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Renate Dillmann in der jungen Welt: Großmacht China? Debatte

14. Dezember 2009

Den folgenden Artikel aus der jungen Welt vom 15.12.2009, ein erster Debattenbeitrag von Renate Dillmann zur VR China, hat Kozel als Kommentar bei mir eingestellt (Danke dafür), ich hieve ihn hier als Artikel hoch.
Am 17. Dezember 2009 findet in der jW-Ladengalerie ein Streitgespräch zu neuen Büchern über China statt. Eingeladen sind der ehemalige Botschafter der DDR in der Volksrepublik Rolf Berthold und der Sinologe Helmut Peters. Als dritte Diskutantin sitzt die freie Journalistin Renate Dillmann auf dem von jW-Chefredakteur Arnold Schölzel moderierten Podium. Sie formuliert in ihrem Buch »China. Ein Lehrstück« höchst provokante Thesen. So sieht Dillmann in der Volksrepublik eine aufstrebende Macht, die sich mittels imperialistischer Politik gegen Konkurrenten auf dem Weltmarkt durchzusetzen suche. Helmut Peters wird dieser These in der nächsten Woche auf den Thema-Seiten entgegnen.
Zu Beginn der 70er Jahre vollzog die sozialistische Volksrepublik eine weltpolitisch bedeutsame Weichenstellung: Sie nahm Verbindung zu den USA, der Führungsmacht des bis dahin nach Kräften attackierten imperialistischen Lagers, auf. In der Folge konnten die USA die Sowjetunion welt- wie rüstungspolitisch mehr unter Druck setzen. Vor allem aber war es den USA gelungen, China – das dem Weltkapitalismus mit seiner Doktrin von der »Unvermeidbarkeit des Krieges« zwischen Imperialismus und Sozialismus bis dahin trotzig und unberechenbar gegenüberstand und seit 1964 auch über die Atombombe verfügte – ein Stück weit in ihre »Ordnung« der Welt einzubinden. Mit der (Wieder-)Aufnahme bilateraler Beziehungen zu Washington mitten im Vietnamkrieg und trotz der militärischen Präsenz der USA in Südkorea, Japan, den Philippinen etc. signalisierte Mao seine Bereitschaft, sich mit einer führenden Rolle der USA in der Welt und im Pazifik zu arrangieren. Umgekehrt akzeptierten die Vereinigten Staaten dafür eine atomar bewaffnete Volksrepublik als Regional- und Großmacht und akzeptierten kurz darauf, daß »Rotchina« den (vorher dem US-Verbündeten Taiwan zugesprochenen) Sitz im Sicherheitsrat der UN besetzte.
Die USA haben der Volksrepublik China also das Angebot auf einen Platz in »ihrer« Welt gemacht – unter der Bedingung, daß die chinesische Parteiführung sich damit abfindet, wie es in dieser Welt zugeht: 1. freier Handel zwischen den Staaten der »freien Welt«, über welche die Vereinigten Staaten eine Art Oberaufsicht führen; 2. unversöhnliche Feindschaft zwischen dem westlichen und dem sowjetischen Lager, aus dem die Volksrepublik endgültig ausschert. Selbstverständlich war das Angebot des damaligen Nixon-Kissinger-Gespanns mit dem Wunsch verbunden, daß die Einordnung im Idealfall zur Unterordnung des Landes führen soll. Die USA haben deshalb die neu eröffneten Beziehungen mit ein paar ökonomischen Angeboten flankiert – in der Hoffnung, daß sich das wirtschaftlich nicht gerade gefestigte Land alsbald in ausnutzbare Abhängigkeiten hineinreiten würde.
China seinerseits hat sich entschieden, seine nationalen Interessen künftig in Kooperation mit dieser kapitalistischen Welt und all ihren – bis dahin vorwurfsvoll angeklagten – Gemeinheiten zur Geltung zu bringen. Die berechnende Anerkennung, die ihm die USA angeboten haben, hat es – bei allem gehörigen Respekt vor der nordamerikanischen Supermacht! – als Gelegenheit betrachtet, sich neu aufzubauen und einen anerkannten Platz in der Hierarchie der großen Nationen zu ergattern, sich also in der Konkurrenz der imperialistischen Staaten durchzusetzen und nicht im Kampf gegen sie. Dafür hat China die politische Wendung nach Westen in der Folgezeit um seine ökonomische Öffnung ergänzt.
