Felix Klopotek: Unbequeme Fragen zur PKK
Die euphorische Solidarität der hiesigen Linken mit der PKK und dem Rojava-Kanton verstellt den Blick auf drängende offene Fragen. Vielleicht ist das ja auch gewollt.
Nach den pathetischen Aus- und Aufrufen der vergangenen Wochen, bei dem Kampf um Kobanê handele es sich um die Wiederkehr von »Warschau« (gemeint ist das Ausbluten des Warschauer Aufstandes 1944 vor den Augen der Roten Armee) oder um das »Stalingrad« dieser Tage oder »unser« revolutionäres Spanien, mehren sich jetzt die Reiseberichte auch von hiesigen Linken. Interviewbände mit kurdischen Kämpferinnen und Kämpfern sind angekündigt. Natürlich ist das alles zu begrüßen – wenn es denn die ersten Schritte wären, alle die Fragen zu klären, die in der überhitzten Euphorie, endlich gebe es eine genuin linke Partei im endlosen syrischen Bürgerkrieg, oder in der überwiegenden Sorge um das Überleben von religiösen Minderheiten und Frauen angesichts der IS-Schlächter nicht gestellt wurden. Offen gesagt, ich sehe das nicht, weil der allererste Schritt immer noch ausbleibt: die Fragen zu stellen. Das soll hier nachgeholt werden.
Am 27. Oktober veröffentlichten Spiegel online und andere Medien die Nachricht, im bereits wochenlang andauernden Kampf um das weitgehend entvölkerte Kobanê habe es bis dahin 800 Tote gegeben, 500 IS-Kämpfer und 300 kurdische. Was können diese Zahlen mit »Warschau« zu tun haben? Warum gibt es so wenig Unbehagen an den hochdramatischen Endkampf-Berichten, die nicht zuletzt von PKK-Seite gestreut wurden? Was ist an der Meldung dran, PKK-Kämpfer würden nachdrücklich auf die Unterstützung größerer Einheiten von irakisch-kurdischen Kämpfern verzichten, um die politische Hoheit zu behalten? Wäre dem so, hieße das dann nicht, ihr politisches Ränkespiel ginge der PKK über das Wohl der Bevölkerung? Warum sind die linken Blogs voll von PYD-Jubelberichten, warum wird so wenig auf das Blog kurdwatch.org verwiesen, wo die (Kriegs-)Verbrechen auch von PYD-Kämpfern erwähnt werden?
Warum wird die in den vergangenen Jahren – trotz »libertärer« Wende Abdullah Öcalans – nicht abreißende Kritik an der (Auslands-)PKK als Organisation, die für Schutzgeld-Erpressungen und menschenverachtenden Druck auf ihre Mitglieder und Anhänger verantwortlich sein soll, nicht aufgearbeitet, sondern offensichtlich ignoriert? Wieso werden uns eigentlich Fotos nur von Soldatinnen als Symbole für Frauenemanzipation in Rojava gezeigt? Wer befehligt die Soldatinnen? Gibt es Politfunktionärinnen in den höheren Rängen?
Vor zwei, drei Jahren mangelte es nicht an Medienberichten, die der PKK und ihrem syrischen Ableger PYD eine – mindestens – De facto-Kollaboration mit dem Regime Bashar al-Assads unterstellten. Die PKK beteiligt sich nicht an einer gemeinsamen Front gegen Assad, dafür wird ihr ein begrenzter Separatfrieden zugestanden: kantonale Selbstverwaltung. Wieso ist von diesen Berichten nicht mehr die Rede? Sind sie widerlegt? Ist das, was ein großer Teil der Linken als Hort der Stabilität und der Menschenrechte inmitten des gnadenlosen Bürgerkriegs ansieht, nicht nur ein Produkt dieses Bürgerkriegs, sondern hat – indirekt – dazu beigetragen, ihn zu brutalisieren, eben weil die PYD eine gemeinsame, schlagkräftigere Front gegen Assad hintertrieben hat? Steht der »Kommunalismus« (Murray Bookchin) als Befreiungsperspektive nicht noch unter dem Nationalismus?
Eine überkonfessionelle, interethnische Lösung für ganz Syrien ist wohl zerstampft und vernichtet worden, so sagen die Beobachter. Wäre demnach der kurdische Separatismus, so schändlich seine Ursprünge gewesen sein mögen, nicht das kleinere Übel (zur Logik der »kleineren Übels« später)? Aber was wären die Aussichten der kurdischen Kantone? Eingezwängt zwischen Assads Rest-Syrien, der Türkei, dem IS (machen wir uns nichts vor, die werden ihren Staat auch real gründen) bliebe nur die Kollaboration mit einer regionalen, und dann internationalen Schutzmacht. Würde die nicht Einfluss nehmen auf die Verhältnisse an Ort und Stelle? Könnte es einen kurdischen Sozialismus von Assads oder Obamas Gnaden geben?
