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Zur Kritik moderner „Religionskritik“

25. September 2017

„Die Religion gewinnt in den letzten Jahren gesellschaftspolitisch wieder an Bedeutung. Da wäre beispielsweise die Tea-Party-Bewegung in den USA… In Lateinamerika stellt das evangelikale Christentum eine zunehmend einflussreiche soziale Bewegung dar… In Teilen Afrikas stehen evangelikal-christliche Kräfte mit der Verfolgung von Menschen aus der LGBT-Community in Verbindung. In Frankreich mobilisieren rechte Gruppierungen Hunderttausende, vor allem aus den kulturkonservativen, katholischen Milieus, zu Demonstrationen gegen die Homo-Ehe. Und in Teilen Osteuropas scheint sich ein neuer Block an der Macht herauszubilden, der aus Versatzstücken postkommunistischer Staatsapparate, nationalistisch-faschistischer Bewegungen und den durch den Kommunismus hindurch relativ stabil gebliebenen Kirchenstrukturen besteht. Und dann wäre da nicht zuletzt der politische Islam…“ (Müller 2014)

Diesen Trend kann man nicht bestreiten. Im Zuge der antiislam(ist)ischen Feindbildpflege hat aber nicht nur Religion, sondern auch Religionskritik, jedenfalls in der Öffentlichkeit des Westens, gesellschaftspolitisch wieder an Bedeutung gewonnen. Hier wird speziell das Erbe der Aufklärung beschworen und gegen den rückständigen Islam in Stellung gebracht, wobei kurioser Weise – bis hinein ins christdemokratische Milieu – explizit oder summarisch an die Marxsche Religionskritik angeknüpft oder zumindest erinnert wird. In dem Zusammenhang ist freilich eine eigenartige Tendenz zu verzeichnen. Angeblich soll es bei der aufklärerischen Kritik der Religion um deren Modernisierung, also gewissermaßen um eine Rettung gegangen sein. Mehr noch: In die Marxschen Schriften wird eine Interpretation hineingelesen, der zu Folge ihr Autor die frühe Religionskritik, wie sie 1844 in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern formuliert wurde („Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie…“, MEW 1), später widerrufen habe, weil mit dem „Kapital“ – siehe den berühmten Abschnitt über den Fetischcharakter der Ware – der Kapitalismus als die eigentliche Religion ins Visier geraten sei, der man ideologiekritisch zu Leibe rücken müsse.
So kommt gerade unter Marxisten – wie die Zeitschrift Das Argument 2012 in einer dem Schwerpunkt Religion gewidmeten Ausgabe exemplarisch vorführte (vgl. Schillo 2015) – eine Absage an die Religionskritik des jungen Marx in Umlauf. Nicht mehr die Religion soll Kritik verdienen, sondern der Götzendienst des Mammons, der Tanz ums goldenen Kalb, den der Kapitalismus veranstalte und der gerade vom Standpunkt des abendländischen Monotheismus aus verwerflich sei, ja durch Kirchenmänner wie Papst Franziskus oder – in historischer Perspektive – den Reformator Luther am Entschiedensten bekämpft werde (vgl. Segbers/Wiesgickl 2015, Schillo 2017). Die Religion vollführt demnach heute das Geschäft der Kritik, Religionskritik wird überflüssig, ja schädlich. „Religionen sind“, so Rolf Bossart im Argument, „auch als Orte permanenter Religionskritik aufzufassen“, woraus dann die Notwendigkeit einer permanenten Kritik „jeglichen – auch des atheistisch-aufgeklärt sich verstehenden – Glaubens“ abgeleitet wird (Bossart 2012, 683). Das Fazit dieser eigentümlichen Umkehrung lautet: Jede Äußerung zu religiösen oder Sinnfragen ist Glaube; wer die Vernünftigkeit des Glaubens bestreitet, glaubt selber an etwas und ist damit im Grunde unaufgeklärter als der religiöse Mensch, der in seiner Glaubensgemeinschaft mit permanenter Religionskritik vertraut gemacht wird.