Pferdefuß für den Westen
Das alte »Reich der Mitte« hat es dabei in den vergangenen 30 Jahren seines staatlich initiierten und gelenkten Kapitalismus geschafft, sich zu einer der wenigen wichtigen Wirtschaftsnationen auf der Welt hochzuarbeiten – ein durchaus bemerkenswerter Sonderfall gegenüber dem »normalen Schicksal« eines Entwicklungslandes. Während sonst nach der Logik von Geschäft und Gewalt die Aufnahme von Beziehungen mit den in jeder Hinsicht überlegenen kapitalistischen Nationen regelmäßig zu einseitiger ökonomischer Abhängigkeit und prinzipieller Beschränkung des politischen Handlungsspielraums führt, macht es offenbar einen entscheidenden Unterschied aus, als größtes Entwicklungsland der Welt in ein solches Unterfangen einzusteigen. Das entsprechend riesige Interesse der internationalen Geschäftswelt (und deren Konkurrenz) sorgte nämlich für eine ansonsten unübliche Bereitschaft, die von der kommunistischen Staatspartei erlassenen Zugangsvoraussetzungen zu akzeptieren. Einmal erfolgreich »angestoßen«, fand eine »ursprüngliche Akkumulation« statt – die durch viel staatliche Gewalt »flankierte« Schaffung einer allgemeinen Basis kapitalistischer Gewinnproduktion, deren Ergebnisse den Ausgangspunkt für die beständige Ausweitung und Ausbreitung rentabler Geschäfte bilden – und das in einem bisher unbekannten Ausmaß. Auch wenn der kapitalistische Boom bislang hauptsächlich Chinas Ostküste (und selbst die noch nicht durchgängig) erfaßt hat – die Menge der dort stattfindenden Produktion gewinnträchtiger Ware hat bis heute schon einiges durcheinandergebracht im etablierten Weltkapitalismus.
Das ist einerseits ideal für westliche Unternehmen, weil akkumulierendes chinesisches Kapital eine gute Basis für weitere und mehr eigene Geschäfte darstellt. Das ist andererseits nicht ganz so günstig, weil dieses Kapital inzwischen genauso agiert wie das westliche, also vor Ort zunehmend als Konkurrent auftritt und außerdem beileibe nicht in seiner angestammten Heimat bleibt, sondern längst in alle Welt ausschwärmt und die hiesigen Märkte angreift, die doch eigentlich für den Absatz »unserer« (China-)Waren reserviert waren.
So hat sich dasselbe, was China für den Westen so attraktiv gemacht und sich in Zeiten stagnierenden oder schrumpfenden Weltgeschäfts als riesiges, noch zu entwickelndes Potential für geschäftliches Wachstum dargestellt hat, seine Größe als Quelle von Bereicherung also, vom Standpunkt der westlichen Führungsnationen inzwischen gewissermaßen als Pferdefuß herausgestellt. Nicht in dem Sinn, daß die zahlreichen kapitalistischen Spekulationen auf das Reich der Mitte nicht oder nicht genügend aufgegangen wären. Ganz im Gegenteil: Westliche Unternehmer haben ein erfolgreiches Geschäft in China zustande gebracht und es deshalb immer weiter ausgeweitet. Genau das hieß aber umgekehrt: Wenn in einem so riesigen Land kapitalistisches Wachstum in Schwung kommt und eine Staatsführung wie die Kommunistische Partei es schafft, Land und Leute dafür ebenso zu mobilisieren wie unter ihrer Kontrolle zu halten, wird auswärtiges Kapital zum Mittel seines nationalen Aufstiegs. Der Einstieg in die imperialistische Weltordnung hat die Nation bereichert, macht sie damit zu einem potenten Konkurrenten und stärkt die politischen Verwalter der chinesischen Ökonomie, statt daß er sie schwächt und zunehmend politischer Erpressung und auswärtiger Kontrolle ausliefert.
