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Bakunins Beichte an den Zaren

29. September 2006

Weil es in den Kommentaren um die Spartakist-Broschüre zur Auseinandersetzung mit den heutigen Anarchisten auch um die Altvorderen geht, hier ein Zitat zu Bakunin:

Bakunins Beichte an den Zar
Die Konterrevolution, die Mitte 1849 über Mitteleuropa hinwegrollte, erwischte Bakunin im ostdeutschen Staat Sachsen. Wie Engels im Rheinland und in Baden, entschloß er sich, an einem Nach-hutgefecht gegen eine militärische Übermacht teilzunehmen – an einem Aufstand in der Stadt Dresden. Im Unterschied zu Engels entkam Bakunin nicht in die Sicherheit des Exils. Er wurde von den sächsischen Behörden gefangengenommen, die ihn an die Österreicher auslieferten, die ihn nach ein paar Jahren an die Russen auslieferten.
Kurz nachdem er 1851 in die Peter-und-Paul-Festung in St. Petersburg eingesperrt worden war, forderte ein höherer Polizeibeamter Bakunin auf. dem Zaren seine Verbrechen zu gestehen, als ob er dies seinem „geistlichen Vater“ gegenüber tun würde. Überraschenderweise hat Bakunin das getan:
„Meine Beichte an SIE. meinen HERRSCHER, wäre in wenigen Worten enthalten: HERRSCHER! ich bin voll und ganz schuldig vor EURER KAISERLICHEN MAJESTÄT und vor den Gesetzen des Vaterlandes… Ja, HERRSCHER, ich werde IHNEN wie einem geistlichen Vater, von dem der Mensch nicht für diese, sondern für die andere Welt Verzeihung erhofft, beichten; ich bitte Gott, daß er mir einfache, aufrichtige, zu Herzen gehende Worte eingebe ohne Falschheit und Schmeichelei, Worte, die würdig sind, ans Herz EURER KAISERLICHEN MAJESTÄT zu dringen.“ (Michail Bakunin. Brief aus dem Gefängnis – Die „Beichte“) Von den Dekabristen der 1820er Jahre über die Volkstümler der 1870er bis zu den Bolschewik!, Menschewiki und Sozialrevolutionären des frühen 20. Jahrhunderts standen Tausenden von russischen Revolutionären Erschießung, Zuchthaus und Zwangsarbeit in Sibirien bevor. Aber mit der einzigen Ausnahme von Bakunin hat kein prominenter russischer Revolutionär jemals einen unterwürfigen persönlichen Appell an den Zaren gerichtet.
Aber es wäre falsch, Bakunins Beichte für eine Zurückweisung seiner Ansichten oder sogar für ein scheinheiliges Manöver zu halten, um freizukommen oder das Urteil in eine Verbannung nach Sibirien abgemildert zu bekommen. Das Hauptthema seines überlangen Dokumentes ist es, Nikolaus I. für die Sache des revolutionären Panslawismus zu gewinnen. Insbesondere appelliert Bakunin an antideutsche Gefühle, von denen er annimmt, daß sie alle wahren Slawen teilen:
„Der Haß gegen die Deutschen ist die wichtigste Voraussetzung der Einheit und Verständigung der Slawen untereinander; er ist jedem Slawen so stark, so tief ins Herz eingegraben, daß ich der festen Überzeugung bin, HERRSCHER, die Slawen werden früher oder später, in irgendeiner Form, wie es eben die politischen Verhältnisse Europas mit sich bringen werden, das deutsche Joch abschütteln, und eine Zeit wird kommen, wo es keine preußischen, keine österreichischen, keine türkischen Slawen mehr gibt…
HERRSCHER. SIE wissen, wie tief und stark die Sympathien der Slawen für das mächtige russische Zaren-reich sind, von dem sie damals Unterstützung und Hilfe erhofften. SIE wissen, wie groß die Furcht der österreichischen Regierung, ja der Deutschen überhaupt vor dem russischen Nationalismus war und ist!“ Der Kern des Programms, das er in seiner „Beichte“ ent-wickelt – eine Föderation freier slawischer Völker – ist daher der gleiche wie bei seinem „Aufruf von 1848. nur daß er es jetzt mit der Hilfe der zaristischen Autokratie erreichen will statt durch ihren Sturz.