Das Ende der Religionskritik
Man kennt dies als populären Argumentationstrick: Theisten glauben an Gott, Atheisten an die Gottlosigkeit; wer nicht an die Schöpfungsgeschichte glaubt, sondern sich von Darwins Evolutionslehre überzeugen lässt, ist wissenschaftsgläubig; wer die Sinnfrage zurückweist, glaubt an die Sinnlosigkeit des Daseins etc. Die Revision der Marxschen Position, die ebenfalls mit solchen Versatzstücken arbeitet, beruft sich nun bemerkenswerter Weise auf Marx selbst. Dieser habe sich als Kritiker auf das Feld der politischen Ökonomie begeben, die Religionskritik also hinter sich gelassen und sie mit den Ausführungen zum „Fetischcharakter der Ware“ im ersten Band des „Kapital“ (MEW 23, 85ff) auf die Ökonomie bezogen, somit die Religion im eigentlichen Sinne aus der Kritik entlassen und dafür eine ökonomische „Zivilreligion“ ins Visier genommen. Das ist eine erstaunliche Fortsetzung der religiös interessierten Auslegung, die sich den Frühschriften widmet.
Letztere wird übrigens teilweise (siehe Haug 2016) als eine schiefe Kombination von zwei Aufsätzen des jungen Marx vorgenommen, nämlich der erwähnten Einleitung zur Hegel-Kritik und des Textes „Zur Judenfrage“ (1844). Der erstgenannte beschäftigt sich in der Tat mit der Religion, liefert die bekannten Sprachbilder vom „Seufzer der bedrängten Kreatur“, dem „Geist der geistlosen Zustände“ oder dem „Opium des Volkes“ und resümiert die bis zu Feuerbach geleistete Religionskritik als eine Aufgabe, die „im wesentlichen beendigt“ sei (vgl. MEW 1, 378; bei Schillo 2015 ist diese Position nochmals zusammengefasst). Der andere Aufsatz befasst sich nicht mit dem Thema Religion, sondern mit den republikanischen Freiheitsrechten, speziell der Religionsfreiheit, die im Staat allen Bürgern, damit auch den Juden, gewährt werden müssten. Oder auch nicht, wie der Junghegelianer Bruno Bauer damals in einer Schrift behauptete. Sein Argument lautete: Erst sei der preußische Staat zu liberalisieren, bevor einzelne Kollektive in den Genuss der vollen Religionsfreiheit kommen könnten. Gegen diese Position bezog Marx in seinem Aufsatz Stellung und entwickelte daraus eine Kritik der Menschenrechte, die ihm nicht als Maßstab der menschlichen Emanzipation galten, sondern die Frage nach der menschlichen Emanzipation offen ließen. Zu deren Beantwortung müsse man erst die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft, die in der ökonomischen Basis zu finden sei, studieren.
Marx hat also die Auseinandersetzung mit der Religion nicht fortgeführt. Die für ihn erledigte Aufgabe legte er beiseite, wandte sich der Ökonomie zu und sah hier das Projekt seiner Kritik. Im „Kapital“ stellte er dann bei der Analyse der Ware fest, dass diese kein „selbstverständliches, triviales Ding“ ist, sondern ein widersprüchliches gesellschaftliches Verhältnis einschließt (MEW 23, 85). Um dies zu erläutern, genauer gesagt: die vorhergehende Analyse des ersten Kapitels zusammenzufassen, suchte er nach einer Möglichkeit der Veranschaulichung und wählte die Methode des Vergleichs. Er machte auch sein Verfahren explizit kenntlich: „Um (…) eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten.“ (Ebd., 86) Es ging ihm also um eine Analogiebildung zwecks Verdeutlichung der Kritik – nicht als Erklärung selber, sondern korrekter Weise im Anschluss an die ersten drei Abschnitte der Waren- und Wertanalyse, die für das Verständnis der Kapitalverwertung konstitutiv sind und die die Erklärung geleistet hatten. So kam Marx auf die Ähnlichkeit der Warenproduktion mit dem Fetisch zu sprechen. Der Fetisch diente ihm als vergleichendes Beispiel dafür, wie Menschen den gesellschaftlichen Zusammenhang, den sie selber mit Willen und Bewusstsein herstellen, als eine fremde, ihnen gegenübertretende Macht erleben. Es geht im „Kapital“ also nicht mehr um Religionskritik. Die Kritik ist vielmehr bei dem eigentlichen, ein Vierteljahrhundert früher angekündigten Thema angekommen.