Eine neue imperialistische Macht
Dabei haben Chinas Politiker in dem Bewußtsein agiert, allein schon wegen der schieren Größe ihres Landes über eine potentielle Weltmacht zu herrschen, der sie endlich wieder zu dem ihr »zustehenden« Platz verhelfen wollten. Daß sie mit diesem Anliegen in eine internationale Gewaltordnung eintreten, in der die USA das Sagen haben, hat sie genausowenig geschreckt wie die Aussicht, daß zur Behauptung in dieser Welt von Geschäft und Gewalt diverse Gemeinheiten nötig sind. Die Einladung der US-Amerikaner, in ihrer Weltordnung mitzumachen, haben diese Nationalkommunisten jedenfalls nie blauäugig mißverstanden. Von ihrem ansonsten nicht mehr so angesagten Exvorsitzenden Mao haben sie sich auf alle Fälle gemerkt, daß »die Macht aus den Gewehrläufen« kommt, die Rolle eines Landes in der Welt also vor allem anderen an den (Gewalt-)Mitteln hängt, die es mobilisieren kann, um anderen Staaten das eigene Interesse aufzwingen zu können.
Daß gerade der ökonomische Erfolg ihres Landes für einige neue Gegensätze und scharfe Töne im regional- wie weltpolitischen Szenario gesorgt hat, hat die Politikergarde in Peking insofern nicht überrascht. Ebensowenig die etablierten Weltordnungsmächte, welche die Unvereinbarkeit so mancher chinesischer Konkurrenzanstrengung mit ihrer Lesart der »globalen Spielregeln« festgestellt und die »Lösung« der so definierten »Konflikte« auf die Tagesordnung gesetzt haben. Sie finden es nämlich überhaupt nicht in Ordnung, wenn sich ein »armes« Land in einem solchen Tempo zur Export-, Gläubiger- und Kapitalexportnation hocharbeitet – auch einmal eine schöne Aufklärung darüber, wie der früher im Westen so beliebte Terminus Entwicklungsland auf alle Fälle nie gemeint war! US-amerikanische Politiker rechnen hoch, wie diese »Entwicklung« weitergehen soll, und sehen sich durch eine »kommende Weltmacht China« enorm gestört.
Dagegen macht die Volksrepublik selbstbewußt ihr »Recht auf friedliche Entwicklung« geltend. Neben den »Fortschritten«, die die politische Klasse des Landes im Inneren in Gang setzt, werden chinesische Politiker mit einer ganzen Latte außenwirtschaftlicher wie -politischer Aktivitäten, die einem »Lehrbuch Imperialismus« entnommen sein könnten, auf dem Globus aktiv: Sie nutzen die wachsenden ökonomischen Mittel, über die sie inzwischen verfügen, wie die Abhängigkeiten, die sich für andere Staaten in aller Welt aus dem Geschäft mit China bereits eingestellt haben, zielstrebig dafür aus, gegen die etablierten kapitalistischen Großmächte ökonomische Besitzstände auf- und auszubauen, ob in Asien, Lateinamerika oder Afrika. Sie bringen politische Kooperationen auf den Weg, die sich perspektivisch – und auf der Basis einer gesteigerten chinesischen Militärmacht, welche für die fälligen Schutzversprechen wie Erpressungsmanöver auch materiell einstehen kann – zu wertvollen Positionen in der strategischen Machtkonkurrenz ausgestalten lassen, etwa mit Rußland und den zentralasiatischen Staaten im Rahmen der Shanghai Cooperation Organization (SCO).
Hegemon USA herausgefordert
Die etablierten Hüter der internationalen Konkurrenzordnung bemerken selbstverständlich, daß sich der Neueinsteiger ins kapitalistische Weltgeschäft überall unangenehm breitmacht. Vor allen anderen sehen sich natürlich die USA herausgefordert. Schließlich haben sie die Weltordnung zu ihrem Nutzen eingerichtet – und in diesem Sinne auch China zur Teilnahme eingeladen. Nicht erst seit heute steht man in Washington dem Resultat mit gespaltenen Gefühlen gegenüber. Daß chinesische Waren die US-Märkte »überschwemmen«, finden amerikanische Politiker unerhört – auch wenn es Amerikas eigene Global player sind, die diese Waren in China produzieren lassen, damit Gewinne einheimsen und diese Billigimporte die Inflationsrate niedrighalten. Daß chinesische Devisengewinne massenhaft US-Schatzbriefe kaufen, finden seine Finanzstrategen unheimlich – auch wenn China mit seinen Dollarkäufen letzten Endes ausgerechnet die Kriege finanziert, mit denen Amerika seine führende Rolle in der Welt sichern will, oder momentan verhindert, daß der Dollar noch einen ganz anderen Absturz hinlegt. Andererseits will man das Land weiterhin und sogar verstärkt als US-amerikanische Bereicherungsquelle benutzen; die damit verknüpften Wirkungen, ein stetig andauernder chinesischer Zuwachs an ökonomischen und militärischen Machtmitteln, sollen aber auf alle Fälle unter Kontrolle gehalten werden.
