruch der Produktivkräfte mit den Produktionsverhältnissen als die Triebfeder der menschlichen Geschichte gehört hierher. Decker hat gerade dazu Überzeugendes eingewandt.
Dein Verweis auf Marxens Diktum „Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind.“ ist ein frühes, weithin einflußreiches Statement dieser falschen Sichtweise.
Andererseits stellt sich dann natürlich schon die von Marx, Engels, Mehring et al. abgetane Frage von dir „war sowas wie ein ‘Verein freier Produzenten’ in keiner vorbürgerlichen Epoche auch bloß ansatzweise denkbar“. Sicher bin ich mir da nicht. Scheint mir aber eh eine überflüssige Frage zu sein, weil heute ist es eben nicht nur denkbar, das haben sich ja schon eine ganze Weile ne Menge Leute „ausgedacht“, sondern auch umsetzbar, wenn die Leute es eben so wollen. Davon ist zugegebenerweise insbesondere in den letzten Jahren zunehmend weniger zu sehen. Insofern hast du zwar recht, wenn du feststellst „Der historische Fehler von Marx war eigentlich nur, dass er annahm, die Ausgebeuteten würden sich das nicht ewig gefallen lassen und die Verhältnisse umstürzen“, nur entwertet das in keinster Weise die Argumente, die analsys und Erklärung des Kapitalismus, weil das weiterhin gute Gründe leifern könnte, daß sich die Ausgebeuteten das Einleuchten lassen. Ein Muß ist das nicht, aber falsch eben auch nicht, bloß weil die Leute sich im Hier und Jetzt (und einige zudem auch noch im Jenseits) einrichten.
Du fragst, „Wenn du herrschende Klasse und ihren Staat nicht in eins setzen willst, i.d.S. einer meinetwegen weitgehenden Übereinstimmung ihrer Interessen, weshalb verweist du dann auf diese als staatstragende?“ Ein Staat, der seine Macht vom Erfolg seiner Kapitalisten abhängig gemacht hat, weil deren erfolgreiche Reichtumsproduktion ihm ermöglicht, an deren Erfolgen für seine Interessen zu schmarotzen weiß in der Tat sehr wohl, was er an „der Wirtschaft“ hat und setzt viel daran, auch per Steuern und Kreditaufnahme eingenommes Geld, um deren Florieren zu ermöglichen, zu unterstützen und gegen unliebsame Konkurrenz abzuschirmen bzw. gegen diese durchzusetzen. Natürlich gilt offiziell dem modernen bürgerlichen Staat formell jeder Staatsbürger gleich viel, das Dreiklassenwahlrecht ist seit 80 Jahren abgeschafft. Das aber das Interesse der Besitzenden das Alles bestimmende ist, weil von deren Geschäftserfolg eben alle anderen, die Loohnabhängigen wie selbst der Staat anhängen, daß wissen doch auch alle, insbesondere alle es mit den Lohnabhängigen gut meinenden linken Politiker. Der Berliner Wirtschaftsenator H. Wolf ist ein exemplarischer Fall, wie einer vom „Revolutionär“ (früher, als er noch Trotzkist war) mit seinem „Erfolg“ nun glaubhaft vor der IHK auftritt als PDS-Frontmann.
Zu deiner Nachfrage, „Das heißt doch umgekehrt, wäre sie nicht die staatstragende sondern irgendeine andere, dann wäre es auch ein anderer Staat, weil der dann anders definierte Interessen resp. Zwecke verfolgen würde,“ fällt mir erstmal nur ein, daß mir mittlerweile der Begriff Arbeiterstaat, der ja sowas impliziert, nicht mehr ganz so einleuchtend erscheint wie früher, aber das wäre jetzt schon wieder ein anderes Thema, nämlich was die Oktoberrevolutionäre geschaffen haben und was daraus wurde.
Warum willst du immer wissen, woher was gekommen ist, bzw. wann es entstanden ist? Selbst für dein Beispiel der Religion ist es meiner Ansicht recht belanglos zu wissen, wer und wo Jesus gepredigt hat, weil die Bedeutung und Funktion der jetztigen Kirche und aktuellen Religionen eben mit den heutigen Verhältnissen zu tun haben. Da passen deshalb ganz alte Sachen wie der Islam genauso für viele Leute wie was ganz modernes wie Scientology.