Bei Jens Rehmann, der gerade auf die Umkehrung des Verhältnisses von Religion und Kritik hinaus will, erscheint dagegen der Fortgang der Analyse, die sich auf einen neuen Gegenstand richtet, als Relativierung des theoretischen Ausgangspunkts: „Die marxsche Spezifik in der Behandlung des Religiösen wird man also nicht in inhaltlichen Bestimmungen als ‚verkehrtem Weltbewusstsein‘ oder ‚Opium des Volkes‘ usw. finden, sondern gerade in einem Paradigmenwechsel, der die religionsförmigen Verkehrungen im Recht, in der Politik und schließlich in den ökonomischen Entfremdungen der bürgerlichen Gesellschaft selbst aufdeckt.“ (Rehmann 2012, 658) Ein erstaunliches Resultat: Die Religionskritik soll man bei Marx gerade da finden, wo von ihr nicht mehr die Rede ist! Dabei kennt diese Art einer Marx-Revision Varianten. Dick Boer kreidet ganz prinzipiell und abstrakt, gemäß den Paradigmen moderner Wissenschaftstheorie, Marx drei Grundfehler an: „Auch für ihn war selbstverständlich: Es gibt das Phänomen ‚Religion‘, deren ‚Wesen‘ sich bestimmen lässt. Und eurozentrisch, wie er auch war, war die christliche Religion ihre höchste Form.“ (Boer 2012, 665) Zweimal gesetzte Anführungszeichen sollen zeigen, dass, wie vom modernen Pluralismus vorexerziert, weder ein Gegenstand noch dessen wesentliche Bestimmungen eine Selbstverständlichkeit sind.
Alles ist dem zu Folge vielgestaltiger, es gibt oder gab z.B. auch Christen, die sich für den Marxismus interessier(t)en. Für diesen Nachweis wird gerne die lateinamerikanische Befreiungstheologie herangezogen. Es ist schon erstaunlich, dass das zu Beginn des 21. Jahrhunderts geschieht, wo die Sache eher einen nostalgischen Stellenwert besitzt. Leonardo Boff, ein ehemaliger Wortführer der marginalen, inzwischen untergegangenen Richtung, teilte noch unter dem Ratzinger-Papst mit, dass es sich bei der Begegnung von Christentum und Marxismus eher um ein Missverständnis gehandelt habe (vgl. sein Interview mit dem Spiegel, Nr. 50, 2012). Boff selber votiert mittlerweile – ähnlich wie der Dalai Lama – für „ökologische Spiritualität“ und sieht im kapitalistischen Aufbruch des emerging market Brasilien letztendlich auch einen Erfolg seiner heterodoxen theologischen Bemühungen. Papst Franziskus, früher ein Gegner der Befreiungstheologie, habe, so Boff neuerdings (im Interview mit dem Kölner Stadt-Anzeiger vom 25.12.2016), „die Befreiungstheologie zum Allgemeingut der Kirche gemacht“. Dem fügt er allerdings eine bemerkenswerte Ergänzung an: „Und er hat sie ausgeweitet. Wer von den Armen spricht, muss heute auch von der Erde reden, weil auch sie ausgeplündert und geschändet wird. ‚Den Schrei der Armen hören‘, das bedeutet, den Schrei der Tiere, der Wälder, der ganzen gequälten Schöpfung zu hören. Die ganze Erde schreit.“ Hier steht also, wie in der Umweltenzyklika „Laudato Si“ ausgeführt und wie bei IVA bereits kritisiert (vgl. „Religiöser Antikapitalismus“, Texte2017), „der“ Mensch „der“ Erde gegenüber – von marxistischen Kategorien wie Klassen oder Klassengesellschaft, die noch die katholische Soziallehre eines Oswald von Nell-Breuning kannte, keine Spur! Es ist schon merkwürdig, dass das historische Zwischenspiel einer Befreiungstheologie heute als maßgeblicher Bezugspunkt in religiösen Dingen gelten soll und dass daran wieder Interpretationen der Bibel als antiimperialistische Kampfschrift – „Der Gott der Bibel richtet sich gegen ökonomische Ausbeutung, Herrschaft und imperiale Fremdbestimmung…“ (Junge Welt, 29.12.2012) – oder als ein „atheistisches Buch“ (Boer 2012, 666) anknüpfen.