Dafür bringen die USA gegen den Newcomer in der Sphäre der Ökonomie alle »konventionellen« Mittel in Anschlag, die es sich in den supranationalen Organisationen zur Regelung seines Vorteils auf dem Weltmarkt geschaffen hat (Dumpingklagen, Beschwerden über den »künstlich« niedrigen Yuan etc.). Und nicht nur das. Auch in China beklagen die Vereinigten Staaten natürlich dauernd den Zustand von Menschenrechten und Demokratie – sprich: Die USA vermissen die Zulassung von regierungskritischen Stimmen, NGO und Oppositionsparteien, die sie für ihre Anliegen instrumentalisieren könnten. Und es sind, rein vorsorglich, auch deutliche militärische Schritte nötig, um die Aufholanstrengungen Chinas auf dem Felde der Waffen zum Scheitern zu verurteilen, sei es mit Raketenabfangprogrammen, sei es mit einer weit gediehenen geostrategischen Einkreisung.
Gleichzeitig aber enthält die US-amerikanische Stellung zu China immer auch ein – ausgesprochen zwiespältiges – Angebot: Peking möge sich, gerade angesichts der »drohenden Verschlechterung« der doch so nützlichen Beziehungen, lieber fügen, Rücksicht nehmen auf die Vorhaltungen der Weltmacht, sich einordnen in die pax americana und eine darin für Amerika nützliche, dann aber auch anerkannte Rolle spielen. Obama hat die chinesische Führung mit Angeboten in diesem Sinne geradezu bombardiert. Er hat den kommunistischen Führern in Peking seine Anerkennung für ihre ökonomische und politische Potenz ausgesprochen, um sie damit zur Ein- und Unterordnung in seine, die US-amerikanische Weltordnung, zu bewegen – ein recht anspruchsvolles Ideal imperialistischer Gewalt.1)
Es ist nämlich so, daß die USA China ebensosehr brauchen wie sie die Volksrepublik nicht aushalten. Ihr Geschäft braucht die Ausbeutung chinesischer Arbeitskraft, den Import billiger Waren, den Kapitalexport nach China und beklagen all das gleichzeitig als Verhinderung des US-amerikanischen Geschäfts und als Arbeitsplatzabbau; Washington braucht die Dollarkäufe Chinas und leidet unter dieser Abhängigkeit; es braucht selbst die Staatsgewalt in China, damit dort ein geregeltes Geschäftsleben stattfindet – und findet deren Macht zugleich unerträglich.
»Multipolare Welt«
Es ist also nicht verwunderlich, daß China den ziemlich »unilateralen« Weltordnungswillen der USA nicht nur allgemein als Einengung seiner Handlungsfreiheit zur Kenntnis nimmt, sondern ihn eindeutig auf sich und sein Aufstiegsinteresse bezieht, das damit angegriffen wird. Und China läßt keine Zweifel daran, daß es das nicht hinnehmen will. Früher haben die chinesischen Kommunisten die Welt einmal dafür angeklagt, daß in ihr der »US-« und später der »Sozial-Imperialismus« der Sowjetunion zu Unrecht die Interessen der »fortschrittlichen« Völker »dominierten«. Heutzutage stören sich ihre Nachfolger daran, daß China in seinem Recht auf »friedliche Entwicklung« behindert wird. In ihren »Weißbüchern« bedauern sie, daß die ansonsten auf der Welt bereits vorbildlich herrschenden »Haupttendenzen Frieden und Entwicklung« durch das Treiben »einer Macht« empfindlich gestört werden: Amerika »maße« sich »an«, die Welt »hegemonial«, »unipolar« zu beherrschen und jede Veränderung seiner Weltordnung strikt zu unterbinden. Dagegen setzt China sein »Konzept« einer »multipolaren Welt« – und kündigt mit dieser Formel, die harmlos und beschwichtigend klingen soll, nicht weniger als seinen Kampf gegen die Vormachtstellung der USA an. Die heutigen chinesischen Machthaber sind nicht gewillt, das »Kräfteverhältnis« auf der Welt als unveränderlich hinzunehmen. Auch in Sachen Machtkonkurrenz wollen sie also nur das eine: mithalten – und dafür nehmen sie alles Nötige in Angriff, ob die Modernisierung ihrer Marine oder entsprechende strategische Allianzen.