Zentral scheint mir deine Behautpung: „In der Gegenwart existierendes auschließlich damit erklären zu wollen, das irgendwer damit einen bewußt gesetzten Zweck verfolgt, läuft jedoch in letzter Konsequenz darauf hinaus, eine Schuldfrage zu stellen.“ Wieso? Menschen machen zumindest als Erwachsene fast nichts, wozu sie nicht gute Gründe zu haben meinen. Wenn Strukturen so bleiben wie bisher drückt das eben aus, daß es weiterhin Zwecke gibt, zu denen sie passen, zu deren Erreichung sie nötig sind.
Die herrschenden Klassen, die bürgerlichen erfolgreichen wie die erfolglosen Staaten haben in der Tat normalerweise kein Interesse am Verhungern der Massen (Himmlers Posener Rede ist eine schaurige Ausnahme). Nein, das Elend der Massen gehört eben notwendigerweise zur abstrakten Reichtumsvermehrung und Vergößerung der jeweiligen Staatsmacht, die darauf baut dazu. Einerseits als Voraussetzung der Profitmacherei, denn nur der von Produktionsmitteln freie Proletarier, also der grundlegend Arme, ist ja dazu zu bringen, sich doppelt frei, wie er ja gemacht wurde, der Profitmacherei anzudienen. Andererseits als offensichtlich immer weitere Kreise ziehendes Ergebnis der Erfolge dabei. Den die Profite steigen offensichtlich an, wenn man die eigenen Arbeiter im Lohn drücken bis Rausschmeißen kann. Doch, daß ganz Afrika verhungert, wird hingenommen, ganz ohne Absicht aber voll bewußt. Es stimmt übrigens, daß *diese* Art des Wirtschaftens, das kapitalistische Akkumulation nicht anders geht, die machen das nicht „wider besseres Wissens“.
(Zur Kritik der Fehler der Bolschewiki, dem Stellenwert des Siegs des Stalinismus will ich hier jetzt nichts sagen, daß sprengt den Rahmen hier, läge mir aber schon am Herzen, daran habe ich mich ja lange abgearbeitet.)
Zu deinem Schluß würde ich gerade andersrum argumentieren: Erst müssen die Leute erkennen, das es mit einem einfachen regime change nicht getan ist, ehe sie zu Internationalisten werden können. Der widerliche Nationalismus der stalinistischen Parteien war immer ein trauriger Beweis dafür.
Mit den Notwendigkeiten ist es in der Tat so eine Sache. Du schreibst „Der Histomat redete doch stets nur von historischen Notwendigkeiten, weil in früheren Epochen die materiellen Bedingungen tatsächlich kein Leben wie die Fürsten für alle zugelassen haben könnten. Ob das wirklich so war, ist eine ganz andere Frage, und zwar nicht nur, weil selbst Fürsten wechselnde Bedürfnisse entwickeln.“ Schon die Abfolge der Herrschafts- und Wirtschaftsformen war da notwendig. Wenn Mehring über Wallenstein schreibt, bedauert er noch nach Jahrhunderten, daß dessen eigentlich notwendiger katholischer Zentralismus leider gegen die für eine Entwicklung des Kapitalismus in Deutschland schädlichen protesatantische Seite der Kleinstaaterei nicht gewonnen habe. Ein bißchen bei Marx gab es in der Diskussion über die russische Dorfgemeinschaft ein paar Überlegungen, ob auch das rückschrittliche Rußland erstmal „modernen“ Kapitalismus braucht, eh dann, darauf aufbauend, der Sozialismus kommen könne. Interessant ist die Frage, ob zu jeder beliebigen Zeit in der Geschichte der Menschheit eine Abschaffung der Klassengesellschaften möglich gewesen wäre. Mußte Münzer verlieren oder hat er es einfach nicht geschafft?
Die Abfolge der Wirtschaftsformen als notwendig zu beweisen ist, ist m.E. in der Tat unmöglich, jedenfalls i.d.S. was gegenwärtig als Wissenschaft gilt. Dazu brauchts beinahe sowas wie Teleologie; deren quasi vorausgesetztes Resultat man freilich nicht empirisch nachweisen sondern wohl nur abwarten könnte. Damit wäre man dann aber wieder bei der Hoffnung auf ‚Erlösung‘.