In diesem Zusammenhang kann man natürlich auch – wenn schon an die lateinamerikanischen Aufbrüche von vorgestern erinnert wird – den Vorwurf des Eurozentrismus erheben. Das geschieht bei Boer ganz formell, ohne nähere Begründung. Marx war schließlich Europäer. Und er hatte in seinem frühen Hegel-Aufsatz wohl auch die jüdisch-christliche Tradition vor Augen, ohne dass er übrigens vom Christentum als der „höchsten Form“ sprach. Marx ging von der faktischen Geltung der Religionen seiner Zeit aus, zu Anthroposophie, Islamismus oder Scientology konnte er sich wirklich nicht äußern. Und was er mit seinem abendländisch orientierten Ansatz aus dem Blick verloren haben soll, ist nicht ersichtlich. Besonderheiten des Christentums wie Trinitätslehre oder Christologie sind bei ihm kein Thema. Bezeichnend auch, dass Boers Einspruch sich auf das Allgemeine, alle Religionen Auszeichnende bezieht, auf den von der Kritik hervorgehobenen Tatbestand, dass der Mensch die Religion macht. Boer kontert (ebd., 668): „Die Erfahrungen, die in der Religion mythologisiert werden, sind nicht menschlich ‚gemacht’“. Ideologiekritik wird schlichtweg verworfen, das „Argument“ besteht allein in der Berufung aufs religiöse Selbstbewusstsein, das sein Gedankenprodukt als Ausfluss einer höheren Realität vorstellig macht.

Zurück zum höheren Wesen

Zum Marx-Jubiläum wird von verschiedenen Seiten diese seltsame Umwidmung der Religionskritik wieder ins Spiel gebracht, so paradigmatisch von Wolfgang Fritz Haug (2016). Auch bei Christoph Henning (2005, 362ff) finden sich schon Anklänge an diese These, während das neue Marx-Handbuch (Kehrer 2016, 399ff) korrekter Weise einen Abriss des gespannten Verhältnisses von Christen und Marxisten seit dem 19. Jahrhundert bietet (und dabei auch die Defizite der Religionswissenschaft zur Sprache bringt). Haug schreibt: „Indem Marx die Religionskritik als Fundus von Metaphern und Topoi für die Kapitalismuskritik nutzt, entsteht ein eigentümlicher Rückstoßeffekt, der die Frage nach der Religion aus ihrer kapitalistisch-bürgerlichen Abfertigung freisetzt und neu zu stellen erlaubt“ (Haug 2016, 861). Dabei wird als Gewährsmann für diesen eigentümlichen Rückruf der Kritik vor allem Ernst Bloch mit seiner Schrift „Atheismus im Christentum“ (1968) genannt. Jüngst hat Bruno Kern ein Buch zur Religionskritik von Karl Marx vorgelegt (Kern 2017), das die Junge Welt mit einer lobenden, aber etwas unentschiedenen Rezension bedacht hat (JW, 18.9.2017). Es bringt diesen Rückstoß noch einmal auf den Punkt – im Prinzip zustimmend, wenn man seiner Einleitung „Warum, um Himmels Willen, Marx?“ folgt. Schlüssig ist auch das nicht. Drei Punkte seien hier genannt.
Kern beschwert sich über eine „Marx-Scholastik“, die „ebenso gekonnt wie unfruchtbar mit Begriffen hantiert“ (Kern 2017, 9). Er selber versteht sich aber genauso auf scholastische Wortklauberei (wobei die ständigen Anführungszeichen bei seinen zentralen Kategorien wohl dafür stehen, dass er sich im Zweifelsfall darauf berufen kann, es sei alles nicht so gemeint). So heißt es bei ihm, Glaube sei das genaue Gegenteil von Fundamentalismus. „Er ruht nicht auf theoretischen ‚Gewissheiten‘ auf, die man einem ‚ungläubigen‘ Gegner um die Ohren haut. Glaube ist, wie auch der Atheismus, eine existenzielle Stellungnahme zum eigenen Dasein und zur Wirklichkeit insgesamt.“ (Ebd., 10) Hier löst sich der Gegenstand, um den es geht, in eine nebulöses Gebilde auf; der Unterschied von Glauben und Wissen verschwimmt; Umgangsformen mit Gegenpositionen (Aufdringlichkeit, Aggressivität…) werden kontrafaktisch zur Bestimmung der Sache herangezogen. Das erinnert an Helmut Gollwitzers Trick, der Religionskritik dadurch den Wind aus den Segeln zu nehmen, dass man pauschal die Marxsche Position bejaht, „da der christliche Glaube keine Religion sei (Religion sei grundsätzlich menschengemachte Ideologie)“ (Kehrer 2016, 400). Bei Kern wird der Glaube, der doch für seine Anhänger das Fundament ist, auf dem die Deutung ihres Daseins ruht, zu einer Stellungnahme neben anderen – so wie jeder sie aus seinem Alltag kennt. Das Spezifische des Standpunkts wird zum Verschwinden gebracht. Dabei ist doch gerade in den Offenbarungsreligionen das Wort Gottes die unhintergehbare Leitschnur des gläubigen Menschen und das christliche Credo spricht all die Gewissheiten von Alpha bis Omega, vom Anfangs- bis Endpunkt des Kosmos, aus und schreibt sie als verbindliche Lehre fest. Zwei Seiten später fällt Kern dann ein, dass der Glaube „Letztbegründung“ ist und dem Gläubigen „Letztmotivation“ liefert. Es handelt sich eben um einen letzten Halt, um eine letzte Gewissheit. Die gibt denjenigen, die sich die Sinnfrage vorlegen, ja gerade die Kraft, die Härten des modernen Daseinskampfes auszuhalten – normalerweise als Einzelkämpfer in den Widrigkeiten der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft, bei Kern in der Ausnahmeform, dass ein randständiger oppositioneller Standpunkt sich selber Mut zuspricht.