Was heißt überhaupt Selbstverwaltung und darauf aufbauend Selbstbestimmung? Was wird dort eigentlich selbstverwaltet? Wie sehen die ökonomischen Strukturen aus? Nur zur Erinnerung: Ökonomische Selbstverwaltung und Privateigentum stehen in keinem Widerspruch zueinander, die Abschaffung des Kapitalismus ist keine Verwaltungsfrage. Bedeutet nicht Sozialismus eine nicht mehr in Produzenten und Nichtproduzenten zergliederte Gesellschaft? Und ist, daran gemessen, der Maßstab für Sozialismus nicht etwa der Grad der Autonomie, Kontrolle oder (Produktions-)Leitung auf Seiten des Proletariats, sondern dessen Selbstaufhebung? Zeigt nicht die jüngere Geschichte Jugoslawiens, wie wenig Selbstverwaltung ein Bollwerk gegen nationalistisches Handeln und Denken ist, wollten doch die »produktiven« Kroaten und Slowenen die »unproduktiven« Serben nicht länger durchschleppen? War nicht die unmittelbare Einbeziehung etwa der kroatischen Arbeiterinnen und Arbeiter in die (Verwaltungs-)Abläufe ihrer Betriebe – und damit auch ihr Profitieren von der jeweiligen Rentabilität – ein Katalysator des Nationalismus? Allgemeiner gefragt: Steht nicht schon bei Marx und Engels, dass der Sozialismus kein Zurück zu selbstgenügsamen Produktions- und Konsumtionsinseln bedeuten kann (»Duodezausgabe des neuen Jerusalems«, spotteten sie über die Kommune-Projekte ihrer Zeit), dass das angesichts des Weltmarktes und imperialistischer Großmächte eine gefährliche Illusion ist?
Wenn also die Begriffe und auch die historische Praxis der Selbstverwaltung und des Kommunalismus so problematisch sind, warum wirken sie wie ein Zaubermittel auf die hiesige Linke und führen zu mannigfaltigen Solidaritätsbekundungen mit dem PYD-Regime? Die Taz berichtete vor einigen Wochen von Todesschwadronen in Bagdad, die 40 Frauen ermordet haben, weil sie der Prostitution verdächtigt wurden. Die Meldung ging unter, die Frauen stehen nicht für »Selbstverwaltung« und paritätisch besetzte politische Organe, sie stehen einfach für sich selbst. Ist die Linke wirklich so borniert, Solidarität in erster Linie jenen Bedrohten angedeihen zu lassen, die eine uns genehme »westliche« Gesinnung vor sich hertragen?
Wenn die inhaltlichen Positionen, die zur überschwenglichen Solidarität mit der »Kommune von Rojava« (Kommune … noch so eine brachiale Analogie, die offensichtlich mehr vernebelt als erhellt) führten, nicht mehr haltbar wären, was bliebe dann übrig? Dass die PKK angesichts des IS das kleinere Übel wäre? Aber liegt nicht in der Logik des »kleineren Übels« schon die Aufgabe einer allgemeinen, übergreifenden, verbindlichen, man würde wohl sagen: universalistischen Perspektive? Wenn wir uns für ein kleineres Übel entscheiden, dürfen dann die »anderen« nicht auch ihres wählen? Ist aus der Sicht von sunnitischen Arabern, von denen in Syrien 200 000 abgeschlachtet wurden und auf die in Bagdad schiitische Todesschwadronen Jagd machen, ist aus deren Sicht nicht der IS das »kleinere Übel«? Führte die Wahl eines »kleineren Übels« nicht schnurstracks in Sackgassen, an deren Ende schon die Großmächte warten – ob die Türkei, der Iran, Saudi-Arabien, Russland oder die USA –, die schließlich ihr Spiel spielen werden?
Und was wäre dann die Perspektive? Natürlich – und an dieser Stelle keine Frage – die Selbstorganisation des Proletariats, der Frauen und Subalternen, wie sie schon ansatzweise im »arabischen Frühling«, über den das letzte Wort noch nicht gesprochen ist (so wie, um auch mal eine Analogie zu bemühen, die blutig gescheiterte russische Revolution von 1905 auf 1917 verweist) zu beobachten war. Das klingt total irre – weltfremd –, aber fragt sich die Linke, was genau daran weltfremd wäre? Ist es nicht so, dass gerade im Nahen und Mittleren Osten keine Macht – ob regional oder imperial – ihre Hegemonie durchdrücken kann, dass die Menschen lieber fliehen, als sich in gigantischen Schlachten aufreiben zu lassen (auch dem IS hauen mehr Arbeitskräfte aus seinem zukünftigen Staatsgebiet ab, als ihm auf längere Sicht lieb sein kann; und gerade der IS muss auf Söldner-Truppen zurückgreifen), dass ein Chaos der rasch wechselnden Kriegskoalitionen und Intrigen herrscht, dass also als einzige Konstante wirklich nur die Selbstorganisation der Menschen bliebe? Sollte, wer als Linker diese Frage und ihre naheliegende Antwort als weltfremde ablehnt, nicht gleich alle Moralismen und Idealismen fahren lassen und direkt Politikberatung für die Bundesregierung oder umgekehrt Lobbyarbeit für wahlweise Assad, Öcalan oder Erdogan betreiben, mithin die eine gegen die andere Machtpolitik abwägen? Ist das nicht, ganz nebenbei, der Standpunkt Jürgen Elsässers?
Man mag dem Verfasser vorwerfen, er würde bloß Suggestivfragen stellen. In einigen Fällen ist dem so, in vielen nicht. Anstatt die abgegriffene Floskel von der internationalen Solidarität zu bemühen, könnte die Linke ihren Zwangsaufenthalt im welthistorischen Off dazu nutzen, sich diese, und andere, meinetwegen bessere, Fragen vorzulegen.
von Felix Klopotek, zuerst erschienen in Jungle World Nr. 47, 20. November 2014