Allerdings bin ich mir nicht mal sicher, ob man bspw. das Marx-Vorwort so interpretieren muss. Ich würd’s fast umgekehrt annehmen, also dann doch beinahe teleologisch: einen meinetwegen ‚Verein freier Produzenten‘ vorausgesetzt, als eben nicht ‚jenseitiges‘ sondern ‚diesseitiges‘ Ziel, wird die Aussage über den ‚historischen Beruf‘ des Kapitals verständlich. Allerdings gilt das nicht zeitlich unbegrenzt und ist von vornherein mit der
Einschränkung versehen, dass die Kapitalisten selber das vermutlich aus ganz anderer Perspektive betrachten, und folglich zu anderen Schlüssen kommen. Genau deswegen bedarf es ja der Revolution, hätten die Kapitalisten ein ‚Einsehen‘, würden ‚Reformen‘
genügen. Dann gäbs freilich auch kein automatisches Subjekt. Man darf m.E. an der Stelle nicht vergessen, dass bspw. ein gesellschaftlicher Gesamtprofit ebenso wie ein
Gesamtkapital solange rein analytische Kategorien bleiben, wie Kapital nur als Konkurrenz vieler Kapitale existiert. Ohne die Konkurrenz stellt sich ohnehin die Frage,
weshalb vergesellschaftete Produktionsmittel als Kapital behandelt werden sollten.
Ich kann das nicht beweisen, u.a. auch weil mir die Quellen fehlen, allerdings ist m.E. der Histomat-Ansatz einer Definition von Klassen, d.h. diese ausschließlich materialistisch zu bestimmen, historisch falsch.
Man kann ja sagen, die Religionen sind Quatsch, weil Gott empirisch nicht nachweisbar ist. Aber man kann deswegen längst nicht behaupten, dass der Glauben an Gott in der
gesellschaftlichen Entwicklung der Menschen bedeutungslos gewesen wäre.
Bei Mandel wird das eben besonders deutlich, gerade wenn er als Wissenschaftler eine bloße Einführung liefert. Die Teilung der Arbeit ist bei ihm Ursache für die Spaltung der Gesellschaften in Klassen (und damit beruft er sich wie alle anderen auch mit Recht auf Marx; schließlich ist bei dem die bürgerliche Epoche Basis historischer Reflexion). Dabei kommt erst in der bürgerlichen Epoche die Arbeit als scheinbar ‚rechtmäßige‘
Begründung für das Eigentum an ihrem Resultat ins Spiel.
Wenn die ‚Geistlichkeit‘ in früheren Epochen zugleich als ‚weltliche‘ Herrschaft fungierte, also beides noch wirklich ‚in eins‘ fiel, dann ist das m.E. wenigstens ein Indiz dafür, dass das ‚Anrufen‘ der Götter vielleicht schon in ‚prähistorischen‘ Zeiten gesellschaftliche Notwendigkeit, d.h. Arbeit im bürgerlichen Sinne gewesen ist. Ist der Segen des Jagdgottes anerkanntermaßen die Voraussetzung für das Jagdglück, dann gewinnt eine nahezu ’natürliche‘ Autorität innerhalb der Gesellschaft, wer imstande ist, die ‚Gebetsformeln‘ auszusprechen, um den Segen zu ‚erflehen‘. Folglich ist bereits das
Verrichten des Gebets Teil der gesellschaftlich notwendigen Arbeit, deren Reultat die Jagdbeute darstellt.
Womöglich ist das heute nicht viel anders; wenn der Rürup den Leuten die Grundsätze der ‚modernen‘ VWL eintrichtert, dann hört dem Decker mit seiner Kritik daran außer einer Handvoll ohnehin ‚ketzerischer‘ Studenten keiner zu. Und das keineswegs, weil die
Argumente vom Decker richtig und die vom Rürup falsch wären, sondern ausschließlich deshalb, weil’s wie beim Jagdglück um Erfolg geht. Allerdings, und das markiert vielleicht einen qualitativen Unterschied, ist nicht gewiss, ob die Menschen in ‚prähistorischen‘ Zeiten stets in Konkurrenz zu ‚anderen‘ Gruppen, Familien, Stämmen etc. lebten und es daher quasi immer auch eine Konkurrenz der Götter gab, oder ob die nicht das Resultat
historischer Entwicklung gewesen ist.