»Jetzt erst recht!«
Seit dem Ausbruch der weltweiten Finanzkrise sieht sich die Volksrepublik mit der bitteren Wahrheit konfrontiert, daß der Weltmarkt, den sie bisher als Mittel ihres Aufstiegs genutzt hat, ihr eine Quittung präsentiert, die sie in mehrfacher Hinsicht sehr grundsätzlich schädigt.
– Ihre Devisenreserven entwerten sich. Die Summen, die der chinesische Staatsfonds in Geschäfte wie etwa, die der Investmentfirmen Freddie Mac und Fanny Mae gesteckt hatte, haben sich bereits in Luft aufgelöst. Der Rest ihrer Dollar-, Yen- und Eurobestände ist von noch gar nicht abzuschätzenden Wirkungen bedroht, die die Krise und die jeweiligen staatlichen Rettungsmaßnahmen auf die etablierten Weltwährungen haben.
– Gleichzeitig wächst erstmals seit vielen Jahren der das Staatsvermögen nicht mehr, da sowohl das Exportgeschäft als auch die ausländischen Direktinvestitionen im großen Stil wegbrechen. Zudem fließt angesichts unsicherer Aussichten des Geschäfts Kapital nach Hongkong ab.
– In der chinesischen »Realwirtschaft« macht sich die Abhängigkeit der Geschäfte von den ausländischen Märkten (USA, Japan, Europa) geltend: Ein großer Teil der Weltmarktfabriken ist in ungemein kurzer Zeit geschlossen worden; Millionen Arbeitskräfte werden ohne jegliche soziale Absicherung entlassen (bis Ende Januar 2009 allein 20 Millionen Wanderarbeiter), und die Perspektiven für die jährlich zusätzlich auf den Arbeitsmarkt strömenden Jugendlichen (davon allein 5,5 Millionen Studienabgänger) sind erbärmlich schlecht.
Der chinesische Staat, der seinen Erfolg wie das Leben und Überleben seines Volks praktisch davon abhängig gemacht hat, daß auf seinem Territorium ein kapitalistisches und auf den Weltmarkt bezogenes Geschäft stattfindet, sieht sich konfrontiert mit den »Naturgesetzen« dieser Marktwirtschaft. Wenn diese Wirtschaft nicht jedes Jahr erheblich wächst – in China müssen das mindestens acht Prozent sein –, kann die Gesellschaft nicht einfach auf dem bisherigen Niveau weiterexistieren. Ihr ökonomisches Leben hängt an diesen Profitrechnungen und bricht deshalb im großen Stil weg. Das ist nicht wie in vorsozialistischen Zeiten Folge von natürlichem Mangel oder Naturkatastrophen. Obwohl alle materiellen Mittel des Produzierens – qualifizierte Arbeitskräfte, natürliche Ressourcen, industrielle Technik – inzwischen im Überfluß vorhanden sind, herrscht dann »die Krise«.
Diese Notlage geht die chinesische Regierung mit einem entschiedenen »Jetzt erst recht!« an. Sie setzt alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel ein und verkündet, wie alle anderen imperialistischen Mächte auch, daß sie gestärkt aus der Krise herauskommen wird. Mit geldpolitischen Instrumenten und einem schnell verabschiedeten gigantischen Konjunkturpaket hat sie der Wirtschaft auf die Beine geholfen. Haushaltspolitische Erwägungen ebenso wie andere Staatsziele, etwa der Aufbau einer Sozialversicherung und die Durchsetzung der Arbeitsrechtsreform, hat sie fürs erste aufgeschoben. Auch in China zeigt sich auf diese Art und Weise drastisch, was inzwischen der Systemzweck ist, an dem alles hängt und von dessen erneutem Funktionieren alles andere abhängt – von wegen kapitalistische »Methoden« und den »Tiger reiten«.
