Die soziale Kompetenz der Winzlinge
In der Berliner Zeitung und der Frankfurter Rundschau vom 15.12.2010 ist folgender Artikel von Christian Wolf, einem promovierten Philosoph und freien Wissenschaftsjournalist in Berlin erschienen:
Babys entwickeln sehr viel früher als vermutet ein Gefühl für die Handlungen ihrer Mitmenschen
Für manchen Forscher wirkten sie in den ersten Wochen ihres Lebens wie Autisten. Und auch in den folgenden Lebensmonaten schienen Säuglinge sozial nicht viel auf dem Kasten zu haben. Dass sie noch nicht mit der Sprache herausrücken können, machte sie zudem für viele Wissenschaftler uninteressant. Doch mittlerweile versucht man in speziellen Babylaboren, die Kleinen mit immer raffinierteren Experimenten zum „Reden“ zu bringen. Und siehe da: Die Winzlinge sind zwischenmenschlich doch schon ganz groß.
Um in der sozialen Welt bestehen zu können, müssen Menschen in der Lage sein, andere einzuschätzen. Wer ist Freund, wer ist Feind? Dass sie diese Fähigkeit quasi in die Wiege gelegt bekommen, legen Untersuchungen der Psychologin Kiley Hamlin und ihren Kollegen von der Yale University in New Haven, Connecticut, nahe.
Die Forscher ließen ihre Probanden in Windeln -sechs Monate alte Babys -wiederholt ein Video mit lebendig wirkenden Bauklötzen anschauen. Eines der Klötzchen mühte sich vergeblich alleine einen Hügel hinaufzuklettern. Bei alternativen Versuchen kam ihr ein Bauklötzchen-Samariter zu Hilfe, ein drittes allerdings versuchte den Kletterer nach unten zu schieben.
Als sie anschließend wählen durften, griff die große Mehrheit der Babys nach dem Samariter und nicht nach dem Bösewicht. Wahrscheinlich weil dieser hilfsbereit war, vermuten die Forscher. Sie glauben, dass die Kleinen andere aufgrund ihres Sozialverhaltens einschätzen. Nahm man hingegen den gezeigten Szenen jeden Anschein von sozialer Interaktion, hatten die Säuglinge keine eindeutigen Vorlieben für eines der Bauklötzchen.
Die Ergebnisse erstaunten selbst die Forscher: „Es ist unglaublich beeindruckend, dass Babys dazu in der Lage sind“, sagt Kiley Hamlin. „Es zeigt, dass wir über diese grundlegenden sozialen Fähigkeiten verfügen, ohne sie explizit erlernt zu haben.“ Kürzlich konnte sie zudem im Fachblatt Developmental Science berichten, dass bereits drei Monate alte Babys zu sozialen „Urteilen“ fähig sind.
Einen wichtigen Schritt in Sachen Sozialkompetenz machen Säuglinge auch, wenn sie den Blicken von anderen Menschen zu folgen beginnen. Will ein kleiner Erdenbürger beispielsweise den Namen eines unbekannten Objektes lernen, muss er wissen, auf welchen Gegenstand sich ein Erwachsener gerade verbal bezieht. Entgegen früherer Auffassungen weiß man heute, dass Kleinkinder bereits vor dem Ende des neunten Lebensmonats der Aufmerksamkeit eines anderen Menschen folgen können.