Aus heutiger Perspektive, d.h. meinetwegen empirisch müsste man m.E. dem Mehring sogar entschieden widersprechen. Ob die Überwindung der Klassengesellschaft in frühren Epochen möglich gewesen wäre, vielleicht sogar schon vor Müntzer, lässt sich womöglich nicht mal spekualtiv erweisen. Aber wahrscheinlich weniger die Reformation selber als vielmehr der vorausgegangene Streit zwischen Luther und Rom scheint mir als ideologische Voraussetzung fürs Entstehen der bürgerlichen als ausdrücklich kapitalistischer Gesellschaftsformation so unabdingbar wie die sog. ursprüngliche Akkumulation als materielle.
Es ging ja Luther nicht darum, ob Gott existiert und quasi die ‚Geschicke‘ der Menschen ‚lenkt‘. Von entscheidender Bedeutung war vielmehr, ob die Bibel als ‚Gottes geschriebenes Gesetz‘ für alle gleichermaßen gilt oder irgendeine ‚diesseitige‘ Macht
sich davon ausnehmen kann. Der Ablasshandel war doch lediglich die ‚Spitze des Eisbergs‘. Die so zu sagen ‚weltliche‘ Variante der Bibel als ‚geschriebenes Gesetz‘ war später das bürgerliche Gesetzbuch resp. Verfassungen etc. Normativ ist darin lediglich das Eigentum fixiert, während ansonsten eher die Regel gilt, dass alles erlaubt ist, was nicht ausdrücklich, d.h. per geschriebenem Gesetz verboten ist. Deswegen
konnte sich Luther im Bauernkrieg auch problemlos (d.h. ohne ‚Gewissensbisse‘) auf die Seite der Fürsten schlagen und Müntzer ‚verketzern‘. Und nicht ganz von ungefähr verfiel die VWL später auf das Konstrukt der ‚freien Güter‘.
Es waren in der Folge ja nicht katholisch geprägte Zentralstaaten, in denen der Kapitalismus sich herausbildete, sondern solche Gegenden, die sich auf geschriebene Gesetze beriefen, an denen auch eine ‚Obrigkeit‘ nicht so ohne weiteres was ändern konnte. Anders wäre m.E. das Entstehen von sog. konstitutionellen Monarchien, wie im nach-cromwellschen England oder den Niederlanden kaum denkbar gewesen. Und man muss m.E., wenn man denn den gewesenen ‚Ostblock‘ historisch irgendwo ‚einordnen‘ will, die Frage stellen, ob nicht der Protestantismus zusammen mit dem später entwickelten
Nationalismus verhindert haben, dass die Proletarier sich ihrer Klassenlage bewusst wurden. Selbst die Bismarcksche ‚Sozialgesetzgebung‘ entsprang im protestantischen Preußen-Deutschland m.E. eher dem katholisch geprägten ‚Obrigkeitsdenken‘, Aufwiegler gegen die Ordnung zwar als Ketzer entschieden zu bekämpfen, andererseits aber für ‚treue
Landeskinder‘ eben um der Aufrechterhaltung der Ordnung selber, sowas wie eine ‚Grundvorsorge‘ zu organisieren. Es war sowas wie die ‚weltliche Gnade‘, auf die der protestantische ‚Arbeitsethos‘ ganz gut verzichten konnte, weil es ja andererseits die Fabrikgesetze gab.