Die Krisenkonkurrenz verschärft dabei alle schon bisher vorhandenen Widersprüche und Gegensätze der Staaten. Alle haben jetzt ihre guten, nationalen Gründe dafür, das Wachstum in ihrem Land gegen und auf Kosten der anderen zu sichern, und befürchten gleichzeitig, daß ihnen damit langfristig die Mittel ihres Gewinnemachens abhanden kommen – die globalen freien Märkte, weshalb sich alle gegenseitig vor »Protektionismus« warnen. Sie beanspruchen die Konjunkturmaßnahmen der anderen einerseits als Mittel für sich (»China soll die Welt retten«), machen andererseits eben deren Rettungsstrategien für ihre schlechten Aussichten verantwortlich (neue Attacken der USA gegen einen »unterbewerteten« Yuan). Amerika bekommt zu spüren, wie weit sein Dollar und damit seine gesamte schöne Finanzwelt inzwischen von einer konstruktiven Politik der Volksrepublik abhängig sind – ein ganz und gar unerträglicher Zustand für seinen Anspruch, auch ökonomisch die Welt zu führen. Umgekehrt müssen die Chinesen feststellen, daß eine Ablösung des Dollar-Regimes, an der ihnen gelegen wäre, jede Menge mögliche Schäden für ihre eigenen Interessen enthält. Deshalb kaufen sie zwar fürs erste weiter amerikanische Staatspapiere, verlangen aber – ganz als Eigentümer hart verdienter Dollars auftretend! – von den Amerikanern eine entsprechende Pflege ihrer Währung …
Ein Grund zur Schadenfreude etwa der Art, daß sich die Weltmacht USA da einen interessanten Widerspruch selbst herangezüchtet hat und jetzt an ihm herumlaboriert, ist das alles nicht. Denn jenes China, das den Nordamerikanern da in die Quere kommt, ist mitnichten eine Art Hoffnungsträger für eine alternative Weltordnung. Einmal abgesehen vom Unsinn eines solchen Bedürfnisses, nach einer »real existierenden« Kraft zu fahnden als Bedingung, Perspektive, Kronzeuge oder sonstwas für die eigene Gegnerschaft, um die es schlecht bestellt ist: Um zu glauben, daß man so etwas in China vor sich hat, muß man Ökonomie und (Außen-)Politik der Volksrepublik gegen alle Realität ziemlich umdeuten– nur so werden nämlich aus Konkurrenzerfolgen dieses Landes, das seit jetzt 30 Jahren mit aller nötigen staatlichen Gewalt und Umsicht eine erfolgreiche kapitalistische Wirtschaft etabliert, »Ansätze« oder zumindest »Bedingungen« für etwas »Anderes«. Zweitens führen die Widersprüche, in denen sich Staaten befinden, regelmäßig zu einem brutalen Bereinigungsprogramm – und das betreiben die Subjekte der Weltgeschichte, indem sie ihre Instrumente ins Rennen schicken, ihre loyalen Völker und ihre Gewalt- und Erpressungsmittel.
1 Vgl. dazu den Artikel »Obama bietet der aufsteigenden Großmacht China Mitverantwortung für die amerikanische Weltordnung an« in GegenStandpunkt 4/2009
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Bei der Gelegenheit möchte ich nochmals auf die am 17.12.2009 anstehende Debatte hinweisen:
Veranstaltung mit den Autoren neuster Publikationen zur VR China mit Renate Dillmann, Rolf Berthold, Helmut Peters
Moderation: Arnold Schölzel (junge Welt)
Ort: jw-Ladengalerie, Torstraße 6, 10119 Berlin
Zeit: Donnerstag, 17.12.2009

Beginn: 19:00 Uhr
Eintritt: 5,00 € ermäßigt 3,00 €

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