Was tun! Eine Antwort (von Freerk Huisken)
Man soll ja eigentlich nicht nur Krimis nicht mit dem Schluß anfangen. Bei Freerk Huiskens neuem Buch „Über die Unregierbarkeit des Schulvolks“ habe ich es aber dennoch getan und möchte sein traurigerweise brandaktuelles Schlußwort hier zitieren:
Doch will ich mich nicht drücken. Eine erste und ganz einfache Konsequenz aus der vorgetragenen Kritik lautet: Überall dort, wo Sie damit konfrontiert sind, dass sich Menschen – große und kleine, weibliche und männliche, studierte und nichtstudierte – falsche Gedanken über die Ursachen von Erfolg und Misserfolg im Kapitalismus machen, sollten Sie mit zutreffender Kritik – die sich folglich nicht dem Imperativ unterwirft, sie müsse konstruktiv sein – einschreiten. Denn diese falschen Gedanken – sie waren ebenso wie einige ihrer Widerlegungen Gegenstand des Vortrags – sind immer zugleich die Absegnung jener »falschen« Praxis, in die der Mensch in Studium und Beruf, Familie und Arbeitsmarkt gestellt ist. Schon wieder »bloß« erklären? Einerseits ja, andererseits nein: Denn die richtige Erklärung ist der Überzeugungsarbeit vorausgesetzt, d.h. will erst einmal wirklich geleistet sein.
Wenn Sie nun darauf insistieren, dass das aber noch ziemlich dünn ist, muss ich Ihnen zustimmen. Mir reicht das auch nicht. Ich hätte auch lieber gleich einen großen Haufen überzeugter und zu allerlei ernstem Streit aufgelegter und befähigter Menschen beieinander. Doch da der nicht zu »schnitzen« ist, wird es wohl dabei bleiben müssen, erst einmal Überzeugungsarbeit zu leisten. Und das heißt Erkenntnisse über diese Gesellschaft zu verbreiten, ohne die sich bei niemandem der Wille herausbildet, sich nicht weiter den Verhältnissen zu unterwerfen. Das Erklären und Überzeugen ist nicht alles, aber ohne Erfolge an dieser Front geht gar nichts.
Worum geht es dabei? Zu leisten ist also zunächst die Kritik des falschen Bewusstseins von den Siegen und Niederlagen, die der Kapitalismus seinem »Menschenmaterial« bereitet. Zu kritisieren ist die durchgesetzte Psychologisierung der Konkurrenzmoral und ihrer Ergebnisse, von der auch der Nachwuchs nicht verschont bleibt. Zu widerlegen ist die Ansammlung all der falschen Urteile, mit denen sich der heranwachsende und der fertige Mensch in seiner Welt einrichtet: Die angebliche Abhängigkeit der Chancen von den Leistungen, die der Leistungen von einer Leistungsfähigkeit, deren Aufwertung zum Indiz für den relativen Selbstwert der Person, diese Konstruktion selbst, einschließlich aller Veranstaltungen zur Pflege von Selbstbewusstsein. Da steht die Kritik des moralischen Rückzugs auf die eigene Wohlanständigkeit bei chronischem Misserfolg »im Leben« ebenso an wie die Verwandlung aller Erfolge und Misserfolge in Ehrfragen. Anzugreifen sind die Bemühungen, wenigstens im Privatleben den Siegertyp herauszukehren und honoriert zu bekommen, ebenso wie das Sicheinrichten in der Depression, die das Fehlurteil kultiviert, man sei nun einmal ein Versager. Wer Schüler, die sich in der Gossensprache zu überbieten versuchen oder mit ihrem Waffenbesitz angeben, für kleine Monster hält, aber an den angeberischen Ritualen Erwachsener und an den Selbstdarstellungskunststücken von Erfolgsmenschen nichts weiter auszusetzen hat, der hat nichts von dem begriffen, was die Chaos-Kinder treiben. Das gilt auch für Lehrer, die sich über die Brutalität auf dem Schulhof beschweren, es aber für in Ordnung halten, wenn sie ihrem »Lieblingsschüler« mitteilen, dass er, wie nicht anders zu erwarten gewesen sei, wieder ein-mal versagt habe; die an Schülern verzweifeln, die den Unterricht nur als Gelegenheit nehmen, sich vor den Mitschülern aufzuspielen, es aber zur Gewohnheit ausgebildet haben, über ein Soziogramm die Klasse »in den Griff« zu bekommen.