„Gezieltes Blickfolgeverhalten lässt sich ab ungefähr drei Monaten beobachten“, erläutert die Entwicklungspsychologin Stefanie Höhl von der Universität Heidelberg. Erst später seien Säuglinge jedoch in der Lage, tatsächlich die Aufmerksamkeit eines Erwachsenen in Bezug auf Reize in der Umgebung zu teilen. „Wenn mein fünf Monate alter Sohn meinem Blick zum Mobile folgt, versteht er höchstwahrscheinlich noch nicht, dass ich es auch gerade beobachte.“ Das Mobile nehme seine Aufmerksamkeit sozusagen gefangen. „Mit ungefähr neun Monaten dann wird er seine Aufmerksamkeit flexibel zwischen dem Mobile und mir wechseln können und feststellen, dass wir dasselbe betrachten.“
Blick ins Gesicht
Dennoch können sich Babys bereits in den ersten Lebensmonaten an die emotionalen Blicke von Bezugspersonen halten, um unbekannte Gegenstände einzuschätzen. Zu dieser überraschenden Erkenntnis kam Höhl mit Kollegen. Wie Messungen der Hirnströme ergaben, erhöhte sich die Aufmerksamkeit drei Monate alter Babys, wenn ein Erwachsener ängstlich statt neutral auf einen Gegenstand schaute. „Mit drei Monaten können Säuglinge erschrockene oder überraschte Gesichtsausdrücke nutzen, um herauszufinden, was in der Umgebung gerade interessant und möglicherweise auch gefährlich ist“, erklärt Stefanie Höhl.
Früher als bisher gedacht entwickeln sich zudem komplexere soziale Fertigkeiten. Um uns das Verhalten eines Mitmenschen zu erklären, schreiben wir ihm Wahrnehmungen, Gedanken oder Überzeugungen zu. Diese Fähigkeit wird als „Theory of Mind“ bezeichnet. Kleinkindern bis vier Jahren spricht man diese wichtige soziale Kompetenz gerne wissenschaftlich ab. So könnten sie beispielsweise nicht erkennen -so die landläufige Meinung -wenn Menschen aus falschen Überzeugungen heraus handelten. Sie verstünden noch nicht, dass Überzeugungen die Realität nicht direkt widerspiegeln und auch falsch sein können.
Doch mittlerweile wachsen Zweifel an dieser Annahme. In verschiedenen Studien jüngerer Zeit ließ man Kleinkinder im zweiten Lebensjahr beobachten, wie sich der Aufenthaltsort eines Spielzeugs ohne das Wissen eines Erwachsenen veränderte. Suchte der Erwachsene dennoch gleich am richtigen Ort, zeigten sich die Kleinen überrascht. Sie berücksichtigten offenbar sein (falsches) Wissen und waren irritiert, wenn er dennoch Erfolg hatte. Somit verfügen möglicherweise bereits Kleinkinder im zweiten Lebensjahr über eine ursprüngliche „Theory of Mind“. Die Grundlagen dafür, die Handlungen anderer nachzuvollziehen, entwickeln sich dabei im Gehirn erstaunlich früh.
Bei erwachsenen Menschen gelten sogenannte Spiegelneurone als Basis von Empathie. Diese pfiffigen Nervenzellen regen sich, ob man eine bestimmte Handlung bei Mitmenschen nur beobachtet oder selbst ausführt und ermöglichen so, die Aktionen anderer nachzuvollziehen.
Die Kultur erobern
Doch auch schon bei neun Monate alten Säuglingen sind diese „sozialen“ Nervenzellen im Einsatz. Das fand ein Team um die Kognitionspsychologin Victoria Southgate von der University of London heraus. Egal, ob die kleinen Racker selbst nach einem Spielzeug griffen oder eine andere Hand danach grapschen sahen -ihre Hirnwellen ähnelten sich in beiden Fällen.
„Selbst im ersten Jahr ihres Lebens nutzen Babys die Region ihres Gehirns, die an ihren eigenen Bewegungen beteiligt ist, um die Handlungen anderer wahrzunehmen“, erläutert Victoria Southgate. Bei Babys könnten solche Hirnaktivitäten die Grundlage für ihre Fähigkeit bilden, sich langsam an gemeinschaftlichen Tätigkeiten zu beteiligen, so Southgate. „Dies ist vermutlich ein wichtiger Teil ihres Hineinwachsens in die Kultur.“
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Christian Wolf hat jüngst auch im Spiegel Online Wissenschaft einen Artikel zur Kindesentwicklung veröffentlicht:
„Wir-Gefühl in Windeln“