Auffällig ist doch schon, dass Revolten und Revolutionen fast ausschließlich Gegenden stattfanden und bis heute eine Option zu sein scheinen, in denen die ‚Konfession‘ auf eine ‚Kirchen-Obrigkeit‘ ausgerichtet ist. Das mag daher rühren, dass man Menschen für ‚Fehler‘ quasi ‚haftbar‘ machen kann, während Gesetze apriori als ‚ehern‘, ‚unantastbar‘, ‚ewig‘ etc gelten. Das trifft gerade auf die Wissenschaft zu, selbst die Einschränkung durch spätere
Falsifikation hilft an der Stelle wenig. Warum wohl sind die sog. ‚Befreiungstheologen‘ Katholiken? D.h., einen König, Regierungschef, Diktator etc. davonjagen erscheint nicht bloß
‚machbar‘, sondern ggf. ‚gerechtfertigt‘. Gesetze zu ändern erweist dagegen als ungleich schwieriger. Noch komplizierter ist es u.U. mit dem ‚gesetzestreuen‘ Verhalten der Betroffenen. Warum wurde man die ganze Zeit über den Eindruck nicht los, es gebe gewissermaßen eine Analogie zwischen Moskau und Rom resp Zentralkommitee und
Glaubenskongregation? Worin unterscheiden sich eigentlich ‚Weltanschauung‘ und ‚Konfession‘?
Man könnte sogar soweit gehen und sagen, Nationalismus ist die ‚weltliche‘ Variante obrigkeitshöriger ‚Konfessionen‘ während der Patriotismus auf geschriebene Gesetze fixiert ist. Anders wäre bspw der Patriotismus der Amerikaner kaum zu erklären, mittels dessen in Krisenzeiten sogar die sonst alltäglichen Rassengegensätze scheinbar mühelos nivelliert werden können. Andererseits war es u.U. der im Nachhinein zweifelhaft erscheinende Verdienst der ‚Moskauer Zentrale‘, dass unter der Fuchtel des ZK die nichtrussischen Völker wenigstens aufgehört hatten, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Und für die Rolle Stalins, wie immer man ihn historische einordnen möge, spielt m.E. eine erhebliche Rolle, dass er seine politischen Anfänge unter ‚aufrührerischen‘, jedoch orthodoxen, d.h. ‚obrigkeitsfixierten‘ Priestern hatte. Andererseits ist vielleicht von nicht unerheblicher Bedeutung, dass die sog. DDR-‚Dissidenten‘ ausgerechnet von den
protestantischen Kirchen in Ost und West gefeatured wurden, während die katholischen sich gewissermaßen ’staatstreu‘ verhielten.
Man könnte es sich ja leicht machen, und den Artikel in die Kategorie „Wer noch nicht mal KI oder Kritik der pol Ökonomie gelesen hat, soll zu Marx die Fresse halten“ verbuchen.
Die 4 Kommentare versteh ich nicht, Neoprene?
da war der spamfilter schneller
@ Helden Karl
Es gab, wenn ich mich richtig erinnere, zuvor noch Kommentare von „Weltverbesserer“ hier, vielleicht liegen die jetzt im Spam-Ordner.
„Dein “die TATSÄCHLICHEN Zwänge, denen so ein Individuum ausgesetzt ist, und mit denen es sich, samt seinem freien Willen wohlgemerkt, arrangieren muss” gibt mit dem Verb arrangieren schon eine “Lösung” vor, die gerade das Problem zukleistert. Jahrein, jahraus ist das doch immer wieder die endlose Debatte, wie das Aufbegehren und das Arrangieren nebeneinander her gehen kann oder aussehen kann. Denn ein entweder oder wäre ja schön ist aber absehbar nicht bei hinreichend vielen nicht drin, Stichwort revolutionäre Gewerkschaftsarbeit z.B.“
Anknüpfend an deinen Kommentar bei Mpunkt (s. URL), Neoprene, möchte ich doch noch einen Kommentar setzen, über etwas, was mir beim Lesen der Leserkommentare und auch sonst in jeder politischen Diskussion auffällt.
Dein Stichwort „Arrangieren“ mit den Verhältnissen: Einerseits praktisch. Das leuchtet mir völlig ein, dass das halt eine Frage der Quantität der Marxisten ist. Da gibts für mich jedenfalls nicht viel zu diskutieren. Und dass sich auch Bürger arrangieren ist erst recht klar. Ich weiss nicht ob du dich aufs praktische oder theoretische Arrangieren bezogen hast.
