„Es gibt keinen Plan B, es sei denn, wir veranstalten eine Revolution.“
Folgende Reportage erschien diese Woche im Spiegel:
Ein Viertel ohne Arbeit
Global Village: Wie der Umzug des Computer-Giganten Dell die Iren verstört
Es ist erst halb zwölf Uhr mittags, aber so, wie die Dinge hegen, erwartet John Gilligan vom Rest des Tages nicht mehr viel.
Der Bürgermeister von Limerick umrundet seinen Schreibtisch. „Ich habe leider kein Fass Guinness in meinem Rathausbüro“, sagt er. „Darf es auch Guinness aus der Dose sein?“
Gilligan zeigt zu einer Balkontür. Im Hintergrund fließt der Shannon, der längste Strom Irlands. Vor mehr als tausend Jahren, berichtet der Bürgermeister, hätten die Einheimischen hier siedelnde Wikinger geschlagen. Erst als jene versprachen, 365 Fass Wein pro Jahr Tribut zu zahlen, habe man sie in Ruhe gelassen. „Kein Wunder“, sagt Gilligan, „dass die Jungs hier viele Partys feierten.“
Als Gilligan im letzten Juni zum Bürgermeister gewählt wurde, hatte er sich anscheinend auf ähnlich lustige Zeiten gefreut. Aber dann kam das, was der Bürgermeister jetzt eine „absolute, gigantische Katastrophe“ nennt. Der amerikanische Computer-Hersteller Dell beschloss, sein Werk in Limerick dichtzumachen und die Produktion nach Polen zu verlagern.
Limerick ist die viertgrößte Stadt Irlands. Als die Wirtschaft jährliche Wachstumsraten von über zehn Prozent („der keltische Tiger“) vorweisen konnte, wurde Limerick zum Vorzeigeort des grünen Wirtschaftswunders. Hier hatte ein amerikanischer Hightech-Riese alle irischen Vorteile auf einmal genutzt: die niedrige Unternehmensteuer von 12,5 Prozent, staatliche Zuschüsse und ein Lohnniveau, das zum niedrigsten im EU-Europa zählte. Die Stadt bebte, sogar das Rugbyteam von Limerick, die „Munsters“, waren auf einmal Spitzenklasse.
Der Aufschwung ließ Immobilienpreise, Lebenshaltungskosten und die Gehälter in die Höhe schießen und die Zuversicht wachsen, dass alles immer besser würde. Dabei wurde es vor allem teurer. Zu teuer angeblich auch für Dell, das sich einen billigeren Standort suchte, in Lodz. In Polen beträgt der Grundlohn nur ein Fünftel des irischen. Dort gibt es jetzt Plakate mit der Aufschrift: „Kommen Sie ins neue Irland!“
Bis zu 10000 Arbeitsplätze könnten der Region Limerick von April an verlorengehen. Aber die Wirkung reicht weit über die Region hinaus. Ganz Irland wird den Umzug zu spüren bekommen. Von der Weltkrise ist Irland getroffen wie kein anderes EU-Land, die Regierung hat die Steuern erhöht und die Haushaltsausgaben gekürzt, sie stemmt sich gegen einen Staatsbankrott.
Dells Abgang hat den Iren gerade noch gefehlt. Als zweitgrößter ausländischer Arbeitgeber des Landes erwirtschaftete Dell bislang rund fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Gilligan marschiert durch sein Büro, auf und ab. An der Wand hängt das Foto einer großen Yacht, die vor Australien schräg im Wind segelt. Limericks Beitrag zur Sydney-Hobart-Regatta im Jahr 2005.
Limerick ohne Dell, das kann sich Gilligan nicht vorstellen. Schon jetzt gibt es Viertel, wo in den Läden Zigaretten und Teebeutel einzeln verkauft werden und der Pyjama-Index besonders hoch ist: Noch nachmittags sieht man dort Menschen im Schlafanzug herumlaufen, weil sie keinen Grund haben, sich etwas anderes anzuziehen. Dell, sagt Gilligan, sei das industrielle Herz der Region.
Wenn Dell Anfang 2010 dichtmacht, droht Limerick eine Arbeitslosenquote von 25 Prozent. Gilligan hat die Regierung um Hilfe gebeten. Die Regierung hat eine Sonderkommission gebildet, die einen Plan für Limerick entwickeln soll. Es gibt Absichtserklärungen. „Aber wir brauchen keine Absichtserklärungen, wir brauchen Arbeit“, sagt Gilligan. Sein Handy klingelt. Es hat den Ton einer mächtigen Orgel. Er winkt ab. Wahrscheinlich wieder nur einer, der sich zum Trinken verabreden will. Man sei auf den Niedergang hier nicht vorbereitet. Die jungen Leute seien Doppelverglasung, Zentralheizung und Flachbildschirme gewöhnt. Die Weihnachtseinkäufe haben viele in New York und Boston erledigt. „In Zukunft müssen sie froh sein, wenn sie ein Dach über dem Kopf haben“, sagt Gilligan. Dort könnten sie sich dann dem Fernsehen und dem Alkohol widmen. „Viel mehr gibt es hier dann nicht mehr zu tun“, sagt er.
Der Bürgermeister tritt auf den Balkon, der den Shannon-Fluss überragt. Entlang des braunen Wassers stehen Glas- und Stahlbauten. „Das sind alles neue Hotels“, sagt Gilligan. „Zwei Clarion, ein Strand, ein Jurys, ein George, ein Marriott. Und sie sind alle jetzt schon leer.“ Wenn nicht ein Wunder geschehe, könnten demnächst Asylbewerber aus Nigeria in diese Vier-Sterne-Kästen einziehen, sagt der Bürgermeister.
Was gibt es sonst noch für Pläne für Limerick?
Gilligan schaut kurz auf, hilflos, wie ein Nichtschwimmer, der ohne Weste im Wasser versinkt.
„Es gibt keinen Plan B“, sagt er. „Es sei denn, wir veranstalten eine Revolution.“
Von THOMAS HÜETLIN, abgedruckt in der Print-Ausgabe von DER SPIEGEL 17/2009.
Für jemand, der „vor allem durch seine Sportreportagen, u. a. über Beckham und Kahn bekannt“ wurde (Wikipedia), ein erstaunlich treffend gebrachtes Zitat.