Die „Beichte“ sollte man nicht abtun als eine untypische Aktion eines verzweifelten Mannes, die in keinerlei Beziehung steht zum bakunistischen Anarchismus als Doktrin oder Bewegung. Wie wir gesehen haben, war ein zentraler Ausgangspunkt des Anarchismus, daß es eine universelle Moral gibt, die über Klassenschranken und -konflikte hinausgeht. Von Bakunins Standpunkt aus war es genauso möglich, den Zaren aller Reußen für ein Programm der nationalen und sozialen Befreiung zu gewinnen, wie einen intellektuell interessierten Adligen oder einen Arbeiter oder einen Bauern. Und tatsächlich, ein Jahrzehnt nachdem er seine „Beichte“ geschrieben hatte, als er aus Rußland geflohen war und in Sicherheit in London lebte, appellierte Bakunin wieder an den Zaren, die slawische nationale Befreiungsbewegung anzuführen! In einer Broschüre aus dem Jahre 1862, ThePeople’s Cause; Romanow Pugachev or Pestel (Die Sache des Volkes: Romanow, Pugatschow oder Pestel). schreibt er:
„Wir sollten von allen mit größter Freude Romanow folgen, wenn Romanow sich aus einem Petersburger Kaiser in einen Nationalen Zar wandeln könnte und würde… Wir würden ihm folgen, weil er allein eine große, friedliche Revolution durchführen und vollenden könnte, ohne einen einzigen Tropfen russischen oder slawischen Blutes zu vergießen.“ (Hervorhebung im Original) Nikolaus I. beurteilte zwar Bakunins „Beichte“ als „sehr seltsam und aufschlußreich“, er entschied aber, dessen Au-tor auch weiterhin unter den harten Bedingungen in der Peter-und-Paul-Festung gefangenzuhalten. Erst 1857 wurde Bakunin, zum großen Teil aufgrund der Intervention seiner Familie, aus dem Gefängnis entlassen und nach Sibirien ver-bannt. Ein paar Jahre später konnte er von dort fliehen, schaffte es, den Pazifik zu überqueren, und landete schließlich in London, wo er sich Alexander Herzens Zirkel anschloß. Zu diesem Zeitpunkt war Bakunins Politik immer noch eine linke – aber rabiat antideutsche – Version von panslawistischem Nationalismus. In einem Brief an seine Schwägerin schrieb er 1862: „Ich kümmere mich einzig und allein um die polnische, die russische und die panslawistische Sache, und ich predige, systematisch und mit glühender Überzeugung, Haß auf die Deutschen“ (zitiert in E. H. Carr, Michael Bakunin, 1937).
Bakunins Laufbahn als linker panslawistischer Nationalist ging 1863 mit der Niederlage des polnischen nationalen Aufstands gegen die zaristische Selbstherrschaft zu Ende. Er versuchte, nach Polen zu kommen, um persönlich an den Kämpfen teilnehmen zu können, aber er blieb in Schweden hängen. Er und Herzen brachten Aufrufe heraus, in denen russische Demokraten aufgefordert wurden, die Polen zu unterstützen, und in denen an russische Soldaten appelliert wurde, nicht auf ihre polnischen Brüder zu schießen. Zur gleichen Zeit kritisierte Bakunin die aristokratischen Führer des polnischen Aufstands scharf dafür, daß sie sich einer Agrarrevolution entgegenstellten. Seine Enttäuschung über den polnischen Nationalismus brachte ihn dazu, auch dem Panslawismus den Rücken zu kehren. Also suchte sich Bakunin etwas Neues und entwickelte dementsprechend auch eine neue politische Doktrin.

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