Für den oben genannten Taschenspielertrick, alle Menschen als Gläubige zu vereinnahmen, kann Kern sogar einen Gewährsmann angeben, den französischen Philosophie-Professor André Comte-Sponville. Der hat 2006 ein Buch „Woran glaubt ein Atheist?“ veröffentlicht, in dem es zur (Nicht-)Existenz Gottes heißt: „Ich habe keine Beweise. Niemand hat welche. Aber ich habe eine bestimmte Anzahl von Gründen und Argumenten, die mir stärker erscheinen als jene, die für das Gegenteil sprechen… Ich behaupte nicht, zu wissen, dass Gott nicht existiert; ich glaube, dass er nicht existiert…“ (Zit. nach Kern 2017, 11) Der Philosoph gibt gleich mit dem Untertitel seines Buchs „Spiritualität ohne Gott“ zu erkennen, dass es ihm darum geht, im friedlichen Wettbewerb mit seinem Gegenpart eine Weltanschauung zu kreieren, die als innerweltliches Pendant dieselbe übersinnliche Dimension abdeckt und damit auch denselben sittlichen Rang besitzt. Ein apartes Bedürfnis – zu dem man einiges sagen könnte! Im hier zur Rede stehenden Zusammenhang ist jedoch als Erstes der Widerspruch festzuhalten, der sich zu Kerns eigener Position ergibt. Der zu Folge ist der Glaube ja nicht ein Abwägen zwischen Wahrscheinlichkeiten, sondern stellt ein existenzielles Statement dar, das sich, wie es weiter heißt, „nie völlig theoretisch ‚einholen‘ lässt“ (ebd.). Das trifft zu. Ginge es in dieser Sache nämlich um eine theoretische Streitfrage, müsste man sich um Gründe bemühen, Pro und Contra abwägen, Erkenntnisforschritte abwarten etc. – und der Glaube hätte hier alle Berechtigung verloren. Er käme höchstens, im Sinne der erweiterten Wortbedeutung des Verbs „glauben“, als unsicheres Wissen ins Spiel, wäre also etwas Vorläufiges, Hypothetisches und nicht der existenzielle Akt, den der Mensch in seinem „Freiheitsvollzug“ (ebd.), also rein als Leistung seines Willens, zustande bringt. Und das Geschäft der Religionskritik, so wie es Marx gefordert bzw. resümiert hat, besteht ja gerade nicht in der Propaganda einer gottlosen Welt, sondern in der Befragung des gläubigen Menschen darauf, welche geistigen Leistungen er mit seiner Entscheidung zustande bringt. Der Beweis einer Nichtexistenz von etwas wäre zudem ein kurioses Unterfangen! Mit dem plagt sich normaler Weise auch keiner ab. Vielmehr bringt derjenige, der glaubt, erst mit seiner „Letztbegründung“ in das Getriebe der Menschen, die ihren Verstand mal besser oder schlechter zur Daseinsbewältigung benutzen, den Standpunkt ein, dass es um etwas ganz Anderes, Letztes, Unhinterfragbares geht oder gehen müsste. Im profanen Getriebe haben es die Menschen mit Alltags- oder auch mit Luxus-Problemen zu tun, aber sie gehen nicht mit dem Programm ans Werk, dass kein Gott existiert. Die Frage nach dessen Existenz bewegt nur den religiösen Menschen, der sie damit seinen Mitmenschen aufmacht – meist aufdringlich, von den vorbürgerlichen Zeiten mit Staatskirchentum, Ketzerverbrennungen etc. bis zur Moderne, in der die Religion ja (siehe oben) in unterschiedlicher Form immer noch sehr präsent ist und allen möglichen Leuten um die Ohren gehauen wird (man denke nur an das penetrante Glockenläuten, das vielen Anwohnern den Schlaf raubt).