Aber theoretisch:
Warum, verdammt nochmal, WILL den Leuten nichts von Herrschaft auffallen? Woher kommt das Verlangen, das was man praktisch muss, sich auch noch theoretisch schönzureden? Das ist überhaupt etwas, was mich schon immer bei den Menschen störte, und wobei mir die Lektüre des GSP auch nicht weitergeholfen hat. Mit den Gegenstandpunkten kann ich sehr viele Widersprüche, die mir auffielen, die ich aber nicht erklären konnte, erklären. Aber wie das falsche Bewusstsein zustande kommt, das ist mir immer noch etwas rätselhaft. Die Psychologie d brgl Ind hilft da schon sehr viel, ist aber noch nicht ganz das was ich meine.
Ich meine z.B.: woher kommt die Auffassung, dass Meinungen nicht tunlichst so objektiv wie möglich zu sein haben, sondern z.B. relativ gut zur Renommiertheit des Trägers ist?
Wie schaffen es die Leute, einen Satz wie „Marx ist aus der Mode“ als Begründung für ein wissenschaftliches Urteil, oder gar sebliges zu nehmen?
Ich verstehe also diese „allererste Anti-Wissenschaftlichkeit“ nicht, wo einem ein Widerspruch auffällt, man ihn aber nicht konsequent auflöst (das ist würde ich sagen sogar noch VOR dem abstrakt freien Willen!). Sondern man pflegt „theoretische Urteile“ der anderen Art… man kennt sie ja, auch als Nicht-Marxist! „die beste aller schlechten Regierungsformen“, oder auf resignativ „Wählen bringt sowieso nichts“, oder man legt sich Weltbilder zurecht die meistens mit „der Mensch ist…“ anfangen. Und natürlich die leider immer noch nicht aussterbenden Geistlichen. Bei denen blicke ich sowieso nicht durch, wie die es schaffen an etwas Absolutes zu glauben, und daraus ihre Praxis „abzuleiten“.
Und warum wird darüber unter Marxisten nicht diskutiert? Bin ich der einzige dem das auffällt? Wohl kaum. Oder ist die Sache für euch schon so klar? Dann erklärt sie mir bitte, das würde mir ungemein weiterhelfen!!!
In der Tat, der WordPress SPAM-Filter, den ich bisher so gut wie nie überprüft habe, weil da nur Viagra-Werbung hängen bleibt, hat einen Kommentar von Weltverbesserer aus mir unerfindlichen Gründen mehrfach nicht durchgelassen. Ich habe ihn deshalb wieder hochgeholt.
Zu Helden Karls „Warum, verdammt nochmal, WILL den Leuten nichts von Herrschaft auffallen? Woher kommt das Verlangen, das was man praktisch muss, sich auch noch theoretisch schönzureden? Das ist überhaupt etwas, was mich schon immer bei den Menschen störte, und wobei mir die Lektüre des GSP auch nicht weitergeholfen hat. … Und warum wird darüber unter Marxisten nicht diskutiert? Bin ich der einzige dem das auffällt? Wohl kaum. Oder ist die Sache für euch schon so klar? Dann erklärt sie mir bitte, das würde mir ungemein weiterhelfen!!!“
Gute Frage, keine Antwort. Den Willen kann man zwar beschreiben, und da gibt sich der GegenStanpunkt ja schon besondere Mühe, aber im engeren Sinne erklären, also als irgenwie notwendig herausschälen kann man ihn eben nicht. Es gibt natürlich reihrnweise falsche Theorien, die sowas tun: Der Arbeitslose wird Nazi, weil er arbeitslos ist, etc.
Als „Lösung“ ist mir bisher auch nichts besseres eingefallen, als erstmal möglichst vielen den Leuten möglichst korrekt vor Augen zu führen, warum diese Welt so läuft, wie sie läuft, warum die Ärgernisse, die den Menschen, jedenfalls den meisten davon, widerfahren, notwendig mit dieser Wirtschaftsweise und ihren bestimmenden Zielen verbunden sind. Das Sesam-öffne-dich für Marxisten ist mir jedenfalls auch noch nicht untergekommen.
Hm, Determination des Willens… keine Ahnung ob es das ist was ich meinte. Aber über eines bin ich mir im Klaren, nämlich, dass ich mit meiner Frage eigentlich an eine Grenze, oder Tabu, wie mans nimmt, der materialistischen Psychologie stoße. Getreu dem Satz „das Sein bestimmt das Bewusstsein“ werden bei der MG die Techniken der Unterwerfung abgeleitet, ausgehend von den praktischen Verhältnissen.