Ob sich allerdings diejenigen Kinder und Jugendlichen von Argumenten beeindrucken lassen, denen bereits »alles egal« ist, die als Maß zur Beurteilung ihrer Lage allein die von ihnen selbst inszenierten Überlegenheitsbeweise gelten lassen, ist mehr als fraglich. Schließlich lässt sich die Einbildung der Kids, sie seien überhaupt die Größten, selbst durch den gut begründeten Verweis auf die bestehenden »Kräfteverhältnisse« nicht irritieren, zumal wenn sie ihre Gleichgültigkeit gegenüber Recht und Moral sogar als Beweis ihrer besonderen »coolness« bewertet wissen wollen. Wo das Interesse und seine Erfüllung sich bereits in Einbildungen bewegt, das Getue wahnhafte Züge annimmt, da versagen Argumente.
Dieser Befund ist bedauerlich. Er gibt den psychologischen und polizeipädagogischen Rezepten dennoch nicht im Nachhinein Recht. Die geleistete theoretische Kritik hebt sich nicht dadurch auf, dass die praktische scheitert. Wenn zu konstatieren ist, dass es Menschen gibt, die »von allen guten Geistern verlassen« und deshalb nicht von ihrem Tun abzubringen sind, dann ist Kapitulation angesagt und allenfalls für Schadensbegrenzung zu sorgen. Erzieher, die das nicht einsehen, weil sie ihre Ohnmacht nicht aushalten, müssen natürlich »was tun«. Das ändert an ihrer Ohnmacht nichts. Sie können sie so nur besser aushalten.
Ziemlich alle praktischen Interessen von Pädagogen bleiben also auf der Strecke. Das mag für sie ärgerlich sein, doch gibt es kein Gesetz, das besagt, dass das Objekt der Kritik mit dem Subjekt der neu gewonnenen Einsicht zusammenfallen muss. Besonders deshalb fallen die Ambitionen von Lehrern und die Schlussfolgerungen aus der vorgelegten Kritik ziemlich auseinander, weil die Erziehungsbevollmächtigten sich einfach nicht von der Idealisierung ihrer Umwelt freimachen können. Immer wieder geben sie einerseits in ihrem pädagogischen Tun zu Protokoll, dass sie für die bürgerliche Gesellschaft viel übrig haben und ihr die tauglichen Nachwuchsmannschaften liefern wollen. Andererseits führen sie sich als Kritiker der jugendlichen Verwahrlosung auf, die eben dieser Kapitalismus hervorbringt.
Es gehört geradezu zum Prinzip von Pädagogik, die Einrichtungen des Kapitalismus dadurch zu beschönigen, dass man sich die Vorstellung leistet, sie seien in ihrer Zweckbestimmung auch ohne das zu haben, woran sich Lehrer stören: So halten sie eifrig an einer Schule fest, die den Markt mit Berechtigungen füttert, sind aber gestandene Kritiker der Zensurengebung – ohne die eine solche Schule nun einmal nicht funktioniert. So sind sie Anhänger der Familie, mit ihrer Einkommensabhängigkeit und ihrer Erziehungszuständigkeit, schelten aber die Eltern für ihr »Versagen« in der vorschulischen Moralerziehung des Nachwuchses, die in der »modernen Familie« von Doppelverdienern, Schichtarbeitern, allein erziehenden Müttern oder Arbeitslosen zwangsläufig ist. So bringen sie dem Nachwuchs bei, dass Marktwirtschaft, gerade weil sie eigentlich dem Wohl aller Bürger verpflichtet sei, nicht immer so viel Arbeitslose produzieren darf. Sie wollen jedoch nichts davon wissen, dass gerade die Praxis des Heuerns und Feuerns ein Mittel ist, die von ihnen geschätzte Marktwirtschaft am Laufen zu halten. Sie wünschen sich die vollständige bürgerliche Gesellschaft, jedoch immer ohne die not-wendig zu ihr gehörigen »Begleitumstände«, an denen sie sich stören. Sie wollen nicht begreifen, dass das eine ohne das andere nicht zu haben ist. Wenn sie – anders gesagt – die Abschaffung aller aufgelisteten Ärgernisse von der Jugendverwahrlosung über die Arbeitslosigkeit bis hin zur Umweltzerstörung propagieren, dann müssen sie sich klarmachen, dass sie einer Umwälzung der dafür zuständigen Produktionsverhältnisse das Wort reden.