Kern bringt dann wieder ausführlich eine Sache zur Sprache, die er für ein Argument hält: Es hat in der Tat seit der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts diverse Kontakte, Verbindungen, Vermischungen von Christentum und Marxismus gegeben. Aus den Beispielen, die Kern anführt, geht selber hervor, dass es sich um marginale, in der Hauptsache historische Erscheinungen handelt, in denen sich Christen Unterstützung bei Sozialisten holten oder in deren Lager wechselten (die besagte Befreiungstheologie) oder beide Seiten sich etwa zu Zeiten des Kalten Kriegs um die Erhaltung des Weltfriedens bemühten (Paulus-Gesellschaft, christlich-marxistischer Dialog zwischen West- und Ostblock). Was auch immer dazu zu sagen wäre: Die gleichzeitige Berufung auf Marx und Jesus (und eventuell noch weitere Autoritäten) mag es bei Einzelnen oder Gruppen geben, sie sagt aber nichts über den Status von Religionskritik aus oder über die Kompatibilität von wissenschaftlichem Sozialismus und christlichem Glaubensbekenntnis. Ja solche Berufung sagt noch nicht einmal etwas darüber aus – siehe die marxistische Staatspartei in China oder die staatstragenden christlichen Parteien in Deutschland –, ob an solcher Bezugnahme mehr dran ist als die Absicherung durch eine klangvolle Tradition oder einen praktisch folgenlosen Überbau.
Kern ist auch, trotz aller Beschwörung von Gemeinsamkeiten, das Trennende bewusst. So kommt er ausdrücklich zu dem Schluss, dass man Marx revidieren muss, um als Christ etwas mit ihm anzufangen. Um sich das „nach wie vor Gültige seines Denkens anzueignen, muss man es mutig und entschlossen von den Schlacken des 19. Jahrhunderts befreien. Man kann sich sein Denken nur dann fruchtbar zu eigen machen, wenn man es überschreitet.“ (Ebd., 10) Nichts gegen Revisionen, wenn sie sich aus der Sache ergeben und Fehler beseitigen! Hier ist aber erkennbar Revisionismus nur deshalb am Werk, weil die kritisierte Sache in Schutz genommen werden soll. Und diese Sache besteht, wohlgemerkt, in der Normalität der Religion im globalisierten Kapitalismus – und nicht in exzentrischen Positionen, etwa in einem Interesse an Marx, das einzelne Juden, Christen oder Muslime an den Tag legen mögen.
Diesen Text habe ich i-v-a.net entnommen

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  1. Hinweis
    2. Oktober 2017, 11:59 | #1

    Die Sammlung mit Aufsätzen zu Aspekten der Marxschen Theorie wurde mit einem weiteren Eintrag zu div. absonderlichen biografischen „Enthüllungen“ fortgesetzt
    https://www.i-v-a.net/doku.php?id=texts17#%E2%80%9Emarx_is_back_vol_7

  2. Jacko
    12. November 2017, 07:28 | #2

    »Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. (…) Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. (…) Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.«
    So klassisch mit Zitaten aus der Marxschen Religionskritik beginnt ein Artikel von Reinhard Lauterbach über Polens Neue Rechte in der jw. (Öfters benutzen Theoretiker der Metropolen diese Formulierungen heutzutage ja eher, um sich die religiösen Deutungen von ‚Geknechteten‘ ‚aus der 3. Welt‘ verständlich machen zu wollen…) Immerhin schließt Lauterbach anschließend nicht die verkehrten religionsdeuterischen Fortschreibungen von Lenin daran an: sondern andere von ihm…
    Gottlose des Tages: Polens Nationalkatholiken
    https://www.jungewelt.de/artikel/321588.gottlose-des-tages-polens-nationalkatholiken.html

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