Was mich interessiert ist aber die theoretische Einstellung. „Die Gedanken sind frei“ – heisst es ja. Ich sehe da keine Notwendigkeit sich zu unterwerfen (zu müssen). Was ich also vielmehr meine ist nicht, eine Theorie der Determination des Willens, sondern, herauszufinden, ob es für die Weltanschaulichen (oder auch Marxistischen) Gedanken die sich ein Mensch so zulegt, nicht auch Gründe gibt. Dass also nicht vielleicht bestimmte Momente des Willens „determiniert“ sind, wobei „begründet“ es besser treffen würde.
Fußnote: Dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, war doch eine kritikable Entdeckung von Marx über die bürgerliche Gesellschaft? D.h. nicht als antroposophische Konstante, sondern es müsste und sollte eigentlich nicht so sein.
„materialistischen Psychologie“? Das scheint mir ein Widerspruch zu sein. Ich kenn mich zwar weder in Materialismus noch in Psychologie sonderlich aus (und kenne auch von der Kritik an beidem nur wenig, empfehlen kann ich hier immerhin Albert Krölls Buch zur Kritik der Psychologie), aber „Grenze oder Tabu“ in Bezug auf Wissen ist eine recht zweifelhafte Kategorie.
Wenn jemand gerade nicht den klassischen marxistischen Katechismus-Satz vom Sein, das das Bewußtsein bestimme, hochhält, dann doch wohl die MG und der GegenStandpunkt! Auch der Begriff der „Technik der Unterwerfung“ trifft nicht, was denen wichtig ist. Einerseits beschreiben sie, was der Staat so alles an Eisernen Jungfrauen aufstellt, um die Leute hinreichend zu „überzeugen“. Andererseits geben sie sich viel Mühe, die Fehler derjenigen aufzuzeigen, die sich nicht nur diesen objektiven Zwängen unterwerfen (dagegen ankämpfen tun ja nur sehr wenige) sondern, die die Begrenzungen und Verhältnisse auch noch als ihre Chancen zurechtbiegen und sich in diese Verhältnisse auch subjektiv einhausen.
„Ich sehe da keine Notwendigkeit sich zu unterwerfen (zu müssen)“. Ja und nein. Selbst aus der Sklaverei sind manche in Nordamerika in den Norden entwichen. Aber die objektiven Zwänge, das Recht, die Gesetze, die Polizei, Gerichte und Gefängnisse, all das ist nicht aus Pappe, eben kein Papiertiger.
@ Helden Karl:
Was mich interessiert ist aber die theoretische Einstellung. “Die Gedanken sind frei” – heisst es ja. Ich sehe da keine Notwendigkeit sich zu unterwerfen (zu müssen).
Die Notwendigkeit einer theoretischen Unterwerfung wurde von der MG und wird vom GSP ja auch nicht behauptet. Wäre ja auch reichlich widersprüchlich, wieso man selbst von dieser frei wäre und warum man dann überhaupt noch agitiert. Und mich wundert es, warum dir die Erklärung bisher aus den Texten und Vorträgen, die du ja zu kennen scheinst, nicht aufgefallen ist. Jetzt mal zusammengefasst: die theoretische Affirmation folgt der praktischen Anpassung, weil die Leute eben nicht bloße Mitmacher sein wollen. Insofern denken sie sich als die Subjekte des Ganzen, welche sich entfalten, ihre Chancen und Möglichkeiten nutzen etc. Dann erscheint ihnen der Laden hier aber auch als für sie gemacht, nämlich als ein einziges Angebot von Chancen und Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung.
@ Neoprene:
„materialistischen Psychologie“
Kann sein dass der Begriff SO bei Decker und Krölls nicht auftaucht, aber zumindest Krölls stellt in seinem Psycho Vortrag der bürgerlichen „seine“ „rationelle Psychologie“ entgegen.
„objektiven Zwänge“
Jawohl die gibt es. Aber kein objektiver Zwang kann meine Gedanken bestimmen. Das mit der Notwendigkeit der Unterwerfung war schlampig formuliert von mir.