Dieser Idealismus ist es auch, der Pädagogen in der Frage der praktischen Alternative so intransigent werden lässt. Dem Befund, dass es nun einmal »kein gutes Leben im schlechten gibt«, setzen sie ihre Berufslüge entgegen, dass ein »kein schlechtes Leben im prinzipiell guten zu geben braucht«. Schlau wie sie sind, erklären sie sich mit allen kritischen Befunden schnell einverstanden, haben schon immer alles gewusst und geben doch zugleich mit der Frage nach der Alternative und nach dem praktischen Ratschlag zu verstehen, dass sie das Entscheidende des Befundes wieder einmal verpasst haben bzw. überhören wollten. Den alles andere als zufälligen Zusammenhang zwischen jugendlichen Gewalttaten, der Psychologie des bürgerlichen Individuums und der politischen Ökonomie des Kapitalismus, den unterschlagen sie ein um das andere Mal.
So gesehen ist ihnen erst zu helfen, wenn sie sich selbst geholfen und ihrem berufsbedingten Idealismus abgeschworen haben. Dann liegen die Konsequenzen, die aus der Untersuchung folgen, auf der Hand. Alle nötigen Argumente sind im Text nachzulesen. Sie sollen diejenigen überzeugen, die ernsthaft ratlos vor der »gewalttätigen Jugend« stehen und einen Erklärungsbedarf anmelden. Wenn sie sich selbst in der Kritik wieder erkennen, ist viel gewonnen. Denn dann sind nicht mehr die ausgerasteten Kinder, sondern zugleich die unter falscher Anstrengung des Verstandes eingerasteten Erwachsenen das Thema. Dann geht es nicht mehr allein um die Kritik der zum öffentlichen Skandal erklärten Spitze, sondern um die Aufarbeitung des gesellschaftlich geschätzten Eisbergs geistiger Integrationstechniken.
Deswegen ist die Kritik auch keine Domäne der Schule. Im Gegenteil. Und Erzieher können sich daran erst beteiligen, wenn die Frage geklärt ist, wie sich die Erziehung der Erzieher bewerkstelligen lässt. Die Kritik setzt weder auf Betroffenheit, noch wendet sie sich bevorzugt an die jugendlichen Täter. Sie setzt unabhängig von Alter, Stand und Klassenzugehörigkeit, unabhängig von Amt und Beruf allein auf das Interesse an Einsicht in die Irrationalismen, die sich als psychologischer Überbau über den bürgerlichen Konkurrenzveranstaltungen in Schule, Politik und Ökonomie türmen. Und in der Logik dieser Einsicht liegt es, dass sie sich kaum damit begnügen wird, das falsche Bewusstsein zu sezieren, aber die falsche Wirklichkeit, die zu diesem Bewusstsein anstiftet, unangetastet zu lassen.
Voll offtopic: Sag mal Neoprene, hat das Bild mit den 3 Männern auf deiner Seite irgendeinen (kommunistischen?) Sinn?
Ja und nein. Erstmal ironisiert diese alte Karikatur natürlich „nur“ die Situation von Ratsuchenden und Ratgebern: Objektiv ist (hinterher selbst dem Fragenden) schon klar, wo es lang geht, bzw. hätte gehen sollen. Erstmal aber hat man es aber doch im Straßenverkehr wie im politischen Leben damit zu tun, daß einem auf die Frage, na wo sollte man denn hinwollen, die ganze Bandbreite von grottenfalsch („rückwärts gewandt“) bis richtig („fortschrittlich“ und so) angeboten wird. Von daher ist es schade, daß es mittlerweile zwar GPS-Navis auch für Fußgänger gibt, und man eben nicht mehr angewiesen ist auf zumeist falsche Ratschläge von vermeintlich Ortskundigen, aber hier im politischen Raum gibt es sowas fertig zusammengebastelt leider gar nicht. Höchstens ansatzweise, würde ich sagen.
Der GSP ist quasi das GPS der Politik? Da tun sich ja völlig neue Zusammenhänge auf 🙂