@ Mpunkt: Gut zusammengefasst, aber:
„Insofern denken sie sich als die Subjekte des Ganzen, welche sich entfalten, ihre Chancen und Möglichkeiten nutzen etc. Dann erscheint ihnen der Laden hier aber auch als für sie gemacht, nämlich als ein einziges Angebot von Chancen und Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung.“
Inwiefern sind die beiden Sätze verschieden?
„weil die Leute eben nicht bloße Mitmacher sein wollen“
Hm? Auch Kommunisten *würden* doch nicht bloße Mitmacher sein wollen (im Kommunismus), sondern überprüfen ob das was so abgeht, OK geht, so WIE es abgeht. Für die theoretischen Auseinandersetzungen in die ein Individuum so gerät, reicht mir das Argument nicht aus. Zumal daraus ja auch ein Kritiker der Gesellschaft folgen kann.
Wenn ein Individuum die kapitalistische Wirklichkeit als Chance begreifen, dann muss doch schon vorher ein theoretischer Fehler passiert sein. Warum das ein Fehler ist, kann man bei der MG nachlesen. Warum die Leute so massenhaft diesen Fehler begehen, darüber grübele ich noch.
(und sie bleiben ja sogar noch dabei, wenn man sie darauf aufmerksam macht.)
Nochmal zur “materialistischen Psychologie”: Leider war es aus organisatorischen Gründen nicht möglich, beim Berliner Vortrag von Krölls dazu was zu hören, denn natürlich interessiert es mich auch, was denn sowas überhaupt sein könnte. Wenn du da irgendwas an ansatzweisen Stückchen hättest, breite die ruhig aus.
@ Helden Karl:
„Inwiefern sind die beiden Sätze verschieden?“
Satz 1 drückt aus, wie das bürgerliche Individuum sich geistig zu seinem Mitmachen stellt. An rechtfertigender Sinngebung interessiert, betrachtet es diese als Nutzen von lauter Chancen. Satz 2 drückt aus, welchen Schluss es von da aus auf die Instanzen zieht, die es zum Mitmachen zwingen (bgl. Staat und Kapital), nämlich dass die ihnen lauter Chancen aufmachen.
Hm? Auch Kommunisten *würden* doch nicht bloße Mitmacher sein wollen (im Kommunismus), sondern überprüfen ob das was so abgeht, OK geht, so WIE es abgeht. Für die theoretischen Auseinandersetzungen in die ein Individuum so gerät, reicht mir das Argument nicht aus. Zumal daraus ja auch ein Kritiker der Gesellschaft folgen kann.
Das hast Du falsch verstanden. Den geht es eben NICHT um eine Kritik daran, dass sie zum Mitmachen in für sie schädlichen Verhältnissen gezwungen werden, sondern darum, sich eine geistige Stellung zu ihre Mitmachen zu erarbeiten, welche diese rechtfertigen soll. Eben weil sie nicht bloße Mitmacher sein wollen, deuten sie daher in ihr Mitmachen etwas anderes hinein, nämlich (z.B.) lauter Chancen zu nutzen, die einem – Freiheit sei Dank – hier eröffnet werden. So können sie sich beruhigt sagen, eben nicht bloß Mitmacher, sondern ihres eigenen Glückes Schmied zu sein.
„Wenn ein Individuum die kapitalistische Wirklichkeit als Chance begreifen, dann muss doch schon vorher ein theoretischer Fehler passiert sein.“
Ja, das an Rechtfertigung des eigenen Mitmachens interessierte Denken, ist wie gesagt der „Grundfehler“, von dem aus der ganze restliche Käse weitergeht.
„Warum das ein Fehler ist, kann man bei der MG nachlesen. Warum die Leute so massenhaft diesen Fehler begehen, darüber grübele ich noch.
(und sie bleiben ja sogar noch dabei, wenn man sie darauf aufmerksam macht.)“
Das sollte jetzt auch klar sein. Wenn die ihr Mitmachen (vor sich und anderen) damit rechtfertigen wollen, indem sie es in Machen umdeuten, kommt der Hinweis darauf, dass sie zum Mitmachen gezwungen sind, diesem Rechtfertigungsinteresse in die Quere.